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Aktuelle Rezensionen


Timo Heimerdinger/Marion Näser-Lather (Hg.)

Position beziehen, Haltung zeigen!? Bedingung und Problem kulturwissenschaftlicher Forschung

(Freiburger Studien zur Kulturanalyse 7), Münster 2024, Waxmann, 271 Seiten mit Abbildungen,  ISBN 978-3-8309-4869-8


Rezensiert von Čarna Brković
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 07.10.2025

Dieser Sammelband ist das Ergebnis der Tagung, die im Juli 2022 am Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie in Freiburg stattfand. Mit zwölf Kapiteln und einer Einführung bietet er reichlich Stoff zur Reflexion. Die Einführung umfasst einen willkommenen Überblick über die Geschichte der Auseinandersetzung mit der Frage der Positionalität in der Empirischen Kulturwissenschaft und Sozial- und Kulturanthropologie. Die Herausgeberin Marion Näser-Lather und der Herausgeber Timo Heimerdinger erinnern uns daran, dass wir zumindest seit den 1980er Jahren wissen, dass die Sozial- und Geisteswissenschaften immer nur eine partielle Perspektive bieten (Donna Haraway), dass sie durch die Art und Weise des Schreibens geprägt sind (George Marcus) und dass sie gesellschaftsbezogen sowie in die Welt, die sie zu verstehen suchen, eingebunden sind (Hermann Bausinger). In der Einführung beleuchten sie die Geschichte des „Parteinahme“-Diskurses im nationalsozialistischen Deutschland und in der DDR und ergänzen, dass sich die Interventionsbestrebungen des Fachs „von einer sozialkonservativen, nationalen oder gar nationalistischen Motivation hin zu einer eher links-progressiven Orientierung mit deutlich emanzipatorischer Grundausrichtung gewandelt haben“ (25). Diese Geschichte zeigt, dass unser Fach weder objektiv noch neutral ist. Gleichzeitig ist es jedoch auch nicht vollständig subjektiv oder persönlich. Es gibt etwas, das „Forschung“ von „reiner Meinungsäußerung“ unterscheidet oder „die Wissenschaft und ihr Selbstverständnis“ von „anderen Formen der Textproduktion in Literatur, Journalismus oder Essayistik“ (16). Wie Fachdebatten zeigen (etwa bei Beate Binder, Sabine Hess, Timo Heimerdinger oder Klaus Schönberger), ist „die Unmöglichkeit, Wissenschaft und politische Implikationen vollständig voneinander zu trennen, unbestritten“ (26). Das Ziel des Bandes ist es, diese komplexe Situation durchzudenken, in der sich Forschende in der Kulturanthropologie befinden: einerseits bemüht, die Wahrheit dessen zu vermitteln, was sie im Feld gesehen, gehört und gelernt haben, andererseits aber auch eingebunden in und geprägt durch soziale Beziehungen und Diskurse des Feldes.

Um diese komplexe Situation zu entwirren, schlagen Heimerdinger und Näser-Lather eine zeitliche Trennung der Aufgaben vor – zunächst die Welt beobachten, analysieren und verstehen, und erst danach sich aktiv an ihr beteiligen und sie zu verändern versuchen. Die Aufgabe, Erkenntnisse zu generieren, sollte Vorrang vor der Aufgabe haben, in die Welt einzugreifen. Zudem formulieren sie drei Prinzipien, die die Kulturanthropologie beziehungsweise die Forschenden bei öffentlichen Stellungnahmen leiten sollten: keinem anderen schaden, sich selbst nicht schaden und dem Fach keinen Schaden zufügen.

Die Kapitel bieten eine breite Palette von Ansätzen und beleuchten verschiedene Probleme der Positionalität, die im Feld entstanden sind.

Hermann Tertilt beschreibt seine Forschung mit einer Jugendgang in Frankfurt am Main, bei der er darauf verzichtete, Handlungen, die als „Straftaten“ eingestuft werden könnten, vorschnell zu bewerten, um „Sinn und Bedeutung des jugendlichen Gang-Verhaltens im Zusammenhang mit der Migration, ihrem kulturellen und sozialen Kontext verständlich zu machen“ (50). Dieser Beitrag zeigt, wie (europäische) Ethnologen möglicherweise stellvertretend für die Gruppen sprechen, die sie untersuchen, während sie gleichzeitig für eine methodische „Trennung in der ethnografischen Darstellung von Beobachtung und Bewertung“ (50) plädieren.

Stefan Wellgraf gibt einen Überblick darüber, wie andere Ethnografinnen der extremen Rechten mit komplexen Fragen der Positionalität und Ethik umgegangen sind. Er zeigt, dass das zentrale Ziel dieser Forschungsrichtung darin besteht, zu verstehen, zu analysieren und theoretisch einzuordnen.

