Aktuelle Rezensionen
Holger Th. Gräf/Alexander Jendorff (Hg.)
Handbuch der hessischen Geschichte, Bd. 6: Die Landgrafschaften ca. 1100-1803/06
(Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 63), Marburg 2022, Elwert, IX, 508 Seiten
Rezensiert von Gabriele Greindl
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 26.05.2025
Schon äußerlich vermittelt der Band den Eindruck eines modernen Handbuches: Mit etwas über 500 Seiten in zweckmäßigem Format leicht transportierbar und wie gewohnt von den Veröffentlichungen der Historischen Kommission von Hessen in sorgfältiger Gestaltung und in das für die Reihe typische grüne Leinen gebunden, zeigt das vorliegende Werk die Einhaltung des althergebrachten, hohen wissenschaftlichen Anspruchs in Verbindung mit neuen, modernen Ansätzen. Das hatten die Herausgeber beabsichtigt, wie sie in ihrer Einführung (S. 1-13) formulieren, sie haben einen „radikalen Neuanfang, eine Neuakzentuierung nicht nur der Einzelbeiträge, sondern auch der Gesamtkonzeption“ (S. 2) gewagt. Dabei wurden die bereits zum Teil seit längerem vorliegenden Manuskripte dem heutigen Forschungsstand entsprechend überarbeitet und „aus dem traditionell orientierten landesgeschichtlichen Ansatz“ (ebd.) gelöst. Dies verbindet sich nun – bei gleichzeitiger Konzentration auf die im hessischen Raum agierenden Personen und Personengruppen – mit einem epochenübergreifenden Ansatz, der Mittelalter und Frühe Neuzeit sachlogisch-stringent miteinander verknüpft. Man wandte sich vom vorherrschenden institutionen- und staatengeschichtlichen Zugriff auf die Geschichte des Territoriums ab, ohne aber gänzlich „auf die Markierungen von qualitativen Wandlungen, Zäsuren oder Epochenschwellen zu verzichten“ (ebd.). Explizit betonen die Herausgeber Gräf und Jendorff, dass der Gegenstand des vorliegenden Bandes, die vormoderne Geschichte der so oft zersplitterten und in religiöse und erbrechtliche Auseinandersetzungen verwickelten vier hessischen Regionen, wie sie im Handbuch Inken Schmidt-Voges ausführlich erläutert (S. 191-235), „nicht als bloßes Präludium des 19. und 20. Jahrhunderts, sondern im Rahmen der europäischen Entwicklung mit eigenständigen Akteuren und Maßstäben begriffen werden muss“ (S. 2). Zusammen mit der sehr ausführlichen und quellenreichen Untersuchung zum hessischen Adel des 18. Jahrhunderts von Dieter Wunder (Der Adel im Hessen des 18. Jahrhunderts – Herrenstand und Fürstendienst. Grundlagen einer Sozialgeschichte des Adels in Hessen, hg. von der Historischen Kommission für Hessen, Marburg 2016) lässt sich die Geschichte Hessens von 1100 bis 1800 gut nachvollziehen.
Nun liegt ein hervorragendes, modernes, knapp gefasstes Handbuch vor, das auf jedem Schreibtisch eines Forschers oder Studenten stehen sollte, denn neben der Handlichkeit besticht es durch profunde, von ausgewiesenen Kennern der Materie verfasste Darstellungen, die mit ca. 100 Seiten jeweils als eigene unabhängige Abhandlungen mit eigener Gliederung und separatem Literaturanhang verfasst sind – und selbstverständlich mit einem Fußnotenapparat dem Leser eine weitere Handreichung bieten. Diese Symbiose von herkömmlichem und modernem Handbuch macht den vorliegenden Band über die Landgrafschaften in Hessen zu einem Prototyp, der vorbildhaft ist. Hier darf sicher auf den neuen, 2017 erschienenen Band I/I des Handbuches der Bayerischen Geschichte, hg. von Alois Schmid, hingewiesen werden – auch dies ein Schritt in die gleiche Richtung.
