Aktuelle Rezensionen
Ansgar Lauterbach
Liberales Denken – der Kampf um Deutungshoheit. Nationalliberaler Politikstil im frühen Bismarckreich
(Historische Forschungen 124), Berlin 2024, Duncker & Humblot, 299 Seiten
Rezensiert von Christoph Goldt
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 12.05.2025
Die von Ansgar Lauterbach vorgelegte Studie sei hier betrachtet als das, was sie ist: eine eigenständige Monographie. Warum diese merkwürdig anmutende einführende Feststellung, die an sich eine Selbstverständlichkeit ist? Bereits im Jahr 2000 hatte der Autor seine Dissertation unter dem Titel „Im Vorhof der Macht. Die nationalliberale Reichstagsfraktion in der Reichsgründungszeit (1866-1880)“ vorgelegt und damit einen wesentlichen Aspekt der Parteien- und Parlamentarismusgeschichte aus der Anfangszeit des Kaiserreiches behandelt. Mit der nun nach 24 Jahren publizierten Arbeit hat er mitnichten sein damaliges Thema im Sinne eines schlichten „Neuaufgusses“ mit anderen Worten nur neu behandelt, sondern vor allem zeitlich fokussierter und mit einer wahrlich umfassenden Quellen- und Literaturbearbeitung akribisch betrachtet und diskutiert.
Die Geschichte der Nationalliberalen ist weitgehend bekannt, insofern waren von der neuen Studie Lauterbachs sicherlich keine Sensationen zu erwarten. Allerdings besticht die Arbeit durch eine feine Sensibilität in der Beschreibung der Vorgänge in unterschiedlichen politischen Themenfeldern und der handelnden Personen, die den Leser auf insgesamt 299 Seiten (inkl. Literaturverzeichnis) auch sprachlich sehr anspricht und in den Bann zieht. Soviel zu den Formalitäten.
Als eigenständige Untersuchung nationalliberalen Denkens und parteipolitischer Strategien beschreibt der Autor nicht nur die Bedeutung der Nationalliberalen als eine den neuen deutschen Nationalstaat seit 1871 sicherlich politisch formende und prägende Kraft bis zu ihrer Spaltung am Ende der 1870er Jahre. Und vor allem beschreibt der Autor das Dilemma zwischen parteipolitischer Strategie und innerparteilicher Disziplin einerseits und den herausfordernden Aspekten einer unter Bismarck als Reichskanzler agierenden Reichsregierung einer konstitutionellen Monarchie und ihres strukturellen Werdens auf Reichsebene. Das Entstehen des neuen Reiches war eben nicht mit der Ausrufung in Versailles bereits finalisiert, sondern ein Prozess, dessen Protagonisten im Reich, den Ländern und im Gefüge der Honoratioren- bzw. Klientel-Parteien unterschiedliche Interessen verfolgten. Der bisherige (Nord-)Deutsche Bund – der formal nur zwischen den einzelnen deutschen Fürsten geschlossen war – stellte einen unzureichenden Unterbau für eine moderne Staatsentwicklung dar. Und genau an dieser Stelle setzten die Nationalliberalen bekanntermaßen an: In Folge des Paradigmas bzw. des Paradigmenwechsels in der Staatsrechtslehre durch Paul Laband versuchten sie, im formalen Gefüge des Konstitutionalismus durch Veränderungen im materiellen Reichsrecht das Reich auf den Weg einer sich stetig entwickelnden, sozusagen „stillen“ Parlamentarisierung zu bringen, ohne direkt in die Verfassung eingreifen zu müssen und es damit zu einem offenen Verfassungskonflikt kommen zu lassen (S. 23-25).
