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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Grant Kaplan/Kevin M. Vander Schel (Hg.)

The Oxford History of Modern German Theology, Bd. 1: 1781-1848

New York 2023, Oxford University Press, 813 Seiten


Rezensiert von Thomas Marschler
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 18.03.2025

Keine Phase der Theologiegeschichte stand so nachhaltig unter dem Einfluss deutschen Denkens wie das 19. und 20. Jahrhundert. Dieser Umstand rechtfertigt das hier anzuzeigende Publikationsprojekt, eine auf drei umfangreiche Bände angelegte „History of Modern German Theology“ unter der Herausgeberschaft von David Lincicum (Notre Dame), Judith Wolfe (Saint Andrews) und Johannes Zachhuber (Oxford). Der erste Band, verantwortet von Grant Kaplan (Saint Louis) und Kevin M. Vander Schel (Spokane), liegt nun vor. Er deckt, bei umfassender Einbeziehung der Voraussetzungen im 17. und 18. Jahrhundert, die Zeit zwischen dem Erscheinen von Kants „Kritik der reinen Vernunft“ und dem Revolutionsjahr 1848 ab und umfasst neben zwei Einleitungen 36 Beiträge, die fünf chronologisch konzipierten Sektionen zugeordnet sind. Die Autoren, von denen sieben im deutschen Sprachraum lehren, bezeugen die internationale und überkonfessionelle Ausrichtung des Bandes, die sich auch im Inhalt widerspiegelt. Die insgesamt stärkere Repräsentation protestantischer Akteure und Themen lässt sich zwar mit Blick auf den historischen Befund rechtfertigen. Dennoch ist es bedauerlich, dass die Namen von wichtigen katholischen Autoren wie Baader, Bolzano, Klee oder Staudenmaier nicht in den Index aufgenommen wurden, auch wenn sie im Buch Erwähnung finden. Patriz B. Zimmer, Aegidius Jais, Vitus Winter, Alois Gügler oder Bernard Galura kommen dagegen gar nicht vor. Der Einfluss Sailers und seiner zahllosen Schüler wird in einigen Beiträgen angesprochen, hätte aber eingehendere Würdigung verdient gehabt. Einen vollwertigen Ersatz für die vor 50 Jahren von Heinrich Fries und Georg Schwaiger herausgegebenen, prosopographisch ausgerichteten Bände über „Katholische Theologen Deutschlands im 19. Jahrhundert“ bietet das neue Sammelwerk also nicht.

Die Entscheidung der Herausgeber für Artikel, die sich meist nicht auf Personen, sondern auf Sachaspekte konzentrieren, bringt einige Vorteile mit sich. Die systematischen Schwerpunkte der theologischen Debatten können so in vergleichenden Querschnitten und Synthesen gut herausgearbeitet werden. Die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts ist neben der Auseinandersetzung mit dem Kantʼschen Kritizismus und den großen Entwürfen des deutschen Idealismus in Rationalismus und Romantik, Supranaturalismus und erneuerter Orthodoxie geprägt durch unterschiedliche Stellungnahmen zu den Aufbrüchen historisch-kritischen Denkens in Exegese und Dogmengeschichte. Protestantische und katholische Theologen arbeiteten, wie die Herausgeber richtig bemerken, „die meiste Zeit in ihren eigenen Silos“ (S. 3), was dem Bemühen um ökumenische Zusammenschau Grenzen setzt. In der Reaktion auf die gemeinsamen Herausforderungen, die sich der Theologie des frühen 19. Jahrhunderts stellten, bleibt die jeweilige konfessionelle Prägung klar erkennbar.

Neben theologiegeschichtlichen Kapiteln bieten die einzelnen Sektionen des Bandes historische Einführungen in den jeweils behandelten Zeitabschnitt. Konfessions-, institutions- und kunstgeschichtliche, religions- und kirchenpolitische Entwicklungen finden explizite Berücksichtigung. Diese Erweiterung der theologischen Binnenperspektive wird der Publikation auch in benachbarten Disziplinen Aufmerksamkeit verschaffen. Nicht erwarten darf man von einem Kompendium der vorliegenden Art erschöpfende Literaturüberblicke. Die in den Texten berücksichtigen Arbeiten sowie die beigegebenen Lektüreempfehlungen können die Forschungssituation nur bereichsweise ausleuchten.