Im anzuzeigenden Band 6 des Handbuchs der hessischen Geschichte über die Landgrafschaften in Hessen, beginnend mit Abkürzungs- und Siglenverzeichnis sowie der Einführung, diese ebenfalls schon ergänzt durch ein eigenes Literaturverzeichnis, erläutert zunächst Stefan Tebruck auf knapp hundert Seiten die „Entstehung der Landgrafschaft Hessen (1122-1308)“ (S. 15-91). Der Aufstieg Hessens war im 12. Jahrhundert bedingt durch die massiven Besitzerwerbungen des thüringischen Herrschergeschlechts der Ludowinger zu Landgrafen von Thüringen und Reichsfürsten – zu comes Thuringie, comes provincie und prinzeps Thuringorum (S. 29), wie es in Quellen seit der Mitte des 12. Jahrhunderts heißt. Immer enger verbunden mit den Grafengeschlechtern im Westen, so etwa den Grafen von Henneberg, und durch entsprechende eheliche Verbindungen konnten sie bis etwa 1240 ihre Position in Hessen durch Stadtgründungen und den Ausbau von Burgen, getragen von einem Netz an Ministerialen, stetig ausweiten (S.37). Als Heinrich der Löwe 1180 abgesetzt wurde, „gehörten die Ludowinger zu den ranghohen Profiteuren der nun einsetzenden politischen Verschiebungen im nord- und mitteldeutschen Raum“ (ebd.). Im staufisch-welfischen Thronstreit versuchte sich Graf Ludwig IV. möglichst neutral verhalten, um sein Land zu schützen. Er starb jung schon 1227 und hinterließ einen unmündigen Sohn sowie seine Gattin Elisabeth, die ungarische Königstochter und kanonisierte Hl. Elisabeth von Thüringen (S. 43 ff.). Die Ludowinger in Hessen machten die Stadt Marburg zum Zentrum ihres Herrschaftsgebietes, das regiert von Seitenlinien, immer mehr an das Gebiet der Welfen wie der Mainzer und Paderborner Bischöfe heranrückte und so zu einer der wichtigsten Mächte in der Mitte des Reiches wurde.
Die folgende Epoche machte sich Otfried Krafft zum Gegenstand seiner Betrachtung und widmet sich dem 14. Jahrhundert unter dem Titel „Zwischen Krisen und Konsolidierung. Die Landgrafschaft Hessen von 1308 bis 1413“ (S. 93-139), einem schwer zu fassenden Zeitraum. Krafft zog neben den Quellen frühe Landeschroniken und Fragmente von Aufzeichnungen heran – so die Hessische Landeschronik des Wigand Gerstenberg von Frankenberg, der ab 1493 seine Landeschronik verfasste, und sich seinerseits auf die von Johann Riedesel bezog, der sich selbst auf einen hessischen Geistlichen stützte, den Papst Johannes XXII., der große Gegner von Kaiser Ludwig dem Bayern, besonders begünstigt hatte. Krafft beginnt mit der Teilung der Landgrafschaft 1308, verfolgt die Entwicklung über Landgraf Otto I., der in Kassel residierte, und Landgraf Heinrich II. „den Eisernen“ bis in die Mitte des 14. Jahrhunderts, zur gemeinsamen Herrschaft von Otto II. und Hermann II. und schließlich der Alleinherrschaft Hermanns II., der mit sehr geschickten äußeren Bündnissen und bedeutenden auswärtigen Partnern an Herzog Albrecht IV. in Bayern erinnert. Hermann II. konnte das große, konsolidierte und mächtige Hessen ungeschmälert an Landgraf Ludwig I. übertragen und seine Töchter mit unterschiedlichen Welfenlinien verheiraten. Dadurch wurde das Land in der Mitte des Reiches, direkt angrenzend und verbunden mit dem Welfenhaus im Norden und den großen kirchlichen Zentren im Westen, zu einer der großen Territorialmächte, deren weiteren Aufstieg nichts im Weg zu stehen schien.
