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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Julia Schneidawind

Schicksale und ihre Bücher. Deutsch-jüdische Privatbibliotheken zwischen Jerusalem, Tunis und Los Angeles

Göttingen 2023, Vandenhoeck & Ruprecht, 308 Seiten, zahlreiche Abbildungen


Rezensiert von Małgorzata Stolarska-Fronia
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 04.02.2025

Bereits im 16. Jahrhundert beschrieb der jüdische Prediger und Kommentarschreiber Menasche Darschan aus Krakau die Bibliothek seiner Träume: „Ich stelle darin mehr als vierhundert ausgezeichnete Bücher von schöner Form auf, die ich seit meinem neunzehnten Lebensjahr fünfundzwanzig Jahre lang mühsam gesammelt habe. Ich habe sie aus den vier Ecken der Welt importiert und Hunderte von Münzen dafür ausgegeben.“ Dies ist vielleicht die älteste Beschreibung einer jüdischen Büchersammlung. Wie das Buch von Julia Schneidawind zeigt, wurde diese Tradition von jüdischen Intellektuellen bis in die 1930er Jahre fortgeführt und erst durch die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung in Deutschland unterbrochen.

Das in dieser Publikation vorgestellte Bild von Büchern als Lebensbegleitern, die die Biografien ihrer Besitzer mitgestalten und umgekehrt, eröffnet einen völlig neuen Erkenntnisbereich. Hier werden künstlerische und wissenschaftliche Biografien anhand des Schicksals von Büchersammlungen prominenter deutsch-jüdischer Intellektueller wie Franz Rosenzweig (1886–1929), Lion Feuchtwanger (1884–1958), Stefan Zweig (1881–1942), Karl Wolfskehl (1869–1948) und Jacob Wassermann (1873–1934) rekonstruiert. Das Buch besteht aus sieben Kapiteln: Einer Einleitung, fünf Kapiteln, die nacheinander das Schicksal der einzelnen Bibliotheken beschreiben, und einem Schlusskapitel. Es handelt sich um die überarbeitete Fassung einer Dissertation, die am Lehrstuhl für Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität München entstanden ist.

Der Autorin gelingt es, sowohl ihre Expertise als Historikerin als auch als Kulturwissenschaftlerin und Provenienzforscherin unter Beweis zu stellen. Die Publikation verbindet Forschungen der „Material Culture Studies“ und Holocaustforschung mit der Provenienzforschung. Zudem schafft sie durch die Verknüpfung geografischer Daten mit historischen Fakten eine Art historischen Atlas, der das Exil von Objekten und Menschen nachzeichnet. Die Autorin wendet konsequent den Rahmen der Beschreibung der Objektbiografien mit dem Konzept des ‚Itinerars‘ (nach Hans Peter Hahn und Hadas Weiss) an und schafft so eine Überlieferungsgeschichte von Privatbibliotheken. Dies verleiht dem Buch einen zusätzlichen Wert. Es vermittelt ein faszinierendes Bild des Netzwerks, das die Besitzer durch ihre Büchersammlungen aufrechterhielten und erlaubt zugleich einen Einblick in die Familientraditionen sowie die manchmal komplizierten Beziehungen, die damit verbunden waren.

Schneidawind bemüht sich auch, die Unterschiede zwischen den Sammlungen aufzuzeigen. Das Buch beginnt mit der Geschichte einer typischen intellektuell-bürgerlichen Sammlung, die das Familienethos hochhält, wie die Rosenzweig-Büchersammlung. Diese umfasste, die von seinem Vater begonnene Tradition fortsetzend, etwa 3.000 Bücher, darunter deutsche Klassiker, aber auch wertvolle Werke in jiddischer und hebräischer Sprache. Kurz vor seinem Tod 1929 vermachte Franz Rosenzweig die Sammlung seinem Sohn. Einige Jahre später übernahm seine Frau Edith Rosenzweig die Aufgabe, die Büchersammlung zu retten. Ein interessanter Fall ist die Sammlung Lion Feuchtwangers, für die 1931 die Innenräume der Villa in Berlin-Grunewald hergerichtet werden sollten. Heute erlebt die Feuchtwanger-Sammlung in der Villa Aurora in Los Angeles ihr zweites Leben. Jacob Wassermann hingegen schuf – wie der bereits erwähnte, vormoderne Sammler Darschan – seine Bibliothek ohne familiäre Unterstützung, sowohl kulturell als auch finanziell.

Die Achse, um die sich die Erzählung des Buches dreht, ist die Auswanderung der jüdischen Intellektuellen aus Deutschland nach 1933. In diesem Fall betraf das Exil auch ihre Büchersammlungen, wobei – wie die Autorin hervorhebt – das ‚Itinerar‘ der Besitzer meist nicht dasselbe wie das ihrer Bücher war. Einige Sammlungen konnten ihre relative Unversehrtheit bewahren (Feuchtwangers Sammlung), andere wurden verstreut (Stefan Zweigs Büchersammlung), wieder andere befinden sich dauerhaft außerhalb Europas (Franz Rosenzweigs Sammlung wird bis heute in Tunis aufbewahrt) und sind nur für wenige zugänglich. Angesichts der Flucht vor dem Lager und dem Tod war die Sorge um die Bücher manchmal nicht vorrangig gegenüber derjenigen um das eigene Leben und der Verlust einer wertvollen Büchersammlung führte oft zu persönlichen Tragödien. So erging es Stefan Zweig, für den das Leben im Exil, weg von der heimatlichen Umgebung, aber auch getrennt von seinen Büchern, dazu führte, dass er und seine Frau beschlossen, ihr Leben vorzeitig zu beenden. Bücher waren manchmal zugleich ein Kapital, das den Betroffenen in den schwierigen Zeiten vor der Verfolgung in Deutschland das Überleben ermöglichte.

Es gibt noch viele ‚Itinerare‘ von Buchsammlungen zu rekonstruieren und das Buch „Schicksale und ihre Bücher…“ ist eine hervorragende Ermutigung und ein Ausgangspunkt für weitere Forschungen dieser Art. Im Zeitalter des immer stärker blühenden Feldes der Digital Humanities bietet sich die Chance, viele nicht mehr verfügbare Sammlungen auch online zu rekonstruieren.