Aktuelle Rezensionen
Manfred Görtemaker
Rudolf Hess. Der Stellvertreter. Eine Biographie
München 2023, C.H. Beck, 758 Seiten, 54 Abbildungen
Rezensiert von Paul Hoser
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 27.11.2024
Rudolf Heß wuchs als Kind eines deutschen Kaufmanns im ägyptischen Alexandria auf, erhielt aber seine wesentliche Schuldbildung in Deutschland und kurzfristig in der Schweiz, wo eine seiner Großmütter herstammte. Seine Neigung widerstrebte dem für ihn vorgesehenen kaufmännischen Beruf, doch musste er sich seinem autoritären Vater beugen. Görtemaker führt sein verschlossenes und grüblerisches Wesen und sein gespreiztes Verhalten auf den frühen Rückzug vor diesem zurück. Bei Kriegsausbruch 1914 meldete Heß sich wie sein späteres Vorbild Hitler begeistert in München zum Heer. Nachdem er eine schwere Verwundung überstanden hatte, wurde er im Oktober 1917 zum Leutnant befördert. Noch ein Jahr später begann er seine Ausbildung zum Flieger in der Jagdstaffelschule in Belgien. Die bald darauf folgende deutsche Niederlage deprimierte ihn so sehr, dass er an Selbstmord dachte.
Im Zug des Kampfs gegen die Räterepublik in München stieß er zur antisemitisch-völkischen Thulegesellschaft und trat auch dem Freikorps Epp bei. Hitler soll er der nationalsozialistischen Überlieferung nach zum ersten Mal am 19. Mai 1920 bei einem Sprechabend der NSDAP erlebt haben. Anfang Juli trat er ihr bei. Als Hitlers Stellung in der Partei ein Jahr später erschüttert schien, stellte er sich hinter ihn. In einem Text, mit dem er einen Aufsatzwettbewerb gewann, strickte er schon bald darauf am Führermythos. Im Januar kommandierte er das 2. Bataillon des SA-Regiments „München“. Am Abend des Hitlerputschs verhaftete Heß im Bürgerbräukeller die zwei anwesenden Minister der bayerischen Regierung, die er dann verschleppen ließ. Die SA-Wachen deuteten ihnen gegenüber mit seiner Billigung an, dass sie ermordet werden sollten, was er später als bloßen Spaß hinstellte. Diese Aktion ist aus älterer Literatur bereits bestens bekannt. Heß wurde dann zu eineinhalb Jahren Festungshaft verurteilt. Die lang verbreitete Behauptung, Hitler habe ihm den ersten Band von „Mein Kampf“ diktiert, wurde schon vor Görtemaker von Othmar Plöckinger detailliert widerlegt. Nach seiner Entlassung konnte sich Hitler einen eigenen Sekretär leisten: Heß fand damit endgültig seinen Beruf und seine Berufung.
Mächtigster Mann der Parteiorganisation war seit 1926 Gregor Straßer, der aber 1932 in Gegensatz zu Hitler geriet, als er eine Regierungsbeteiligung der NSDAP befürwortete. Hitler wäre dazu nur bereit gewesen, wenn man ihm den Kanzlerposten zugestanden hätte. Straßer trat am 8. Dezember 1932 von allen Parteiämtern zurück. Teile seiner Kompetenzen gingen auf Ley als Reichsorganisationsleiter über, das wichtigste Spitzenamt aber erhielt Heß als Leiter der neu eingerichteten „Politischen Zentralkommission“.