Allerdings entwickelte sich das Territorium anders, „Teilung, Bruderkrieg und Adelsmacht (1458-1471)“ widmet sich Reimer Stobbe im seinem Kapitel „Die Landgrafschaft Hessen am Übergang zur Neuzeit: Das 15. Jahrhundert“ (S.141-189). Stobbe stellt die Verwicklungen, die einerseits zur Schwächung des großen hessischen Machtblocks, andererseits in den kleineren Einheiten zur Ausbildung einer frühmodernen Staatlichkeit führten, gründlich dar. Nach dem Aufstieg Hessens zur regionalen Mittelmacht war es infolge der Religionsauseinandersetzungen innerhalb der Herrscherfamilie und der mit ihnen verbundenen Adelshäuser zu Teilung und Bruderkrieg (1458-1471) gekommen. Aus der Krise entstanden aber „Wachstum und neue Dimensionen der Politik (1471-1509)“, was die Ausbildung einer funktionierenden Verwaltung der Landgrafschaft und damit die Anfänge frühmoderner Staatlichkeit bedeutet.
Mit Inken Schmidt-Vogesʼ Beitrag „Transformation und politische Verdichtung (1509-1567)“ (S. 191-235) folgt man dem profunden Handbuch nun in die turbulente Frühe Neuzeit, zu der Konsolidierung und dem Ausbau von Herrschaft im Reich und in den Territorien, den aufgeworfenen und auf Reichstagen immer wieder zur Debatte gestellten verfassungsrechtlichen, staats- und religionspolitischen Problemen, Fragen und Lösungsmöglichkeiten, dem Durchgreifen von einzelnen Herrschern oder – wie in Bayern – dem von vier Generationen der Wittelsbacher konsequent verfolgten Ziel einer einheitlichen Staatlichkeit, eingebettet in eine flächendeckend gültige Religionszugehörigkeit. Moderne Polizeiordnungen, ein frühneuzeitliches Schulwesen, der Ausbau der Kranken- und Armenfürsorge und der Aufbau eines modernen Militärs mit entsprechender Infrastruktur führten auch in Hessen zu einer immer moderneren und konsequenteren Staatlichkeit. Diese wurde durch die entsprechende Dynastiepolitik und genaue Nachfolgeregelungen in der Mitte des 16. Jahrhunderts gesichert. Grundlegend veränderte sich die Situation 1567, als die fast 50-jährige, sehr erfolgreiche Regierungszeit des Landgrafen Philipp des Großmütigen endete und er, noch in der Vorstellung gefestigt, dass der Staat supraterritorial ist und eine Struktur sui generis darstellt, also unabhängig vom Land zu begreifen ist, das Territorium unter seinen Erben aufteilen konnte. Hier sei zum Vergleich wieder auf Bayern verwiesen, wo die Primogeniturordnung von Herzog Albrecht IV. gegen familiäre Widerstände 1506 erlassen worden war, die dem Land für drei Jahrhunderte die Einheitlichkeit und Unteilbarkeit sicherte.