Im Rahmen einer knappen Rezension ist die Würdigung aller Einzelbeiträge nicht möglich. Hingewiesen sei nur auf wenige Kapitel, die Themen der katholischen Theologie betreffen. Ein gelungenes Beispiel für die Verknüpfung von historischen und theologischen Aspekten bietet Rainald Beckers Text zur Rolle der katholischen Orden (S. 276-294). Sie erlebten im 19. Jahrhundert nach dem dramatischen Einschnitt der Revolutions- und Säkularisationsjahre und der ideologischen Ablehnung durch radikale Aufklärer eine Renaissance und trugen wesentlich zur institutionellen und spirituellen Erneuerung des Katholizismus bei. Obwohl der (auch für die Entstehung der Neuscholastik maßgebliche) Rekurs auf das mittelalterliche Erbe eine wichtige Rolle spielte, ist nach Becker der keineswegs nur restaurative Charakter des Einflusses der Orden anzuerkennen (S. 284), der sich nicht zuletzt in neuen Formen des caritativ-sozialen Engagements ausdrückte.– Grant Kaplan erinnert zu Beginn seines Beitrags über die Tübinger Schule des 19. Jahrhunderts (S. 422-438) zunächst an die in der jüngeren Debatte nicht zu Unrecht erhobenen Einwände gegen die Sammelbezeichnung, behält diese aber in der anschließenden Beschäftigung mit den Gründergestalten Drey und Möhler selbst bei. Leider wird Möhlers wichtige „Symbolik“ nur sehr kurz gestreift und findet das Werk Staudenmaiers nur beiläufige Erwähnung. – Bei seiner Auseinandersetzung mit Georg Hermes und Anton Günther (S. 500-518), die traditionell als Semi-Rationalisten klassifiziert worden sind, geht Justin Shaun Coyle von der These aus, dass die Theologen eigentlich ganz andere Ziele verfolgten. Den hermesianischen Zweifel versteht er gegen die neuscholastischen Interpretationen als Verabschiedung theoretischer Begründungsansprüche im Licht der Fichteʼschen Philosophie zugunsten einer „Entschiedenheit des Glaubens“ (S. 508). Bei Günther hebt er den Kampf gegen jede Art des Pantheismus hervor, den der Wiener Theologe nicht nur bei Schelling oder Hegel, sondern (in gemäßigter Form) sogar in der katholischen Scholastik entdeckte und gegen den er den cartesischen Dualismus in einer neuen Variante (Natur vs. Geist) in Stellung brachte. Etwas stärker hätte man hervorheben können, dass die zeitgenössische Kritik an Hermes und Günther keineswegs nur aus der aufstrebenden Neuscholastik kam. Ob die Verhältnisbestimmung von Glaube und Vernunft, wie sie die beiden Theologen vorgelegt haben, in systematischer Hinsicht überzeugen konnte bzw. kann, wäre eigens zu diskutieren. Den Beitrag stören kleinere Fehler (S. 501: Fleithmann statt Fliethmann; S. 509, 517: Giessel statt Geissel; S. 502: Clemens August [zu Droste-Vischering] war nicht Erzbischof von Münster, sondern von Köln; S. 502: Die beiden „Einleitungen“ von Hermes sollte man nicht als erste Bände seiner „Dogmatik“ bezeichnen, da der Verfasser die Titel deutlich unterscheidet). – William Madges analysiert frühe Stellungnahmen aus dem römisch-katholischen Bereich zur modernen Bibelkritik, namentlich zu den 1835/36 erschienenen Leben Jesu-Büchern von David Friedrich Strauss (S. 699-715). Am Beispiel der Exegeten Johann Leonhard Hug, Martin Joseph Mack und Johannes Evangelist Kuhn (später vor allem als Dogmatiker bekannt) wird gezeigt, dass es auch unter Katholiken Offenheit für die neuen Methoden wissenschaftlicher Bibellektüre gab. Sie verband sich aber mit der Korrektur von Einseitigkeiten der Anwendung sowie der Ablehnung bestimmter weltanschaulicher Prämissen, die der Strauss’schen Radikalkritik zugrunde lagen (hegelianische Division von Vorstellung und Begriff, prinzipielle Ablehnung von Wundern). Derart differenzierte Auseinandersetzungen mit historisch-kritischer Exegese blieben im Katholizismus des 19. Jahrhunderts Ausnahmen.

Man darf den Herausgebern zum gelungenen ersten Band ihres Projekts gratulieren und die ausstehenden Teile mit Vorfreude erwarten.