Aktuelle Rezensionen
Christine Holl-Enzler
Zwischen Provinz und Staatstheater. Die Institution des Stadttheaters am Beispiel der Augsburger Bühne zwischen 1877 und 2018
Bielefeld 2024, transcript, 424 Seiten, 13 Abbildungen
Rezensiert von Andreas Kotte
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 04.02.2025
Der erste Widerhaken findet sich im Haupttitel. Ist tatsächlich Provinz oder doch Provinztheater gemeint? Die Institution des Stadttheaters im Untertitel beschwichtigt nur unvollkommen. Erst nach der Lektüre wird klar, dass der Haupttitel seine Berechtigung besitzt, weil man beileibe kein Werk nur zur Institutionsgeschichte gelesen hat. Vier gewichtige Kapitel zeichnen den Weg des Stadttheaters Augsburg von 1877 bis 2018 nach, vom Kaiserreich über die Weimarer Republik, den Nationalsozialismus bis in die Bundesrepublik. Hinter zeitbezogen angepassten Abschnittsüberschriften verbergen sich stets die fundamentalen Themen Theaterbau, Geschäftsform, Theaterleitung, Personal, Verhältnis der Sparten, Spielplan/Repertoire und Publikum. Das Resümee am Ende des Werkes ist keine schnöde Kurzfassung für Eilige, sondern ergänzt den chronologischen Durchlauf um eine thematische Zusammenschau. Sie ist so durchtrieben gut gestaltet, dass sich Leserinnen und Leser, die sich auf einen der Zeitabschnitte kapriziert hatten, angeregt anderen Perioden zuwenden. Sie bekommen auch Lust auf die Zeit vor 1877, die im Vorspann gestreift und am Ende durch die Autorin als wichtiges Forschungsdesiderat gekennzeichnet wird.
Das deutsche Bürgertum durchbricht im Kaiserreich die mittelalterlichen Mauern und Wälle und errichtet für sich circa 100 repräsentative Theater, die großteils als Pachttheater fungieren. Augsburg liegt 1877 mit seinem Neubau ganz im Trend, wenn es das unternehmerische Risiko dem Theaterdirektor überträgt, den Gebäudeunterhalt, Heizung, Beleuchtung und Brandschutz aber selbst übernimmt. Solche Vorläufer von Subventionen sind notwendig, um den Nachteil der stehenden gegenüber der Wanderbühne auszugleichen, die vor ständig wechselndem Publikum dieselben Produktionen aufführte, während ein Stadttheater vor immer gleichem Publikum zu einem enormen Output von Produktionen gezwungen ist. Christine Holl-Enzler führt schon in diesem Eröffnungskapitel ein Leitprinzip ein, das Leser aus James Joyces Roman „Ein Porträt des Künstlers als junger Mann“ kennen. Wie Stephen Dedalus sich als Elementarklässler in einen größeren Bezug setzte zu „Sallins, County Kildare, Irland, Europa, Die Welt, Das All“ (Suhrkamp 1972, S. 17), so strahlt ihr Buch (ohne Welt und All) doch immer wieder in die europäische Geschichte hinein und zurück auf Augsburg, wo die Theaterbesucherinnen und -besucher es bemerken, wenn in einem Stück Verse fehlen (S. 81). Das heißt, der historische Wandel im Theaterverständnis wird intensiv kontextualisiert, mehrfach auch mit Bertolt Brecht, Sohn der Stadt.
In der Weimarer Republik fällt die Zensur. Das Theater wird gänzlich kommunalisiert, geht in einen Regiebetrieb mit Intendanten über, bis der Börsencrash vorübergehend die Rückkehr zum Pachtsystem auslöst. Die finanzielle Notlage lässt die Intendanten auf das „billigere“ Schauspiel ausweichen und an der „großen Oper“ sparen, bevor 1932 die vom Publikum geforderte Kehrtwende eingeleitet wird (S. 131). Über den gesamten Zeithorizont geht die Studie auf der Grundlage von Kritiken und Verlautbarungen des Theaters detailliert der Spartenpolitik nach, in der Oper und Operette wegen der Abhängigkeit vom Abonnementsystem meist Priorität erhielten.
