Aktuelle Rezensionen
Wolfgang Benz
Exil. Geschichte einer Vertreibung 1933-1945
München 2025, C.H. Beck, 407 Seiten
Rezensiert von Reinhard Mehring
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 14.07.2025
Wolfgang Benz (*1941) ist seit Jahrzehnten einer der produktivsten Zeithistoriker des Nationalsozialismus und Holocaust, der KZ-Forschung, des deutschen Widerstandes und auch neueren Kampfes gegen Antisemitismus und Islamophobie. Mit seinem neuen Buch „Exil“ schlägt er ein weiteres Kapitel seiner umfassenden Analyse der Folgen des nationalsozialistischen Terrors auf, das aus einem großen Wissens-, Begegnungs- und Erfahrungsfundus mit ausgewogener Übersicht, Eindringlichkeit und exemplarischer Anschaulichkeit den Leser fesselt und berührt. Mit dem Untertitel legt er den Akzent auf die Konsequenzen einer Diskriminierungsdynamik, wobei Benz auch knappe Brücken zur Gegenwart schlägt. Mit den Exilgeschichten löst er sich vom Schauplatz Deutschland und erörtert die internationalen Dimensionen und Wege des Exils. „Die Exilforschung beginnt als Zweig der Literaturwissenschaft“, schreibt Benz eingangs, und die Geschichte des Exils sei in der Heterogenität der Wege und Schicksale zuerst als „Geschichte einzelner Menschen“ (S. 9) zu betrachten. Als „Lehrstück“ (S. 11) mancher Glücksgeschichten und vieler entsetzlicher Tragödien erinnert sie an die existentielle Bedeutung des Asylrechts.
Benz beginnt mit einem kurzen vergleichenden und auf die Schweiz konzentrierten Blick auf die politische Emigration im Ersten Weltkrieg und auch in der Weimarer Republik, um die völlige Andersartigkeit der Lage seit 1933 abzuheben. „Das Exil im Ersten Weltkrieg war keine Massenflucht“ (S. 30), schreibt er, und Rückkehr blieb möglich. Es folgt ein Überblick über erste Emigrationswellen aus politischen oder auch „kulturellen“ Gründen. Stets argumentiert Benz mit Fallbeispielen. Einige bekannte Beispiele erörtert er auch deshalb, um relativ privilegierte und vergleichsweise glimpfliche Exilschicksale von den weniger bekannten und oft noch viel katastrophaleren Schicksalen des europäischen Judentums abzusetzen, das in den Holocaust geriet. „Die jüdische Emigration stand unter ganz anderen Vorzeichen als der Exodus der Politiker, Wissenschaftler, Literaten und Künstler“ (S. 43), schreibt Benz. Die größten Auswanderungswellen erfolgten 1938/39 bis Kriegsbeginn. Danach wurde die Flucht praktisch fast unmöglich (S. 46 f.), obgleich immer neue, abenteuerliche und gefährliche Wege der Hilfe und Rettung gesucht und gefunden wurden.
Eindrucksvoll beschreibt Benz die Antworten des deutschen Judentums auf die NS-Diskriminierung: Nach einer Phase illusionärer Hoffnungen auf ein Arrangement erfolgte spätestens nach den „Nürnberger Gesetzen“ ein Kurswechsel auch in den zionistischen Organisationen (S. 78 ff.) und eine Umstellung auf geregelte Auswanderung und jüdisches Leben in Palästina. Die Jewish Agency registrierte bis 1942 insgesamt 52463 Einwanderer aus dem Deutschen Reich (S. 86). Zwangsdeportationen nach Polen und dann die Novemberpogrome 1938 machten damals definitiv klar, „dass für Juden kein Platz mehr in Deutschland sein sollte“ (S. 92). „Insgesamt wird die Zahl der jüdischen Emigranten aus Deutschland auf 278500 geschätzt.“ (S. 101)
Benz geht die „Orte des Exils“ von den ersten bis letzten Stationen einzeln durch: von Saarbrücken und Wien bis Buenos Aires, Shanghai, Sydney und Melbourne. Anders als im Ersten Weltkrieg agierte die Schweiz durchgängig restriktiv. Für wenige Jahre war die junge Masaryk-Tschechoslowakei „die gastfreundlichste aller Nationen“ (S. 115). Auch für die SPD-Prominenz wurde sie zum „Überlebenszentrum“. Die KPD-Zentrale flüchtete nach Paris und wurde dann nach Moskau abberufen. Nach Frankreichs Besetzung flüchteten bis zu 30000 Personen des deutschsprachigen Exils über die Pyrenäen (S. 132). In England waren Asylsuchende nur „mäßig willkommen“: „Großbritannien definierte sich als Transitland“ (S. 143) und internierte viele bis zum August 1941 u.a. auf der Isle of Man. Die Sowjetunion war als Exilort „praktisch unmöglich“. Etwa 3000 Emigranten (70 Prozent) wurden vom NKWD ermordet (S. 150). 130000 erreichten dagegen die USA und insbesondere New York. Dort entstanden neben Hilfsorganisationen auch politische Initiativen und eine Art „Exilregierung“ wie der Council for Democratic Germany, dessen Visionen „den Absichten der künftigen Besatzungsmächte [aber] in jeder Weise entgegengesetzt“ (S. 166) waren. Mexiko und vor allem Argentinien nahmen in Südamerika zahlreiche Emigranten auf, Shanghai war als Exilort „so ziemlich die letzte Wahl“, die aber bis 1941 allein Zuflucht „ohne Visaformalitäten“ (S. 175) bot. Etwa 20000 erreichten Shanghai.
