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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Markus C. Müller/Dieter J. Weiss (Hg.) unter Mitarbeit von Michael Hetz

Gedenken ohne Grenzen zwischen Bayern und Italien. Memorialpraxis und Heiligenverehrung in der Vormoderne

eos, St. Ottilien 2024, 496 Seiten, zahlreiche Abbildungen


Rezensiert von Jörg Zedler
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 02.07.2025

Die Befindlichkeit einer Gesellschaft hängt immer auch davon ab, was sie als ihre (gemeinsame) Geschichte begreift. Diese Vergangenheit ist natürlich nicht, sie wird durch den Akt des Erinnerns – und gleichermaßen den des Vergessens – erst konstruiert; beides kann bewusst oder unbewusst ablaufen, beides wird wesentlich von Einzelakteuren oder einflussreichen Gruppen konturiert, seltener von amorphen Massen. Aus diesem Konstrukt einer als gemeinsam verstandenen Historie wiederum erwächst (oder: kann erwachsen) eine kohäsive Kraft, die den Zusammenhalt einer Gesellschaft wesentlich beeinflusst.

Schon diese wenigen Bemerkungen lassen zahlreiche Unschärfen erkennen: Wer erinnert wann was? Zu welchem Zweck und in welcher Form geschieht dies? Welcher Erfolg ist den Absichten wie dauerhaft beschieden u.a.m. Dass dies nicht als Manko zu verstehen ist, sondern als Aufgabe zur Präzisierung des Erkenntnisinteresses wie als Chance zu einer inhaltlich-methodisch breit gefächerten Untersuchung kollektiver Erinnerungsmuster, haben seit mehr als drei Jahrzehnten zahlreiche einschlägige kulturwissenschaftliche Untersuchungen gezeigt. Der von Markus C. Müller und Dieter J. Weiß herausgegebene Band fügt dem bisher entstandenen Bild einen weiteren Mosaikstein hinzu, wenn er sich einschlägigen vormodernen Praxen in Bayern und Italien zuwendet.

Das dem Sammelband zugrundeliegende Erkenntnisinteresse spezifiziert die Frage nach der Erinnerungskultur dahingehend, dass sie die Memorialpraxis in den Mittelpunkt rückt. Dergestalt knüpft sie an Otto Gerhard Oexles Konzept der Memoria an, die nach Formen der Erinnerung genauso fragt wie nach deren gesellschaftlicher Funktion. Dabei geht es der Publikation zwar hauptsächlich (mit acht Aufsätzen) um das Verhältnis von Lebenden und Toten, daneben aber auch um Form und Funktion von Erinnerungen, in denen Heilige bzw. Christus im weiteren Sinn im Mittelpunkt der Überlegungen stehen (jeweils vier Beiträge). Gerahmt werden diese Ausführungen von einem knappen Vorwort der Herausgeber, der Einleitung von Michael Hetz und Markus C. Müller sowie einem Fazit (Mark Hengerer) und einem Aufsatz zum ersten Sabbatinenbuch des Priesterkollegs am Campo Santo (Ignacio García Lascurain Bernstorff). Der Untersuchungszeitraum des letztgenannten Beitrags (1878–1898) weist freilich bereits aus der eigentlich im Zentrum der Betrachtung stehenden Vormoderne hinaus und in das gesellschaftspolitisch anders gelagerte 19. Jahrhundert voraus. Während die Einleitung die inhaltlich-methodischen Leitplanken absteckt, nähern sich die Aufsätze selbst dem Untersuchungsobjekt dann auf ganz konkreten Ebenen an.

