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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Oliver Kruk

„Nit on meines Capitels Wissen“. Praktiken des Informations- und Wissensmanagements in der Verwaltung und Herrschaft des Bamberger Domkapitels, 1522–1623

(Stadt und Region in der Vormoderne 12), Baden-Baden 2024, Ergon, 437 Seiten


Rezensiert von Norbert Jung
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 17.01.2025

Bei dieser am Lehrstuhl von Mark Häberlein entstandenen Bamberger Dissertation (Erstbetreuer: PD Dr. Andreas Flurschütz) handelt es sich um die Frucht des DFG-Projekts „Herrschaftspraxis, Übergangsmanagement und Gedächtnis einer geistlichen Korporation. Die Schriftlichkeit des Bamberger Domkapitels.“ Um es gleich vorweg zu sagen: Dem Verfasser ist ein innovativer und zukunftsweisender Zugang zu den Quellen gelungen. Aus einer „dezidiert wissensgeschichtlichen Perspektive“ (S. 30) findet er mit seiner Untersuchung zur Verwaltungs- und Herrschaftspraxis des Bamberger Domkapitels im 16. und frühen 17. Jahrhundert Anschluss an aktuelle Forschungsdiskurse außerhalb der geistlichen Wahlstaaten, indem er nach der Praxis der Sammlung, Ordnung, Aufbewahrung und Nutzung von (schriftlichen) Informationen fragt. Der Untersuchungszeitraum von 1522 bis 1623 wurde deshalb gewählt, weil das Gremium in dieser von Krisen geprägten Zeit zehn Mal einen neuen Fürstbischof kürte. Auch wegen dieser relativ kurzen Amtszeiten hatte das Bamberger Kapitel eine relativ starke Stellung im komplexen Machtgefüge des Hochstifts. Es könne daher im Alten Reich als „zugleich außergewöhnlich und exemplarisch“ (S. 19) gelten, wovon sich der Verfasser vor dem Hintergrund der ausgesprochen erfreulichen Quellenlage zu Recht einen aussagekräftigen Ertrag seines Projektes verspricht.

Die Arbeit gliedert sich in sieben Kapitel. Die ausführliche Einleitung (S. 15-47) rekapituliert die Forschungsgeschichte, stellt die Quellenlage dar und schildert den Aufbau sowie den methodischen Ansatz. Der Verfasser konstatiert im Rahmen seiner umfassenden Literatursichtung eine „wenig ausdifferenzierte Forschungslage“ (S. 26). Abhilfe ist dabei auch von der Dissertation von Alissa D’Abbé zu erwarten, einer Kommilitonin des Verfassers, die zum Bamberger Domkapitel in der Spätphase des Alten Reiches forscht.

Das zweite Kapitel setzt sich mit dem Domkapitel als Verwaltungs- und Regierungsorgan auseinander (S. 49–90). Dessen Entstehung und Zusammensetzung, geistliche Karrierewege, Entscheidungsfindungsprozesse, die „Mitregentschaft“ im Hochstift und die als „Hände und Füße des Domkapitels“ charakterisierten Zentralbehörden des Gremiums sowie die als dessen „Augen und Ohren“ bezeichneten Amtsträger vor Ort werden umfassend und präzise geschildert. So erfährt man beispielsweise, dass von 20 stimmberechtigten Kapitularen durchschnittlich nur sechs bei Abstimmungen anwesend waren; nach außen wurden die Beschlüsse jedoch kollektiv vertreten. Diese grundlegende Darstellung des Domkapitels als Verwaltungs- und Herrschaftsorgan bildete bisher ein Desiderat und dient im Rahmen der Arbeit als Hintergrundfolie für die Frage nach dem „Wissensmanagement“ des Gremiums, bedeutete „Herrschaft“ im 16. Jahrhundert doch in vielen Fällen nichts anderes als „eine Ansammlung einzelner fragmentierter Recht und Titel“ (S. 90), deren oft umstrittene Belegbarkeit im Rahmen des Herrschaftsausbaus eben einen systematisierten Umgang mit Informationen bedingte.

Das dritte Kapitel widmet sich der Frage, wie das Domkapitel im Rahmen seiner Landesherrschaft überhaupt an Informationen kam (S. 91–161). Beschrieben werden u.a. die Anfänge des Informationserwerbs aufgrund der Gerichtsherrschaft, die Vertiefung der Landesherrschaft im Zusammenhang mit den konfessionellen Auseinandersetzungen, die proaktive Datenerfassung über Herrschaftsgrenzen und Untertanen sowie die Verarbeitung der Informationen in diversen Sammelbänden, um schließlich Entscheidungen vorbereiten und begründen zu können. Dabei entwickelten sich die Rezessbücher, in die im Grunde jede Einzelheit eingetragen wurde, zum durch Register und Querverweise unter den Bedingungen der frühen Neuzeit optimal erschlossenen Nachschlagewerk.

