Aktuelle Rezensionen
Cornelia Kemp
Licht – Bild – Experiment. Franz von Kobell, Carl August Steinheil und die Erfindung der Fotografie in München
(Deutsches Museum. Abhandlungen und Berichte N.F. 37), Göttingen 2024, Wallstein, 351 Seiten, zahlreiche Abbildungen
Rezensiert von Stephan Deutinger
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 17.12.2024
Wer mit dem Namen Franz von Kobell (1803-1882) etwas verbindet, wird sich an ihn vermutlich zuerst als den Schöpfer des unvergänglichen „Brandner Kasper“ erinnern, dem sein Bayern so gut gefiel, daß er es erst nach einem Vorab-Blick in das Paradies dagegen eintauschen wollte. Daß Kobell nicht nur ein Dichter, sondern in der Hauptsache ein tüchtiger Mineralog und Chemiker gewesen ist, wissen nur mehr ausgesprochene Spezialisten.
Zu ihnen gehören die Fotografie-Historiker und namentlich die Autorin des vorliegenden Buches, die lange Jahre als Konservatorin den einschlägigen Fachbereich im Deutschen Museum betreute. Durch sie wird Kobell eine reichlich späte, aber um so grandiosere Würdigung zuteil. Denn eine zentrale Erkenntnis ihrer detailreichen Arbeit besteht darin, daß Kobell nicht nur als einer der ersten Fotografen weltweit, sondern vor allem als eigentlicher „Erfinder“ der Fotografie in München zu gelten hat, eine Rolle, die zuvor eher seinem Kooperationspartner Carl August Steinheil zugeschrieben worden war. Aber der Physiker Steinheil stellte nur die optischen Apparate zur Verfügung, die ersten Aufnahmen von „Lichtbildern“ und der entscheidende Fortschritt dabei, ihre dauerhafte Fixierung, sind dagegen allein dem Chemiker Kobell zu verdanken.
Angestoßen wurde diese Neubewertung durch die bereits 1993 erfolgte Lösung der Kobellschen Salzpapiernegative aus ihrer jahrzehntealten musealen Montierung, die erstmals ihre Rückseite sichtbar werden ließ. Die dort zu lesende Beschriftung von Kobells Hand belegt auch, daß er bereits lange vor dem „Epochenjahr“ der Fotografie 1839, in dem Daguerre und Talbot ihre Verfahren publik machten, das Problem der Fixierung gelöst hatte, nämlich im Frühjahr 1837. Daß die ersten Münchener Fotografien schon vor 1839 entstanden sein könnten, war seit langem vermutet worden; der gültige Beweis ist jetzt durch Cornelia Kemp geführt.
Die Darstellung ruht einer gründlichen wissenschaftlichen Dokumentation sämtlicher optischer Apparate und der mit ihnen erzeugten Abbildungen auf, die aus den ersten Jahren der Münchener Fotografie erhalten sind. Sie sind in einem mustergültigen Kataloganhang wiedergegeben und sorgfältig erläutert. Außer dem bereits genannten Salzpapierverfahren werden auch die anderen von Kobell und Steinheil erprobten Verfahren – Cliché-verre, Daguerrotypie, Galvanoplastik und Galvanografie – behandelt. Eine ausführliche historiografische Betrachtung erhellt den Weg der Objekte in die Museen, ihre Präsentation und wissenschaftliche Verwertung im Verlauf von anderthalb Jahrhunderten und erklärt die Entstehung früherer Fehldeutungen.
Durch die Heranziehung aller archivalischen und gedruckten Quellen, die im Zusammenhang mit den fotografischen Objekten entstanden sind, gelingt es der Autorin, ein eindrucksvolles, keine Wünsche offen lassendes Bild der Anfänge der Fotografie in Bayern zu zeichnen, wobei der Landeshistoriker dankbar auch die in der Wissenschafts- und Technikgeschichte nicht ganz selbstverständliche Nutzung der Literatur vermerkt, die sein Fach bereitstellt. Daß die „Erfindung der Fotografie in München“ aufs engste mit der Bayerischen Akademie der Wissenschaften verbunden ist, in deren Räumen in der Neuhauser Straße die ersten Aufnahmen gemacht wurden, ruft das Desiderat einer Geschichte der Akademie im 19. Jahrhundert in Erinnerung, das immer unabweisbarer wird, nachdem das 18. Jahrhundert seit langem gültig behandelt ist und das 20. in Kürze ebenfalls erschlossen sein wird.
Bleibt nur zu überlegen, ob in dem Buch nicht auch der „Brandner Kasper“ eine Erwähnung verdient gehabt hätte. Weder Kobell noch Steinheil hatten seinerzeit Lust, sich an den Prioritätsstreitigkeiten zu beteiligen, von denen die Fotografiegeschichte übervoll ist, oder ihre Erkenntnisse irgendwie wirtschaftlich zu verwerten. Beider Interessen zogen rasch weiter, nachdem das wissenschaftlich-technische Problem der Fotografie gelöst war. Deren Wert schätzten sie offensichtlich gering ein: Auch mit dem besten Fotoapparat kann man nicht in das Paradies schauen.