Günter Hollenberg legt die hessische Entwicklung in der Ära nach dem Tod des Landgrafen Philipp bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges in seinem großen Beitrag „Die Landgrafschaft Hessen-Kassel (1567-1648)“ (S. 238-305) ausgewogen und vielschichtig dar. Die Karten 2 bis 4 im Anhang illustrieren die nach 1567 entstandenen hessischen Teilterritorien von Hessen-Marburg, Hessen-Darmstadt und Hessen-Kassel in ihren damaligen Grenzen. Eine wesentliche Rolle spielen in dieser Phase der politischen Entwicklung die hessischen Landstände, die die Landesteilungen verhindern wollten. Andererseits aber zwangen die Religionsauseinandersetzungen innerhalb der Herrscherfamilie im 16. Jahrhundert ebenso wie der Beginn des Dreißigjährigen Krieges 1618 zu einer anderen Politik. Die bestimmende, dominante Figur in dieser Phase bis zum Abschluss des Westfälischen Friedens wurde die Landgräfin von Hessen-Kassel, Amalie Elisabeth, eine der wirkmächtigsten Fürstinnen in der ersten Hälfte des 17. Jahrhundert. Sie nutzte seit 1637 als 35-jährige Witwe des früh verstorbenen protestantischen Landgrafen Wilhelm alle Rechte und politischen Möglichkeiten geschickt zugunsten ihres achtjährigen Sohnes Wilhelm (später VI.). Graf Melander, ihr Oberbefehlshaber und Organisator eines kleinen, kampferprobten Heeres, ihres wichtigsten Machtinstruments, war dem Kaiser sogar das Angebot eines eigenen Herzogtums (Jülich) sowie eine hohe jährliche Zahlung wert, falls er in Zukunft nur den Kaiser unterstützen und die Dienste bei der Landgräfin kündigen würde (S. 288). Weder dies noch der sog. Gehorsamsbrief von 1637 zeitigten Folgen – Kriegsglück, Loyalität der wichtigsten Akteure, Doppelgleisigkeit der Verhandlungen Hessen- Kassels mit Frankreich und dem Kaiser, der „Hessenkrieg“ in Westfalen und am Oberrhein, familieninterner Streit zwischen der Landgräfin und Landgraf Georg, der auch auf dem Westfälischen Friedenskongress noch die Gemüter in Atem hielt, endeten schließlich mit dem für Kassel günstigen Friedensvertrag vom April 1648 (S. 296 f.). Amalie Elisabeth hatte so Hessen-Kassel, das offiziell bikonfessionell wurde, als armiertem Reichsstand eine eigenständige Politik bewahren können. Das kleinere Hessen-Darmstadt, offiziell lutherisches Territorium, und Hessen-Kassel verwalteten nun wieder gemeinsam die Landesuniversität in Marburg, sie „hielten die Gesellschaftsordnung und das Herrschaftssystem stabil und bewahrten die Rechtskontinuität“ (S. 302).
Diesem grundlegenden Beitrag Hollenbergs folgen die zentralen Ausführungen von Christoph Kampmann „Die Landgrafschaft Hessen-Kassel (1648-1806)“ (S. 309-364) zur weiteren Entwicklung dieses zentralen Territoriums inmitten der Ländermasse des Alten Reiches. Dabei verdeutlicht er in gewohnt profunder Darstellung die Friedensschlüsse nach 1648, deren wichtigstes Ergebnis der langfristige Fortbestand von Hessen-Kassel unter der wilhelminischen Linie (S. 309) mit reichsrechtlicher Anerkennung der „religio licita“ der reformierten Konfession für Hessen-Kassel, als dritte offizielle Konfession im Westfälischen Friedensvertrag anerkannt, war. Damit waren die familieninternen Religionsauseinandersetzungen, die einzelne hessische Teilterritorien in markanten Gegensatz zum Kaiserhaus gebracht hatten, soweit entschärft, dass man darangehen konnte, die Kriegsfolgen zu bewältigen. „Der Abschluss der hessen-kasselischen Territorialstaatsbildung (1649/1670)“ (S. 313-320) war so solide, dass die Landgrafen von Hessen-Kassel in die europäische Spitzenaristokratie aufstiegen, was die Eheschließung der Prinzessin Charlotte Amalie mit dem Kronprinzen Christian von Dänemark ermöglichte.
