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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Wolf-Martin Hegert

Das Höhere Nürnberger Schulwesen im Nationalsozialismus. „Der schlechteste Weg der Erziehung geht über den Verstand“

(Nürnberger Werkstücke zur Stadt- und Landesgeschichte 80), Nürnberg 2024, Ph. C. W. Schmidt, 835 Seiten, zahlreiche Abbildungen


Rezensiert von Moritz Pöllath
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 24.01.2025

Wolf-Martin Hegert ist mit dem Werkstück „Das Höhere Nürnberger Schulwesen im Nationalsozialismus“ eine umfassende Darstellung und Analyse des Erziehungswesens der Stadt Nürnberg gelungen. Die lokalgeschichtliche Studie ist dabei in weiten Teilen zugleich eine Quellenedition vieler noch unbekannter Quellen aus der NS-Zeit. Die Problemstellung ist fordernd, da sie sich zum Ziel setzt, zu ergründen, inwiefern nationalsozialistisches Gedankengut in der Praxis auch umgesetzt wurde. Dies ist aus Sicht der Quellenlage kein einfaches Unterfangen, da der tatsächliche Schulunterricht situativ und nur bei Lehrproben oder -besuchen zu Teilen protokolliert wird. Auch würden derartige „Schaustunden“ nicht zufriedenstellend sein, um an die Alltagspraxis heranzukommen.

Der Ansatz der Studie ist daher äußerst breit angelegt und nähert sich dem Thema durch die nationalsozialistischen Leitsätze an, liefert einen Überblick über den Fächerkanon sowie die Institutionen und Akteure. Hegert nennt sein Werk bescheiden einen „Versuch“ (S. 12), um dann durch seine großangelegte Quellensammlung und Erörterung des Nürnberger Schulwesens einen Baustein zur Erforschung dieser Geschichte zu legen. Vorneweg, Hegert legt hier mehr als nur ein Fundament mit seiner intensiven Archivarbeit, welche er im Nürnberger Raum durchgeführt hat.

Gewisse Vorbilder hat die Studie in lokalhistorischen Forschungen in Lübeck und Hamburg zum Schulwesen in der NS-Zeit. Hegert ordnet seine Problemstellung und Erkenntnisinteressen sinnigerweise in die Standardwerke von Mommsen und Kershaw ein, die im NS-Staat keinen monolithischen Block und eher einen Feudalstaat sahen, in dem direkte und persönliche Loyalitäten im Führerstaat eine bedeutende Rolle spielten – ohne dass damit eine Absage an die totalitäre ideologische Durchdringung der Gesellschaft einhergeht. Für Hegerts Studie ist dieser Gedanke leitend, da die Vorgänge im Nürnberger Raum und die Akteure somit kontextualisiert und verstanden werden können.

Erschwerend für die Erschließung der umfangreichen Quellenarbeit erinnert der Autor daran, dass nicht nur eine Vielzahl an Schulformen existierten, sondern auch „in den Jahren 1933 bis 1945 dieses Schulwesen einer dauernden Um- und Neugestaltung unterworfen war“ (S. 19). Es gelingt ihm jedoch durch eine ausgesprochene Stärke in der Quellenrecherche durchgehend, der Herausforderung dieses Großwerks zu begegnen. Dies beginnt mit der Beobachtung, dass die Machthaber kein konsistentes ideologisches Konzept für die Erziehung hatten. Vielmehr flossen und wechselten sich in der „nationalsozialistischen Pädagogik“ unterschiedliche Strömungen verschiedener Machthaber ab. Hegert problematisiert und negiert den Begriff „Pädagogik“ für den NS-Staat, da sie eine Antithese humanistischen Bildungsverständnisses ist, den Menschen als Objekt für Indoktrination versteht und daher der Begriff „Pädagogik“ abzulehnen ist. Es sind „menschenverachtende Zieldimensionen“ einer totalitären Erziehung, die in Didaktik und Schulwesen umgesetzt werden sollen (S. 26).

In der Fülle des angebotenen Materials sticht heraus: Der biographische Zugang über die Chefideologen Hitler, Rosenberg, Krieck, Baeumler, Schemm, Streicher und Fink. Hegert zeigt überzeugend, wie deren Ideologie sich in die Verästelung der NS-Bürokratie verbreitete und das Schulwesen prägen konnte. Die Wissensfeindlichkeit Adolf Hitlers wird thematisiert, der Wissen und Stoff als „Ballast“ bezeichnete, und für den sich Schule auf das „Heranzüchten kerngesunder Körper“ und ideologisierter Köpfe beschränkte (S. 28). Auch wird die Frauenfeindlichkeit der Bildung herausgearbeitet, welche Frauen nur als Mütter zukünftiger Soldaten verstand (S. 42).