Schon am 21. April 1933 ernannte ihn Hitler dann zum Stellvertreter des Führers, am 1. Dezember 1933 wurde er überdies Reichsminister ohne Geschäftsbereich. Sein engster Mitarbeiter in dem zentralen Parteiamt war Martin Bormann, den er die Rivalitätskämpfe mit Ley ausfechten ließ. Heß war auch unabhängig von dem Reichsschatzmeister der NSDAP, Schwarz, da sein Apparat nicht aus Parteigeldern, sondern aus den Industriemitteln der Adolf-Hitler-Spende finanziert wurde. Dieser Apparat war in zahlreichen Bereichen vertreten, von der Außenpolitik über die Wirtschaft bis in das Gesundheitswesen und die Bevölkerungspolitik. Heß und seine Dienststelle konnten bei allen wichtigen Besetzungen von Stellen in Partei und Staat mitreden. Ebenso konnten sie bei Gesetzen vorher Stellung nehmen, was Hitler Heß gegen den Protest des Reichsinnenministers Frick zugestand. Heß machte davon aber kaum Gebrauch.
Er warnte Hitler vor den Machtansprüchen des SA-Chefs Röhm, hatte aber wohl keine wesentliche Rolle bei dessen Ausschaltung. Öffentlich rechtfertigte er insbesondere die Ermordung seines ehemaligen Rivalen Straßer. Heß war stark antisemitisch geprägt, wandte sich aber gegen spontane Aktionen von unten, von denen er u.a. die Gefährdung der Olympiade 1936 befürchtete. Er wirkte auch an der Propaganda für die Aufrüstung mit. Wesentlich war außerdem seine Rolle für das Zustandekommen des Kontakts zwischen Hitler und Franco, der zu einer Unterstützung von dessen Aufstand führte. Trotz seiner weitgehenden und rückhaltlosen Bewunderung für Hitler hegte er doch Zweifel an dessen auf den Krieg zusteuernden Politik. Trotzdem hielt er sich mit öffentlicher Kriegsbegeisterung nicht zurück. Schuld am Krieg war für ihn England, doch glaubte er an ein mögliches Arrangement. Obwohl ihm Karl Haushofer und sein Sohn Albrecht klarzumachen versucht hatten, dass ein Deutschland unter der Herrschaft Hitlers für Großbritannien als Vertragspartner nicht mehr in Frage kam, ließ er sich von seiner Überzeugung nicht abbringen. In völliger Verkennung der Lage glaubte er, er könne den Lauf der Geschichte verändern und die englische Politik durch ein Treffen mit dem späteren Duke of Hamilton zugunsten Deutschlands wenden. Diesen, Flieger wie er selbst, hatte er zwar einmal kennengelernt, war aber nicht in näherer, laufender Verbindung mit ihm gestanden. Mit einer sonst bei ihm nicht sichtbaren zielgerichteten Tatkraft und einem enormen Mut zum Risiko brach er am 12. Mai 1941 zu seinem Flug zu dem britischen Hochadligen in einer von vornherein gescheiterten Mission auf. Mit der Aktion stellte er Hitler bloß, der ihn nach Kriegsausbruch neben Göring sogar öffentlich als möglichen Nachfolger genannt hatte. Von da an war Heß im Deutschen Reich verfemt; seine Existenz in fremder Gefangenschaft aber war nur noch ein Vegetieren, voll von Verfolgungs- und Verschwörungswahn und immer noch durchdrungen vom Glauben an Hitler.
Dass auf den Familiennamen „Heß“ unkorrekt die Rechtschreibreform angewendet ist und er nur als „Hess“ erscheint, ist möglicherweise dem Verlag anzulasten. Was die benutzte Sekundärliteratur angeht, ist der Autor im Allgemeinen auf der Höhe der aktuellen Forschung. Kaum herangezogen hat er allerdings das von der Bayerischen Staatsbibliothek und dem Institut für Bayerische Geschichte an der Universität München herausgegebene Historische Lexikon Bayerns, das zu sehr vielen Fragen hilfreich gewesen wäre. So nennt er im Zusammenhang mit den Plänen für eine mögliche Ausweisung Hitlers aus Bayern nur einen Zeitungsartikel eines Journalisten, anstatt den wissenschaftlich fundierten Beitrag Walter Zieglers im genannten Lexikon heranzuziehen. Sinnvoll wäre es zudem gewesen, sich vorab in einer eigenen Passage mit den bisherigen Biographien zu Heß auseinanderzusetzen. Allzu oft stützt der Autor sich kritiklos auf das reißerisch-romanhafte, vielfach unseriöse Buch von Wulf Schwarzwäller. Hinzuweisen wäre auch auf das 2021 erschienene, Görtemaker unbekannte Werk Jonathan Haslams, „The Spectre of War“, das die Rolle der Sowjetunion im Zusammenhang mit den Ursprüngen des Zweiten Weltkriegs auf Grund neuer Quellen beleuchtet und auch auf die Bedeutung des Flugs von Heß nach Großbritannien eingeht.