Im Nationalsozialismus schwindet die Aussagekraft der nun „Kunstbetrachtung“ genannten und politischen Zielen verpflichteten Kritik, weshalb andere Quellen in den Vordergrund treten wie zum Beispiel Akten der Stadtverwaltung. Hitler unterstützt persönlich nach einem Besuch in der „Gauhauptstadt“ den Umbau der Bühnenanlage und des Zuschauerhauses, der 1939 abgeschlossen werden kann und sich in ein geplantes repräsentatives „Gauforum“ einfügt (S. 150), bevor im Februar 1944 das Theater durch Luftangriffe zerstört wird. Die mehr als einhundert Personen, die das Buch bevölkern, werden von der Autorin knapp und treffsicher charakterisiert. Ein Netzwerk mit den Knotenpunkten Theaterleitung, städtische Administration und Publikum entsteht, das den Wirkungszusammenhang eines Stadttheaters exemplarisch offenlegt und für die Zeit des Nationalsozialismus von besonderem Wert ist. Von 122 Spielstätten behielten nach 1933 nur 47 ihren Theaterleiter, darunter Augsburg (S. 160). Aktenbasiert nachvollzogen wird das differenzierte Wechselspiel von Erich Pabst zwischen seiner Kollaboration und den Zweifeln der NSDAP an der Zuverlässigkeit des Intendanten. In gebotener Akribie wird die Personalpolitik der drei Intendanten des Zeitabschnitts analysiert, wobei (außer einem Zufallsfund) keine Entlassungen jüdischen Theaterpersonals zutage treten, was solche jedoch nicht ausschließt. Mehr Anstellungen bei konstantem Budget bedeuten geringere Einkommen der Schauspielerinnen und Schauspieler, in der Kriegszeit bringen zunehmende Einberufungen von Technikern zum Kriegsdienst prekäre Produktionsbedingungen mit sich. Dennoch: Während in der Weltwirtschaftskrise die Auslastung des Theaters spektakulär eingebrochen war, erreicht sie im Kriegsjahr 1942/43 mit 300.000 einen Besucherhöchststand (S. 217). Die ausführliche Repertoireanalyse ergibt, dass man anfangs penibel darauf achtete, ausreichend viele Autoren nationalsozialistischer Provenienz aufzunehmen. Später tritt musikalisches Unterhaltungstheater, samt der als jüdisch verschrienen Operette, in den Vordergrund.
Der Fall Augsburg bestätigt aufs Neue – und besonders beeindruckend –, was zahlreiche Studien zur deutschen Theatergeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg belegen: Im Zuge von „Re-Education“ wird humanistisches Erbe wiederbelebt, Aufklärung betrieben, das Repertoire erweitert, einzelne Theaterleitungen werden ausgetauscht, aber der wirkliche personelle und damit tiefgreifend gesinnungsrelevante Wechsel geschieht – wie auch in anderen Lebensbereichen – nicht in der „Stunde Null“ 1945, sondern in den 1960er Jahren.
Durch das penible Nachzeichnen auch aller Widrigkeiten vermag Holl-Enzler die Verflechtung zwischen Stadt und Theater zu erhellen, die der Begriff Stadttheater beinhaltet: Selbst wenn ich es selten besuche, ist es auch „mein“ Theater. Nach 1945 mussten und müssen die elf Intendanten und eine Intendantin bis in die Gegenwart bei Aufbau- und Umbauarbeiten immer wieder mit mehreren Interimsspielstätten vorliebnehmen, 2012 beispielsweise kam eine Brecht-Container-Bühne hinzu, die wieder verschwand (S. 233). Solche ortsbezogenen Fakten wechseln häufig mit allgemeineren Tatsachen, die durchaus noch nicht im breiten kulturellen Gedächtnis verankert sind. So führten nach dem Nachkriegsboom Währungsunion und neuer Föderalismus zunächst zu einer Fast-Halbierung der Anzahl bundesdeutscher Bühnen, bevor eine Konsolidierung einsetzte (S. 239). Das „kleine Goldene Zeitalter“ der 1960er Jahre beginnt (nicht nur) für Augsburg mit Brechts „Mutter Courage“ und Frischs „Biedermann und die Brandstifter“, mit Dürrenmatts „Die Physiker“ und Millers „Hexenjagd“. Mit den Dramatikern Kipphardt, Weiss und Hochhuth wird das Etikett Provinz abgelegt, was sich mit Forte, Kroetz und Bernhard in den 1970ern fortsetzt und bis heute nachhallt.
Ob von der Autorin beabsichtigt oder nicht, beim Rezensenten wuchs während der Lektüre die Abneigung gegen den Begriff der Provinz als Kategorie. Dass er geografisch nichts leistet, wenn das ganze Land die Provinz ist, das die Metropolen als Leuchttürme trägt, mag einleuchten. Doch selbst wenn Provinz nicht örtlich, sondern geistig und damit qualitativ verstanden wird, unter den verschiedenen Theaterleitungen also einmal etwas „gewagt“ wird, sonst mehr Durchschnittliches sich durchsetzt, greift der Terminus kaum. Theater lässt sich nur konkret beschreiben. Das ist ein wesentliches Resultat der Studie und eine Botschaft an die Theaterhistoriographie.
Während die in den einführenden Passagen zuweilen als Referenz benutzte Theatergeschichte Manfred Braunecks eine Mastererzählung mit Beispielen darstellt, ist Holl-Enzlers Werk das Gegenteil, nämlich eine örtliche Tiefenbohrung, präzise verhängt mit deutscher Theatergeschichte. Die Dokumentation vereint das Einzelne und Besondere und führt es zum Allgemeinen. Eine breite Aktenbasis und umfassende Zeitungsrecherche, dazu viele Interviews und einige Abbildungen ergeben eine gut lesbare Augsburger Kulturgeschichte, erzählt anhand des institutionalisierten Theaters.