Ein eigenes Kapitel mit vielen Fallbeispielen widmet Benz den von zionistischen Jugendorganisationen betriebenen und von der Gestapo schikanös unterstützten Kindertransporten, für die Großbritannien seine restriktive Beschränkung auf Transit 1939 einige Zeit aufgab (S. 193 ff.). Neun von zehn Kindern hofften dabei aber, wie Benz bitter bemerkt (S. 211), vergebens auf ein Wiedersehen mit ihren Eltern. Eine glückliche Ausnahme (aus München) war Edgar Feuchtwanger, der Sohn des Verlegers und Publizisten Ludwig Feuchtwanger und Enkel von Lion, der letztes Jahr (2024) noch seinen 100. Geburtstag feiern konnte. Aus diesem Anlass wurden (von Anja Tuckermann herausgegeben) seine „Kinderbriefe aus dem Exil“ publiziert. Ein anderes dramatisches Kapitel ist die illegale Einwanderung insbesondere nach Palästina, u.a. auf Schiffen, für die die Irrfahrt der „Exodus“ nur das bekannteste Beispiel ist (S. 260 ff.).
Durchgängig thematisiert Benz immer wieder die Schicksale von prominenten Autoren und Wissenschaftlern und widmet der Literatur im Exil (S. 263 ff.) auch ein eigenes Kapitel, wobei er Lion Feuchtwangers „Bekenntnis zu Stalin“ nicht verschweigt. Er schließt noch ein Kapitel „Rückkehr aus dem Exil“ an, das die Unterschiede der Remigration in die DDR und Bundesrepublik skizziert. Die Erörterung von Ambivalenzen und Ressentiments führt zu Fragen der Integration und Akkulturation: „Im glücklichen Fall ist die Akkulturation in der dritten Generation beendet. Das Verharren im Ghetto als Perpetuierung des Exils bedeutet Scheitern im doppelten Sinn: der Immigranten wie der aufnehmenden Gesellschaft.“ (S. 354) Benz schreibt das mit Blick auch auf unsere Gegenwart, ohne zu den heutigen Migrationsfragen und zur Berliner Bundesrepublik näher Stellung zu beziehen. Aktuelle Vergleiche drängen sich aber geradezu auf.
So eindringlich und beklemmend sein Buch sich liest, lassen sich doch ermutigende Aspekte entnehmen: Das humanitäre Bewusstsein für die unbedingte Notwendigkeit eines pragmatisch funktionierenden Asylrechts ist durch die Erfahrungen geschärft. Benz schult den Migrationssinn oder die Migrationstoleranz. Aus heutiger Sicht verwundern (jenseits des NS-Terrors) die zahlreichen Hürden und Schikanen, die einer – vergleichsweise – relativ kleinen und integrationswilligen Zahl von Migranten damals bereitet wurden. Man staunt auch über die – von Benz eingehend dargestellten – Solidarsysteme und Netzwerke der Hilfsorganisationen sowie die Vielzahl gütiger Helfer und Retter. Andererseits sind die Konflikte, Zahlen und Wege heute ungleich größer und teils noch schwieriger. Die Akkulturationsforschung steht selbst für die Geschichte der „Gastarbeiter“ noch ziemlich in den Anfängen. Heute würde wohl kaum ein (deutscher) Politiker die geregelte Einwanderung der damaligen Migranten restriktiv beschränken. Nichts Besseres könnte vielen Gesellschaften geschehen. Eine Verteilungsgerechtigkeit bei Belastungen ist aber selbst innerhalb der EU heute noch ein Fremdwort. Und syrische oder palästinensische Flüchtlinge sind fast nirgendwo (auch in der arabischen Welt nicht) willkommen, um vom Sudan oder anderen Krisenregionen zu schweigen. Erschütternd ist also nicht nur die Exilgeschichte, die Benz beschreibt, sondern auch der zwingende Schluss, dass die Herausforderungen und Probleme heute noch ungleich dramatischer sind und kein Krisenszenario gänzlich ausgeschlossen werden kann.