Wertvoll sind ebenfalls Hegerts Ausführungen zum Fächerkanon, wie z.B. der Missbrauch von Geschichte, um auf den Krieg vorzubereiten (S. 132), oder wie das Fach Biologie durch die Einrichtung von Schulgärten zur ideologischen Erziehung beitragen sollte. Zu den vielen neuen, aber auch bekannten Quellen gehören die Handreichung „Die Judenfrage im Unterricht“ oder die Vorstellung der All-, Ich- und Wirzeit, welche Geschichte auf drei Phasen simplifiziert, dabei antisemitisch auflädt und in der Wirzeit zu dem Slogan führen soll: „Du bist nichts, dein Volk ist alles!“ (S. 131)

Sprachlich ist Hegert für seine klaren Urteile zu loben, welche die Quellen aus damaliger wie heutiger Sicht einordnen. Sein Urteil über das totalitäre Schulwesen ist dann auch sehr eindeutig. „Wie in allen totalitären Systemen wurde dieses Scheitern und diese systemimmanenten Unzulänglichkeiten öffentlich kaschiert, geschönt und zurechtgelogen“ (S. 78). Die „totale Erziehung“ der Ideologen war ein wirres Sammelsurium judenfeindlicher, frauenfeindlicher, antichristlicher und aus dem Zusammenhang gerissener „Versatzstücke“, dass sie nicht mehr als Bildung verstanden werden kann, sondern als ideologischer Müll, der wie mit einem Trichter in die Köpfe der Schülerinnen und Schüler gepresst werden sollte. Die Konsequenz war ein erschreckender Leistungsabfall an den deutschen Schulen, wie Hegert ausführt (S. 78-79).

Das Werkstück weist kleine Schwächen im Layout auf: Aufgrund seines Volumens wurde vermutlich ein kleiner Schriftsatz gewählt und auf einen Blocksatz verzichtet. Dadurch sind die Zitate jedoch noch kleiner – winzig – und nicht sauber vom Fließtext abgetrennt, was leserunfreundlich ist. Dies ist schade, da gerade die vielen neu erschlossenen und zutage geförderten Quellen, eine der Bereicherungen der Studie für die Forschungslandschaft bilden. Hier könnte über eine eigene Quellensammlung nachgedacht werden, denn Hegerts ausgesprochen lobenswerte Archivarbeit bietet tatsächlich Anknüpfungspunkte für weitere Studien und auch zur Verwendung in der Lehre an Universität und Schule.

In dem Werkstück wird zugleich dargelegt, wie die Ausbildung der Referendare erfolgte. Symptomatisch für das System wurde diesen zur Aufgabe gemacht, die Passagen aus „Mein Kampf“ zu Hitlers Erziehungsvorstellungen zu studieren. Die wissenschaftliche Fragwürdigkeit von Hitlers Thesen war auch damals bekannt; dem wurde jedoch offensiv begegnet, Hitler müsse als „Mann der Tat“ sich nicht mit komplexen Fragen beschäftigen (S. 539-540).

Die Fragestellung der Arbeit wird somit durch das schiere Quellenangebot überraschend beantwortet: Obwohl scheinbar jeder Aspekt des Schulwesens von der NS-Ideologie durchtränkt schien, kommt Hegert zu spannenden Einsichten. Zwar wurde rasch das Erziehungswesen auf totalitäre und rassistische Phrasen reduziert, aber es setzte auch ein retardierendes Moment ein. Sparmaßnahmen der Nationalsozialisten hatten zu einem Mangel an Junglehrern geführt. Aktionistische Reformen vom Reichserziehungsministerium gingen kaum voran – hier stellten der noch verbliebene Föderalismus und die kommunale Organisation von Schulen eine Bremse dar. Hinzu kam der Wettstreit der „Erziehungsmächte“ wie der Hitlerjugend und der Lehrkräfte. So führte die Geringschätzung der Hitlerjugend für die Lehrkräfte zu einem Autoritätsverlust der letzteren sowie belasteten Ressourcenkämpfe das Erziehungswesen: Die Erziehung zum Krieg nahm Vorrang vor der Schulbildung oder arbeiteten Schüler zunehmend als Flakhelfer und distanzierten sich so innerlich vom Schulsystem (S. 770-772).

Mit Beachtung sollte Hegerts Schlussfolgerung hinsichtlich der emotionalen Erziehung gelesen werden, auf die durch die NS-Zeit, ähnlich wie auf der Geopolitik, ein Schatten lag: Aus der Sicht des Autors sei es falsch, „aus den Erfahrungen des Nationalsozialismus heraus affektive oder emotionale Ausrichtung des Unterrichts prinzipiell abzulehnen“. Der affektive Ansatz der nationalsozialistischen Bildung war eben nicht wissenschaftlich begründet, weshalb ein wissenschaftlich verankertes emotionales Lernen zu begrüßen sei (S. 773).