Dass die Partei, die sich zu einer faktischen „Regierungspartei“ mit dem hehren Anspruch stilisierte, die einzige politische Kraft zur Schaffung einer (inneren) Reichseinigung mit einer begleitenden Parlamentarisierung über den Umweg der materiellen Rechtssetzung zu sein, aber letztlich scheiterte, lag nicht nur im Gesamtgefüge der Bismarckʼschen Politik begründet. Auch die Spaltung des Liberalismus im Parteienspektrum und letztlich die Vielstimmigkeit innerhalb der Nationalliberalen Partei und Fraktion selbst waren mitursächlich. Die Vernachlässigung lokaler und regionaler Parteistrukturen (S. 27-37) trug ebenso ihr Übriges dazu bei wie die Tatsache, dass es in den Vereinen vor Ort wenig Interesse an der „großen Politik“ einer Parlamentarisierung des Reiches gab – hier waren andere Themen wichtiger. Insbesondere Lauterbachs späterer Blick auf die Kommunen (S. 100-115) sei hier hervorgehoben. Mit anderen Worten: Womit sollten die Nationalliberalen, die nach der Reichsgründung 1871 letztlich auch auf der Sinnsuche nicht nur nach einem mitreißenden Programm und damit nach einem einigendem Sprachcode waren, nun Mehrheiten generieren? Dass der Kulturkampf eines der politischen Pferde sein würde, auf das man setzen könne, zeigte sich schnell, selbst wenn man sich damit ein nicht unbeträchtliches Wählerpotential vergraulte: „Der Liberalismus war auch die Speerspitze gegen Klerikalismus und fremdbestimmte, organisierte Religiosität. […] Der Liberalismus war Geisteshaltung und Lifestyle.“ (S. 46) Und weiter: „Umso explorierter entwickelte sich hingegen auf allen Ebenen liberaler Politik der 'Kulturkampf', der von manchen Liberalen 'gar zur politischen Vollendung der Reformation stilisiert' wurde.“ (S. 47)
Die Frage nach einer Selbstreflexion über den Kern nationalliberaler Politik insbesondere in der Gründerzeit des Deutschen Reiches zeigte, dass man doch mehr oder weniger opportunistisch agierte, um das Ziel einer schleichenden Parlamentarisierung zu erreichen. Da musste nicht nur der stramme liberale Antikatholizismus und Hass auf den Ultramontanismus im Sinne Bismarcks herhalten, sondern es waren auch die außenwirtschaftlichen Auseinandersetzungen um die Zollpolitik und die Reichsfinanzen ebenso wie die Eisenbahnpolitik, die zeigten, dass der (National-)Liberalismus nicht nur nicht mit einer Stimme sprach, sondern schlicht nach einem Identifikationsmerkmal, nach einem inhaltlichen Nukleus suchte, um die eigene politische Existenz über die Reichsgründung hinaus zu rechtfertigen: „Die unablässigen Bemühungen der Vertreter der Parteilinken, über das materielle Verfassungsrecht weiterhin substantielle Reformen im politischen Regierungssystem herbeizuführen, fanden längst nicht mehr den uneingeschränkten Rückhalt aller Fraktionsmitglieder. […] Zu groß war die Gefahr in den Augen der Vertreter des konservativen Flügels, bei sturer Weiterverfolgung der Reformziele in scharfem Gegensatz zu Bismarck treten zu müssen und von diesem oder den Wählern abgestraft zu werden, zumal auch Lasker ganz tief im Innern ahnte, dass die Auseinandersetzung mit Bismarck um die Einführung des parlamentarischen Systems nur dann zum Erfolg führen könne, wenn der Liberalismus als Ganzes – also Fortschritt und Nationalliberale umfassend – wieder geeint sein würde.“ (S. 158 f.)
Allein ein sporadischer Blick auf die Wahlergebnisse zeigt deutlich, dass es insbesondere nach der zweiten Hälfte der 1870er Jahre nicht mehr gelang, den eigenen Ansprüchen und damit sprachlichen Codes gerecht zu werden: Während die Nationalliberalen bei den Reichstagswahlen 1871 noch einen Stimmenanteil von 30,1 Prozent (Liberale 7,2; Fortschrittspartei 8,8), waren es 1878 23,1 Prozent (Liberale 2,7; Fortschrittspartei 6,7), 1884 17,6 Prozent (Fortschritt 17,6), 1893 nur noch 13 Prozent (Fortschritt 8,7) – während die Sozialdemokraten von 3,2 1871 auf 23 Prozent im Jahr 1893 hochschossen – 1912 gar 34 Prozent erreichten, Konservative und Zentrum mehr oder weniger stabil zwischen ca. 13 und 19 Prozent stagnierten (Daten entnommen Gerhard A. Ritter (unter Mitarbeit von Merith Niehuss), Wahlgeschichtliches Arbeitsbuch. Materialien zur Statistik des Kaiserreichs 1871-1918, München 1980, S. 38-42). Dies bestätigt Lauterbach, wenn er resümierend feststellt, dass die Nationalliberalen ihren Markenkern seit 1877 verloren hatten und die politischen Ziele im Grunde genommen austauschbar waren (S. 219). In ein heutiges „PR- und Marketing-Deutsch“ übersetzt heißt das: Sie haben schlicht ihr inhaltliches parteipolitisches Profil und das eines erfolgreichen politischen Gestalters verloren und sich in den Augen der Wählerschaft – auch hinsichtlich der von dieser erwarteten Lösungskompetenz für politische und gesellschaftliche Herausforderungen – zwar nicht an den Rand der Bedeutungslosigkeit begeben, jedoch erreichte ihr politischer Code bzw. Sprachstil den Großteil der Wahlbevölkerung nicht mehr.
Das Buch von Ansgar Lauterbach ist eine außerordentlich gut gelungene, auf breiter Quellen- und Literaturlage basierende Darstellung, deren Lektüre empfohlen wird.