Unverständlich ist, dass für das Thema unverzichtbare Quellenausgaben unbeachtet geblieben sind, vor allem die umfangreiche Rekonstruktion der Akten der Parteikanzlei und die inzwischen vollständige Ausgabe der Akten der Reichsregierung Hitler.
Im Bundesarchiv Bern liegt der von Görtemaker ausgewertete Familiennachlass Heß, den schon Volker Ullrich für seine Hitler-Biographie eingesehen hat. Heß schrieb etwa öfter an seine Frau zu aktuellen Eindrücken und Erlebnissen; die vom Autor angeführten Stellen enthalten aber meistens nichts, was wirklich neue Erkenntnisse bieten würde.
Görtemaker gibt an, dass seit 2017 fast alle bisher noch gesperrten Akten zum Fall Heß freigegeben seien. Dagegen reichte nach Rainer F. Schmidt, der den Englandflug von Heß untersucht hat, die Sperrfrist ursprünglich bis 2018 und wurde für die meisten schon 1995 aufgehoben. Sicher ist zum mindesten, dass die Akten des britischen Auslandsgeheimdienstes MI6 weiter unzugänglich sind.
Zu dem auf S. 611, Anm. 47 genannten Brief von Heß an Gustav von Kahr vom 14. Mai 1921 ist nur angegeben: „Faksimile“. Sinnvoll wäre hier die Nennung der Signatur der Akte mit dem Original: BayHStA, Abt. II, MA 142384, gewesen. Er verwundert zudem, dass Görtemaker den Offizierspersonalakt von Heß im Bayerischen Hauptstaatsarchiv, Abt IV (OP 16883) offenbar nicht kennt. Auch die Akte zu dem in Abwesenheit geführten Spruchkammerverfahren in München (StAM, SpK 694, Rudolf Heß) hat er übersehen.
Auf S. 109 heißt es, Heß habe von der Infragestellung der Herrschaft des in Berlin weilenden Hitler über die NSDAP im Juni 1921 zusammen mit Hermann Esser erfahren und wie dieser Hitler informiert. In der angegebenen Quelle (S. 611, Anm. 52), die Teil einer Reihe von Interviews ist, die Esser 1964 gab, ist aber von Heß nicht die Rede. Peinlich ist die Verwechslung Alfred Rosenbergs mit dem emigrierten jüdischen Historiker Arthur Rosenberg (S. 614, Anm. 110). Dass Ernst Hanfstaengl durch Spendensammlungen maßgeblich dazu beigetragen habe, den Kauf des „Völkischen Beobachters“ zu ermöglichen, entspricht nicht den Tatsachen; er kannte Hitler 1920 noch gar nicht. Erst 1923 ermöglichte er durch ein Darlehen den Kauf einer neuen Druckmaschine.