Ihr Bruder, Landgraf Carl (1677-1730), einer der am längsten regierenden Reichsfürsten zwischen 1648 und 1806, prägte die Geschicke von Hessen-Kassel so nachhaltig, dass man immer noch vom „Zeitalter Carls“ spricht. Sein zentrales Anliegen war der Aufbau einer starken, eigenen Militärmacht, um die Unabhängigkeit seines Territoriums zu sichern, fremden Einquartierungen (z.B. von Brandenburg) zu entgehen, auch den desaströsen Durchmärschen großer Heere der europäischen Zentralmächte. Die Aufrüstung, die sein Land an die „Grenze der wirtschaftlichen und demographischen Leistungsfähigkeit“ (S. 323) gebracht hatte, kombinierte er geschickt mit einer Neuorientierung der Allianzen und dynastischen Verbindungen mit seinen Nachbarn, wobei er mehrmals seine Truppen an andere europäische Mächte in den vielen Kriegen des 18. Jahrhunderts vermietete (siehe dazu Tabelle, S. 326). Landgraf Carl, als Idealtyp des tatkräftigen barocken Fürsten geltend, bot den aus Frankreich geflohenen Hugenotten Arbeit und Heimat, führte nach dem Dreißigjährigen Krieg eine bewusste Peuplierungspolitik zum Erfolg und schuf sich mit seinen Bau- und Infrastrukturmaßnahmen, den Kanälen, Residenzen und der geplanten Modellstadt Carlshafen und den ersten Manufakturbetrieben zur weiteren Förderung der Wirtschaft eine hohe Reputation und Anerkennung in ganz Europa. Jahrzehntelang Schlüsselfigur seines Landes, hinterließ sein Tod 1730 eine große Lücke, die ab 1740 zu massiven Erschütterungen des Militärstaates, der Entfremdung vom Kaiserhaus unter Maria Theresia, der zunehmenden Abhängigkeit von England und schließlich der Katastrophe im Siebenjährigen Krieg führte, als Hessen-Kassel mit der Besetzung 1757 durch starke französische Truppenkontingente zu einem der meist umkämpften Gebiete des Reiches wurde.
Die reformabsolutistischen Maßnahmen, die unter den Landgrafen Friedrich II. (1760-1785) und Wilhelm IX. (1785-1806) folgten, dienten der Wiederaufrichtung der wirtschaftlichen Grundlagen, führten aber auch zum Verkauf hessischer Soldaten in die späteren USA, um an der Seite der Briten gegen die aufständischen Siedler zu kämpfen. Die Französische Revolution und die napoleonische Hegemonie änderten die Landkarte Europas grundlegend, so auch in Hessen-Kassel, das 1807 dem neuen Königreich Westphalen angegliedert wurde.
Im abschließenden Beitrag dieses bemerkenswerten Handbuches zeichnet Jürgen Rainer Wolf die Geschichte und Entwicklungen in den „Landgrafschaften Hessen-Darmstadt und Hessen-Homburg (1567-1803/06)“ (S. 366-470) ebenso kenntnisreich wie interessant nach. Bei der Erbteilung nach dem Tod Landgraf Philipps 1567 hatte der jüngste Sohn, der gerade 20-jährige Georg I., mit der Obergrafschaft Katzenelnbogen, die zwar nur ein Achtel des hessischen Territoriums, aber mit Darmstadt, Weiterstadt, Nieder- und Ober-Ramstadt, Groß-Bieberau, Rüsselsheim und vielen wichtigen Orten mehr (S. 366) auch die Grafschaften Löwenstein und Erbach umfasste, sowie dem mit Kurmainz gemeinschaftlichen Bischofsheim und dem mit Württemberg gemeinschaftlichen Kürnbach ein zentrales inneres Territorialstück aus dem Erbe seines Vaters erhalten. Langsam konnte unter dem jungen Landesherrn ein neues Machtzentrum in Darmstadt entstehen. Gegenüber dem heimischen Adel konnte Georg I. – wie fast überall im Reich – mit juristischen