Der vierte Abschnitt behandelt die Entstehung des Archivs als „Gedächtnis einer Korporation“ (S. 163–217). Die Ordnung, das Suchen bzw. Finden sowie die Kontrolle von Informationen (das im Archiv gespeicherte Wissen konnte auch als Machtinstrument gebraucht werden) war dabei im 16. Jahrhundert durch die Zunahme der Schriftlichkeit und die Tendenz zur Systematisierung bzw. Zentralisierung großen Veränderungen unterworfen, an deren Ende das Archiv als professionelle und eigenständige Behörde stand.

Ein weiteres Kapitel schildert die Verwaltungspraxis der Amtsträger des Domkapitels, nach Max Weber verstanden als „Herrschaft im Alltag“ (S. 219–274). Es gelingt dem Verfasser, die wirtschaftlichen Grundlagen, die Freiräume, die Praxis des Sammelns von Informationen, die Amtsübergaben sowie den Wissenstransfer auf der Ebene der subalternen Beamten, sei es in den Zentralbehörden oder in den Ämtern, detailreich und systematisch aufzuschließen. Die Verwaltungspraxis zwischen Delegation und Zentralisierung führte schließlich zu einer konsequenten Entpersonalisierung, wurde also zunehmend konsistenter.

Im vorletzten Kapitel fragt der Verfasser nach dem Nutzen des Wissens im Rahmen der Mitverantwortung des Domkapitels bei der Regierung des Hochstifts (S. 275–333). Behandelt werden die Wahlkapitulationen, die Rolle der Domherren als Referenten am fürstlichen Hof bzw. als Diplomaten bei auswärtigen Missionen sowie die Weitergabe von Informationen in Zeiten der Sedisvakanz. Überzeugend wird dabei die Rolle des Domkapitels als Wahrer von Kontinuität und Stabilität sowie als Korrektiv gegenüber der Alleinherrschaft des Fürsten herausgearbeitet – beides wurde ermöglicht durch Anwendung des erworbenen Langzeitwissens sowie durch Gewohnheitsrecht.

In seinem Resümee (S. 335–354) betont der Verfasser, dass die Sicht des Domkapitels als bloße geistliche Korporation zu kurz greift. Das Domkapitel nahm, oft ohne es dezidiert beabsichtigt zu haben, an der allgemeinen Tendenz zur Institutionalisierung teil. Mit Gewinn liest man die „Perspektiven der Forschung“ am Ende der Arbeit. Grundsätzlich erweitert der Blick auf das Domkapitel das Bild vormoderner Herrschaft und Staatenbildung. Es sei jedoch fraglich, ob die Ergebnisse der Arbeit auf andere Domkapitel übertragbar seien, überhaupt griffen schematische Darstellungsversuche zu kurz. In Bezug auf die Verfassungsgeschichte liege die Rolle der Domkapitel als Garanten für Kontinuität und Stabilität im „Übergangsmanagement“, revisionsbedürftig sei „das Bild des Domkapitels als Hemmschuh für Wandel und Fortschritt“ (S. 351). Insbesondere sei durch verstärkte Ritualforschung ein besseres Verständnis der Selbstinszenierung des Gremiums zu erwarten. Nicht zuletzt sei eine stärkere Einbeziehung der Domkapitel in die Erforschung von Entscheidungsprozessen und -praktiken erforderlich, ebenso wie die Forschung zu einzelnen Kanonikern in Bezug auf deren Netzwerke. Die Quellenlage dafür sei ausgesprochen gut, z.B. durch Nachlassverzeichnisse.

Ein umfangreicher, instruktiver Anhang, der u.a. umfassende Personallisten enthält, rundet das Werk ab – allein das Quellen- und Literaturverzeichnis umfasst 57 Seiten. Auch ein bei einer solchen Arbeit unbedingt erforderliches Orts-, Personen- und Sachregister fehlt nicht.

Die vorliegende Arbeit überzeugt sowohl inhaltlich als auch methodisch in jeder Weise. Die Auswertung des Quellenbestandes kann im Hinblick auf die Fragestellung nur als vorbildlich bezeichnet werden. Abgesehen von nur einem Lesefehler (S. 104 „Separationem Hiori“ – recte: „thori“), wenigen Tippfehlern und einer versehentlichen Doppelung in der Literaturliste (Haag) gibt es nichts zu bemängeln. Der innovative Ansatz besticht nicht nur durch den dadurch erreichten Erkenntnisgewinn, sondern bereitet zudem die herangezogenen Quellen für weitere Forschungen auf.

Ob das vom Verfasser konstatierte bisher geringe Interesse an den Domkapiteln im deutschen Sprachraum tatsächlich auch an ihrer jetzigen Rolle liegt, die er als „allenfalls beratend“ (S. 21) beschreibt, sei dahingestellt. Zumindest als sog. Konsultorenkollegium hat das nunmehrige Metropolitankapitel durchaus immer noch mitentscheidende Rechte, und es entscheidet natürlich in allen Fragen, die den Dom betreffen, dessen Eigentümer das Gremium ist. Es ist so oder so jedenfalls sehr zu begrüßen, dass weitere Arbeiten zum Bamberger Domkapitel in Vorbereitung sind, und dabei steht zu hoffen, dass der Verfasser, dem man zu seinem Buch nur beglückwünschen kann, daran kräftig mitwirken wird: