Aktuelle Rezensionen
Alois Schmid
Die Münchner Galilei. Eine italienische Künstlerfamilie am Wittelsbacherhof im 17. Jahrhundert
(Vergessenes Bayern), München 2022, Volk Verlag, 184 Seiten, zahlreiche Abbildungen
Rezensiert von Josef Focht
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 15.11.2024
Im Kontext des astronomischen Forschungsvorhabens „Galileo Project“, das die Harvard University mit internationalen Partnern seit 2021 betreibt, wurde auch die kulturhistorische Monographie angestoßen, die sich der Genealogie, der Wirkungsgeschichte und des kulturellen Erbes annimmt, das die Familie des bedeutenden Universalgelehrten Galileo Galilei in München hinterlassen hat. Dies betrifft nicht nur den jüngeren Bruder des Paduaner bzw. Florentiner Astronomen, Michelangelo (in heute normierter Namensansetzung oder Michelagnolo in seinem eigenen Gebrauch) Galilei (1575–1631), der als Lautenist am Münchner Hof wirkte, sondern Jahrzehnte vorher bereits seinen Vater und später auch seine Kinder und Enkel.
Der Verfasser liefert dazu nicht nur die einzelnen Biogramme der musikalischen Familienmitglieder – Vincenzo senior, Michelangelo, Vincenzo iunior, Albrecht Caesar und Franz Nestor Galilei –, sondern setzt sie sämtlich in Beziehung zur Herkunftsfamilie südlich der Alpen, zu ihren Positionen am Münchner Hof, zu den Wechselbeziehungen zwischen Bayern und Italien im deutschen Humanismus sowie zu ihren sozialen Netzwerken in der italienischen Migrantengemeinde in München und natürlich in der katholischen Kirche. Der weite Horizont der diskutierten Gegenstände ist beeindruckend; es geht nicht nur um Lauten, Notendrucke oder Arbeitsverträge, sondern auch um Fernrohre, Pendeluhren, Familienkredite, Hauskäufe oder Erbschaften.
Insbesondere die konfessionellen Gesichtspunkte können gar nicht hoch genug bewertet werden, weil ihnen in der deutschsprachigen Musikwissenschaft, deren Tradition überwiegend protestantisch-preußisch geprägt war und ist, bislang stets wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Der Autor rekapituliert – seinem Ruf als Großmeister der bayerischen Landesgeschichte gemäß – in aufmerksamster Arbeitstechnik die verteilten Forschungsstände in der deutschsprachigen, italienischen und polnischen Kultur- und Musikwissenschaft, sofern sie die weit verstreuten europäischen Dienstorte Michelangelo Galileis betreffen, und die bedeutenden Vorarbeiten im Umkreis der Münchner Hofkapelle aus den zurückliegenden anderthalb Jahrhunderten von Karl Trautmann, Alfred Einstein, Douglas Alton Smith und Dieter Kirsch, um nur die wichtigsten Musik- und Kulturhistoriker zu nennen. Von weitreichendem Nutzen erweist sich dabei die Edition einiger Briefe und Dokumente im Anhang des Buches, die nicht nur einzelne Fakten belegen, sondern europäische Netzwerke des 16. und 17. Jahrhunderts offenlegen. Die lückenlose Rezeption der multimodalen Forschungsstände ist insofern erwähnenswert, als gerade für die jüngere Zeit Rundfunk- und Fernsehsendungen ebenso Beachtung fanden wie Museumspräsentationen, Gesprächskonzerte, CD-Booklets oder Forschungsdaten-Repositorien.
Ein Aspekt der vom Verfasser angesprochenen und eindrucksvoll in seiner herausgehobenen Bedeutung bewerteten Repraesentatio maiestatis wirkt im Kontext von Michelangelo Galilei besonders elektrisierend: Der Lautenmusik-Druck Galileis von 1620, Il Primo Libro DʼIntavolatura di Liuto, reiht sich aus Sicht der heutigen organologischen Forschung fugenlos in eine Serie von Medienproduktionen, organisatorischen und publizistischen Initiativen der musikinteressierten Fürsten bzw. Reichsstädte ein, mit denen die konfessionell gebündelten Parteien der Reichspolitik miteinander konkurrierten. Ziel ihres Wettlaufs war es, einzelne Sparten des musikalischen Repertoires oder der Branchen von Instrumentenbau und -spiel für die Repräsentation der jeweils eigenen Partei einzunehmen und exklusiv zu privilegieren. Der Höhepunkt dieser Auseinandersetzung fiel ohne Zweifel in die Dienstzeit Galileis. Dies lässt sich an Medienprojekten ebenso gut ablesen wie an Konzepten der Personalentwicklung. War es 1606 nach jahrzehntelangem Ringen endlich gelungen, im hochstiftisch-augsburgischen Füssen ein Handwerk der Lautenmacher zu gründen und mit reichsweitem Anspruch für die katholische Partei zu besetzen, so konterte die evangelisch-lutherische Partei 1625 in Nürnberg mit dem Handwerk der Trompeten- und Posaunenmacher. In derselben Weise konkurrierten die abwechselnd vorgelegten Printmedien im Ringen um die damals neue Instrumentalmusik.
Dies lenkt den Blick auf den Primo Libro DʼIntavolatura di Liuto und auf die Frage, wer den Notendruck besorgt haben könnte. Ein paar einzelne Werke Galileis waren ja bereits einige Jahre vorher, 1615, schon im Druck erschienen, und zwar in den Verlagen von Anton Bertram in Straßburg und Georg Leopold Fuhrmann in Nürnberg, beide also im und für den protestantischen Markt. Beinahe erwartungsgemäß musste ihnen alsbald eine katholische Edition folgen, die 1617 der Augsburger Notendrucker und Verleger David Franck herstellte. Er gehörte zu den Druckern, die als Dienstleister vor allem für katholische Auftraggeber, die nicht selbst drucken konnten, die Druckerschwärze auf das Papier brachten. Eines solchen Dienstleisters dürften sich auch Galilei und der Münchner Hof ein paar Jahres später, 1620, bedient haben, als der Primo Libro DʼIntavolatura di Liuto mit dem Anspruch eines ersten großen und Aufmerksamkeit erheischenden katholischen Lautenmusik-Bandes publiziert werden sollte, dessen Musik im Umkreis des jesuitisch geprägten Münchner Hofes komponiert worden war.
Insbesondere im Umkreis des katholischen Augsburger Verlags Ad insigne pinus von Marcus Welser, der mit dem bayerischen Herzog Maximilian, dem Widmungsempfänger des Lautenmusik-Bandes, einen persönlichen Austausch pflegte, sind zwei wahrscheinliche Kandidaten auszumachen: Neben dem erwähnten und bewährten David Franck auch Hans Schultes bzw. (nach seinem Tod 1619) sein gleichnamiger Sohn. Beide Offizinen agierten sehr vielseitig und produzierten zugleich Musikdrucke für Dritte.
Aus dieser Perspektive betrachtet wird Michelangelo Galilei erkennbar als Akteur eines größer angelegten Vorhabens, mit dem die instrumentale Musik aus der elitären Feder eines höfischen Komponisten als Medium der Propaganda und der Repräsentation von deren Trägern institutionalisiert werden sollte. Dies galt im konkreten Fall nicht nur zugunsten der katholischen Partei, sondern insbesondere auch ihres politischen Konzepts der Konfessionalisierung/der katholischen Reform/Gegenreformation (je nachdem, welcher Historikerfraktion man sich zugehörig fühlt).
Diese spannende Episode der Münchner Kultur- und Musikgeschichte erfährt in der Darstellung von Alois Schmid eine lesenswerte und wissensgesättigte Beschreibung. Ihre Gliederung bietet dem Leser jedweder Interessenslage eine sichere Orientierung. Ein Stammbaum, der erwähnte Quellenanhang und die Bibliographie erweisen sich bei nachfolgenden Recherchen als sichere Hilfen. Sogar ein Register gibt es noch in einem Buch, das nur im menschenlesbaren Printformat und noch nicht in einer maschinenlesbaren Hybridversion verfügbar ist.