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Karin Eckstein
Der Jüngere Titurel der Bayerischen Staatsbibliothek, Cgm 8470. Studien zu Materialität, Inhalt und Gebrauch einer illuminierten Epenhandschrift des Spätmittelalters
(Neue Forschungen zur deutschen Kunst 14), Berlin 2023, Deutscher Verlag für Kunstwissenschaft, 619 Seiten, zahlreiche Abbildungen
Rezensiert von Martin Roland
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 13.01.2025
Die opulent ausgestattete Monographie über den bei weitem prächtigsten Überlieferungsträger des „Jüngeren Titurel“ umfasst mehr als 600 Seiten. Der erste Abschnitt stellt das Werk vor (150 Seiten + ebenso viele im Anhang [Lagenschemata und Abbildungen]). Zuerst wird der Leser kurz mit dem Text und der Provenienz des Bandes vertraut gemacht. Es folgen ein zentraler Abschnitt über die Codicologie, also die Materialität des Buchobjekts, und eine kurze literaturgeschichtliche Einordnung. Ein sehr instruktiver Überblick über den Forschungsstand leitet zur Aufzählung des Dekors über. Beinahe ein Drittel des ersten Abschnitts ist der verbalen Beschreibung der Bildinhalte der 85 erhaltenen Miniaturen gewidmet. Der erste Teil wird durch die Stilanalyse abgeschlossen. Während sich bei der Datierung in der Forschung ein Konsens (um 1430 [1425/35]) abzeichnet – der Rezensent selbst datiert ins „Zeitfenster zwischen 1430 und 1435“ –, bleibt die Lokalisierung umstritten (siehe unten).
Der zweite Teil (100 Seiten und ebenso viele Seiten im Anhang) widmet sich der Verwendung des ‚Pergamentkodex‘ – die Schreibung ‚Kodex‘ statt ‚Codex‘ wird nicht jeder bzw. jedem gefallen – als ‚Stammbuch‘ der Familie Fernberger im 16. und 17. Jahrhundert (1580–1664/65). Kernstück dieses Abschnitts ist die erstmalige Transkription aller oft nicht ganz leicht lesbarer Einträge, die von extrem nützlichen Kurzbiographien der Beiträger im Anhang begleitet werden. Die beinahe 1200 Eintragungen (zumeist Randnotizen) stammen von Mitgliedern der Familie und von „peers“, also Personen, die als derselben (oder einer höheren) Schicht angehörig empfunden wurden.
Die Familienmitglieder formten das Buch zu einem Repräsentationsstück für sich um. Auslöser für den Erwerb der Handschrift und Grund für diese Rolle war wohl der Anker, der den Fernbergern 1549 als Wappenzeichen verliehen wurde. Er tritt als heraldisches Zeichen in den Miniaturen auf und wird dann als Identifikationszeichen bei der Verwendung/Umgestaltung des Buchobjekts durch Familienmitglieder an vielen Stellen hinzugefügt. Der Abschnitt enthält auch Genealogisches zur Familie und ein Kapitel zur Kontextualisierung in die Adelskultur des konfessionellen Zeitalters in Österreich.
Eckstein referiert in ihrem Forschungsüberblick alle Ergebnisse ganz objektiv (S. 37–42), so auch die von ihren mitunter abweichenden, zu denen der Rezensent als Mitautor einer rezenten Spezialstudie zum Cgm 8470 mit kunsthistorisch-sprachwissenschaftlichem Fokus gelangt ist (mit Peter Wiesinger – https://manuscripta.at/Ma-zu-Bu/dateien/Roland_Wiesinger_Malstil-und-Schreibsprache_2015_Text.pdf). In der sprachwissenschaftlichen Analyse Wiesingers werden punktuelle Einsprengsel des Nordbairischen bemerkte (Roland/Wiesinger , S. 110-112). Karin Eckstein plädiert trotzdem für eine Entstehung in Südtirol, ohne neue sprachwissenschaftliche Argumente vorzubringen. Auch für die Ablehnung Regensburgs als Entstehungsort des Buchschmucks bloß anzuführen, dass es dort Werkstätten gab, die im Figurenstil abweichen (was unbestritten aber auch nicht weiter ungewöhnlich ist für eine große Stadt), greift wohl zu kurz.
Bemerkenswert ist, wie sich Codicologie und Nutzung verbinden. Als Beispiel ist der Einband zu nennen, der in seiner finalen Form den Inhalt mit einem Schloss sicherte. Oberhalb von dessen hinteren Messingbefestigungen stehen groß die Initialen C(hristoph) A(dam) F(ernberger) (gest. 1665). Ecksteins detaillierte Analyse zeigt, dass die Eckbeschläge noch dem Mittelalter angehören – vielleicht stammen sie sogar vom Originaleinband der Zeit um 1430. Sie macht einen Vorschlag, wie der durch Verluste (im Besitz der Fernberger war ja überhaupt nur der zweite Band des Gesamtwerks und auch in diesem fehlen Blätter), Hinzufügungen und das erneute Entnehmen von Teilen sich verändernde Buchblock jeweils durch einen Einband umgeben war. Karin Eckstein dokumentiert auch die Eingriffe des 20. Jahrhunderts minutiös.
Die Handschrift ist nur wenig größer als die hier kurz angezeigte Publikation. Diese ist ein sorgfältiges Druckwerk, auf die digitale Welt des 21. Jahrhunderts verweisen die zitierten Netzquellen (u.a. des Digitalisats des Originals: im Englischen sehr treffend ‚digital copy‘). Ein E-Book ist – im Grunde erstaunlicher Weise – jedoch nicht verfügbar. Dem Rezensenten stellte der Verlag dankenswerterweise für ein PDF zur Verfügung. Dies ermöglichte, Vieles zusammenzubringen, was im doch sehr umfangreichen und stark tabellarisch-deskriptiven Text getrennt bleibt. Der Rezensent verbindet diese Feststellung mit der Hoffnung, dass diese Möglichkeit bald einem möglichst breiten Kreis zur Verfügung stehen wird.
Karin Ecksteins Monographie ist ein Plädoyer für das analoge Buch. Für den bibliophilen Bereich erfüllt der Band die Erwartungen bravourös. Ob in der Wissenschaft das analoge Buch ohne begleitende digitale Medien eine Zukunft hat, erscheint jedoch zweifelhaft. Zusammen mit diesen bleibt das gebundene Buch, in dem man, wie um 1430, als der zu Grunde liegende Band entstand, blättern kann, in das man Notizzettel einlegen kann und in das man vielleicht auch Notizen macht (bitte mit Bleistift!), aber bestimmt ein wichtiger Bestandteil einer vernetzten wissenschaftlichen Welt.
Offensichtlich und ganz unbestritten ist, dass im heutigen Cgm 8470 vielfältige Einflüsse kunstvoll vereint sind. Karin Eckstein, die von der Seite der Restaurierung kommt, wirft einen umfassenden Blick auf die vielfältigen Facetten des Objekts und liefert damit eine wertvolle Zusammenschau. Daraus wurden und werden auch in Zukunft unterschiedliche Schlüsse in Bezug auf die Entstehungsumstände gezogen werden. Ecksteins Publikation wird als Grundlage das kreative Weiterdenken entscheidend fördern.