und militärischen Mitteln seine Position erfolgreich ausbauen. In seinem Sinne beigelegte Konflikte mit Kurpfalz, die Auseinandersetzung um die Geleitrechte von Frankfurt und die Verlegung der Bergstraßentrasse führten schon 1575 zum Ausgleich der Parteien, was Georgs Stellung im Reich und innerhalb der Familie massiv stärkte. Als sparsamer Fürst konnte er zudem bald seine Nachbarn, die Herzöge von Württemberg, die Grafen von Hanau und von Leiningen, schließlich sogar Friedrich IV. von der Pfalz zu seinen Schuldnern machen. Für ihn waren nun die Mittel vorhanden, regulierend in die heimischen Märkte einzugreifen, um die Wirtschaft anzukurbeln. Neue Handwerks- und Zunftordnungen wurden durchgesetzt, um die Ausgestaltung einer eigenen Landgrafschaft Hessen-Darmstadt zu ermöglichen, die bis 1806 Bestand hatte. Kirchenpolitische Differenzen forcierten diesen Prozess der Eigenständigkeit, was schließlich 1607 zur eigenen lutherischen, hessen-darmstädtischen Landesuniversität in Gießen führte. Eine Vielzahl von Ämtern und Märkten (S. 374 f.) wurden in die neue Landgrafschaft eingegliedert, was dieser immer mehr Gewicht gab.
Davon unabhängig hatten aber diverse Todesfälle in der Familie, Erbregelungen und Eheschließungen zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges 1622 zur Verselbständigung des alten Amtes Homburg und seiner Umgebung geführt, die dann, nach dem Sieg der katholischen Partei 1618 am Weißen Berg und dem Sturz des Winterkönigs, zur eigenständigen, kleinen Landgrafschaft Hessen-Homburg erhoben wurde. Unter dem für Friedrich V. von der Pfalz kämpfenden Grafen Mansfeld kam es in der Landgrafschaft zu einer großen Welle der Gewalt. Nach Tillys Sieg über Herzog Christian von Braunschweig wurde der diplomatisch geschickte Landgraf mit einer großen Zahl von Ämtern und Besitzungen des „tollen Halberstädter“ entschädigt (S. 77 f.). Kurz vor der letzten großen Schlacht des Dreißigjährigen Krieges in Hessen zwischen Generalfeldmarschall Lamboy und dem hessen-kasselischen General Geyso im Juni 1648 hatten die verschiedenen hessischen Linien alle internen Auseinandersetzungen vertraglich beendet. Unter Vermittlung von Sachsen-Gotha wurde der Vertrag 1649 ratifiziert und der lutherische Glaube in ganz Oberhessen war damit gesichert. Mit den endgültigen Friedensverträgen in Münster und Osnabrück war auch in Hessen-Homburg die Nachkriegszeit angebrochen. Komplizierte innerfamiliäre Erbstreitigkeiten, beträchtliche Schulden und nicht zuletzt der Spanische Erbfolgekrieg machten Hessen-Darmstadt und Hessen-Homburg im 18. Jahrhundert zum Objekt der Auseinandersetzung zwischen Habsburg und Hohenzollern (S. 420-441). Wie Hessen-Kassel nahmen Hessen-Darmstadt und Hessen-Homburg „Bis zum Ende des Alten Reiches 1790-1806“ (S. 451- 457) an der allgemeinen Entwicklung teil, die im Sommer1806 mit dem Beitritt zum Rheinbund endete.
Das Handbuch schließt im Anhang mit einem informativen Kartenteil sowie einem ausführlichen Personen- und Ortsregister ab. Es bietet nicht nur einen präzisen und tiefgehenden Überblick über 700 Jahre hessischer Geschichte, sondern umfasst immer wieder die breite europäische Entwicklung und Geschichte aus landesgeschichtlicher Perspektive. Es sei guten Gewissens empfohlen – für Studenten, Forscher und Lehrende an Schulen und Universitäten.