Bewusst offen gehalten ist der untersuchte Raum: „Ohne Grenzen“ werden sowohl verschiedene soziale wie geographische Räume untersucht. Unter letzterem werden Bayern und Italien im weiteren Sinn begriffen, deren verbindende Klammer die Herausgeber im Katholizismus sehen. Dass dabei nur ausgewählte Orte in den Blick rücken können, liegt auf der Hand; in Bezug auf Bayern werden auch Territorien einbezogen, die erst im 19. Jahrhundert bayerisch wurden oder die ganz allgemein in Süddeutschland lagen. Evangelische und jüdische Memorialpraxis wurde mit Blick auf die Ausgangsüberlegung ausgeklammert. Gemeinsam mit der zeitlichen Spanne und dem interdisziplinären Anspruch entsteht ein breites Panoptikum der Memorialpraxis. Ob dergestalt zeitliche und inhaltliche Kontinuitäten des Erinnerns und dahinterstehende gesellschaftliche Verständigungsprozesse, gar eine Typologie der Memorialkultur erkennbar werden (S. 9, 16, 22–24), mag dahingestellt bleiben; sehr wohl aber erlaubt diese Konzeption Einblicke in verschiedene inhaltliche und methodische Zugänge. Zugleich verweist sie auf die erhebliche thematische Bandbreite, die bei der Erforschung entsprechend sinnstiftender Verständigungsprozesse zu beachten ist.

Die Spannweite der Beiträge reicht vom Frühmittelalter bis ins ausgehende 18. Jahrhundert, umfasst historische Betrachtungen genauso wie kunst-, musik- oder kirchengeschichtliche. Der Memorialpraxis verschiedener Häuser bzw. dem dialektischen Verhältnis der Erinnerung an Einzelne und ihre Dynastien wird an konkreten Beispielen (etwa bei Michael Hetz zu den Andechs-Meraniern oder bei Britta Kägler zu den Wittelsbachern) nachgegangen. Ebenso werden grundsätzliche Fragen zur Memoria verhandelt und konkrete Räume, Kunstwerke sowie musikalische Formen analysiert: Die Beiträge zu den Voraussetzungen kirchlicher Begräbnisse (Philipp T. Wollmann), geistigen Pilgerreisen (Julia Burkhardt), dem Bamberger Dom (Dieter J. Weiß), dem Zusammenhang von italienischem Musik(er)transfer und klösterlicher Memorialkultur (Barbara Eichner) oder zum Loretokult (Frank Matthias Kammel) seien hier lediglich pars pro toto angeführt.

Welche Möglichkeiten in einem vergleichenden Zugriff liegen können, zeigt in einem der zentralen Beiträge Rainald Becker, wenn er anhand der Fugger’schen Kapellenstiftungen in Rom (Anima) und Augsburg (St. Anna) nicht nur einen transalpinen Kulturtransfer überzeugend nachweist, sondern auch den Umstand, dass ein Konnex beider Stiftungen zum Zweck des Seelenheils intendiert war, den die Fugger überdies mit erinnerungs- und das heißt: familienpolitischen Zielen zu verbinden verstanden hatten.

Indem die Aufsätze die intentionalen Aspekte des Erinnerns fokussieren, eröffnen sie zugleich den Horizont für weitere Forschung, die die Rezeptionsseite und damit die Wirksamkeit der jeweils gewählten Memorialpraxis in den Mittelpunkt der Überlegungen rückt. Überhaupt ergeben sich zahlreiche interessante Anschlussfragen, etwa wenn gleich in zwei Beiträgen Gerwig Blarer vorkommt, Abt von Weingarten, Ratgeber von König und Kaiser, Legat Julius II. und katholischer Wortführer in Oberschwaben, dem 1589 der achte Band der „Patrocinium musices“ von Orlando di Lasso gewidmet wurde. Dass dies 22 Jahre nach Blarers Tod (übrigens während Lassos Wirken für Wilhelm V., nicht, wie mehrfach geschrieben, für Wilhelm IV.) und eine Dekade nach der Münchner Konferenz geschieht, eröffnet ausgesprochen interessante erinnerungspolitische Interpretationsräume.

So bietet der Sammelband nicht nur zahlreiches Material und stellt Fälle unterschiedlichster Formen einer vormodernen Memorialpraxis dar, er verweist zugleich auf ein weites Feld weiterführender Fragen, das zusätzliche, reiche Ernte verspricht.