Angeblich soll Hitler im Februar 1923 in der Universität München gesprochen haben. Als Quelle nennt Görtemaker einen Brief von Heß aus dessen Nachlass. Ein solcher Auftritt Hitlers ist allerdings nirgendwo anders dokumentiert. Schon auf S. 87 ist übrigens davon die Rede, die bayerische Staatsregierung habe im Sommer 1919 eine Ausnahmegenehmigung für Kriegsteilnehmer mit mittlerer Reife zum Studium an der Universität erlassen. So habe Heß sich einschreiben können. Quelle ist aber wieder nur der Heß-Nachlass. Heß erscheint zumindest nicht in den jeweiligen Listen der Studenten der Universität München für den Zeitraum zwischen 1919 und 1923.
Auf S. 349 ist zu lesen, auf der Mordliste mit den Namen derer, die in der Aktion gegen Röhm beseitigt werden sollten, sei versehentlich der Musikkritiker der „Münchner Neuesten Nachrichten“, Wilhelm Schmid, gestanden, gemeint sei aber der mit Heß bekannte Arzt Dr. Ludwig Schmitt gewesen. Dagegen war nach der auf Aktenmaterial gestützten Darstellung Otto Gritschneders („Der Führer hat Sie zum Tode verurteilt…“, S. 38) entweder an den Verlagsdirektor der Zeitung, den SA-Oberführer Wilhelm Schmid oder den bei ihr beschäftigten Journalisten Paul Schmitt gedacht. Was auch immer zutreffen mag, der Autor hätte diese Variation erwähnen sollen.
Ein Grundproblem der Arbeit ergibt sich aus der vor allem bis 1933 mageren Quellenlage. Dies versucht Görtemaker durch Füllmaterial auszugleichen, indem er ergänzend seitenweise nochmals Vorgänge schildert, die längst anderswo ausführlich dargestellt sind, seien es die Revolution und Räterepublik in Bayern, der Kapp-Putsch, Hitlers Rolle im Putsch von 1923, dessen Zeit in der Haft in Landsberg, die Spaltungskämpfe im Lager der Nationalsozialisten nach dem Verbot der NSDAP, die Entstehung von Hitlers Buch, die Entwicklung der Partei nach der Neugründung von 1925, die Verhandlungen über die Bildung einer Reichsregierung unter einem Kanzler Hitler und für die Zeit nach 1933 der Anfang von dessen Regierung, das Vorgehen gegen Röhm und die SA im Juni 1934, der Anschluss Österreichs 1938 und die Besetzung des Sudentenlands.
Als Hauptthese hält Görtemaker fest, Heß sei einer der prominentesten und einflussreichsten Männer des Dritten Reichs gewesen. Als Beleg für seine Macht schildert er neben dessen Kompetenzen ausführlich den Apparat des Stellvertreters des Führers, den schon vor ihm Peter Longerich umfassend dargestellt hat, und fügt einige neue Details hinzu. Er führt aber keinen einzigen Fall an, aus dem hervorgehen würde, wann, wie und wozu Heß seine potentielle Macht konkret nutzte. Für andere wie etwa Göring, Goebbels, Himmler oder den bayerischen Innenminister und Gauleiter von Oberbayern, Adolf Wagner, sind solche Aktionen dagegen in der Forschung in Fülle dokumentiert. Heß war nach Görtemaker maßgeblich an der Verfolgung der politischen Opposition und der Rassegesetzgebung beteiligt. Auch hier fehlen wieder konkrete Beispiele.
Schon bei dem Verfahren vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg konzentrierte sich die Anklage nur auf seine formalen Kompetenzen und seine Mitunterzeichnung übler Gesetze – Handlungen im Einzelnen kamen nicht zur Sprache.
Dietrich Orlow, dessen zweibändiges Werk über die NSDAP immer noch maßgeblich ist, kam zum dem Ergebnis, dass Heß seit 1935 für Hitler zunehmend entbehrlich gewesen sei. Globalvollmachten wie die seinen, die auf dem Papier standen, hätten in der Praxis wenig bedeutet. Heß habe weder eine personelle noch eine territoriale Hausmacht gehabt. Görtemaker hat das nirgendwo überzeugend widerlegt.