Nurhak Polat und Hagen Steinhauer thematisieren Angriffe auf die Wissenschaft in der Türkei sowie die Kritik am sogenannten „Wokismus“ in Frankreich. Ihr Beitrag macht klar, dass der Versuch, Wissenschaft „neutral“ zu halten, zutiefst politisch ist – in Kontexten, die von starken Hierarchien und Machtungleichheiten geprägt sind, führt jede Bemühung um „Neutralität“ letztlich zur Stabilisierung der Positionen derjenigen, die bereits über mehr Macht verfügen. Polat und Steinhauer veranschaulichen eindrücklich ihre persönlichen Erfahrungen und Betroffenheit im Umgang mit der Praxis der „taking sides“ (nach Athena Athanasiou) im Forschungskontext von Autoritarismus.

Alexander Koensler bietet eine andere Perspektive auf die Frage der Positionalität als die Herausgeberin und der Herausgeber. Er diskutiert Ambivalenzen und multiple Wahrheiten in Konflikten in Israel/Palästina sowie in Nordirland und argumentiert, dass Realität inhärent mehrdeutig und polyvalent ist und dass Wahrheit auf komplexe Weise konstruiert wird. Obwohl die Wissenschaft seit den 1980er Jahren immer wieder den konstruierten Charakter von Realität aufgezeigt hat, bringt der in diesem Aufsatz diskutierte Ansatz gewisse Probleme mit sich. Serbische Nationalisten behaupten ähnlich, dass nicht genau festgestellt werden könne, was in Srebrenica im Juli 1995 tatsächlich geschehen ist, und dass sie ein Recht auf ihre eigene Wahrheit hätten, weil „die Zahl von angeblich mindestens 8.000 Muslimen, die von serbischen Kräften getötet wurden, übertrieben sei, um den USA und der NATO einen humanitären Vorwand zu liefern, die Serben zu dämonisieren und die öffentliche Meinung für eine militärische Intervention in der Region zu gewinnen“1.Was im Juli 1995 in Srebrenica geschah, wurde jedoch als Völkermord an Muslimen durch bosnisch serbische paramilitärische Einheiten eingestuft – eine Tatsache, die durch die Arbeit des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) und den NIOD-Bericht festgestellt wurde.2 Während die Kulturanthropologie des Rechts zeigt, dass juristische Wahrheiten tatsächlich sozial konstruiert sind, berücksichtigt sie gleichzeitig, dass unterschiedliche Positionen hierarchisch und ungleich geordnet sind (s. Jessica Greenberg). Es ist nicht die Aufgabe der Kulturwissenschaften, juristische Wahrheiten festzulegen – aber ebenso wenig sollte es ihre Aufgabe sein, eine gemeinsame Grundlage für geteilte Realität angesichts von Völkermord und gewaltsamen Konflikten zu verweigern. Zumindest meiner Ansicht nach sollte es möglich sein, Ambivalenz und Hierarchie gemeinsam zu denken.

Janina Krause untersucht, wie Hierarchien ethnografische Forschung prägen, und bietet wertvolle Reflexionen zu den ethischen und politischen Aspekten des studying up. Sie zeigt, dass nichtinvasive Pränataltests (NIPT) ein umstrittener Bereich der medizinischen Kulturanthropologie sind, in dem es unmöglich ist, keine Position zu beziehen. In einem solchen Kontext umfasst eine „theoretisch neutrale Haltung gegenüber NIPT in der Praxis der Feldforschung [...] eine bisweilen spannungsgeladene Überarbeitung der eigenen kulturellen und sozialen Verwobenheiten“ (130).

Alexandra Schwell reflektiert über eine unangenehme Überraschung, als ihre Pläne, Feldforschung zur Ausbildung zukünftiger Mitarbeitender der Staatssicherheit durchzuführen, infrage gestellt wurden und ihre Positionalität als Kulturanthropologin im Feld von einigen der Personen, die sie untersuchen wollte, kritisch hinterfragt wurde. Ihre Studie bietet eine aufschlussreiche Analyse einer komplexen Feldsituation und argumentiert dafür, dass es manchmal besser sein kann, auf ein Forschungsthema ganz zu verzichten.

In ihrer Forschung darüber, wie der Fall des Sozialismus das Fach und die Wissenschaftsgeschichte beeinflusst hat, stieß Victoria Hegner auf sehr unterschiedliche Deutungen dieser Zeit. Ostdeutsche Forschende und Lehrende erwarteten, dass der Umbruch die Kulturwissenschaften gemeinschaftlich nicht nur im Osten, sondern in ganz Deutschland verändern würde. In Westdeutschland hingegen ging man davon aus, dass sich die ostdeutschen Kolleginnen und Kollegen „anpassen“ und zu ihnen „aufholen“ müssten. Ein westdeutscher Interviewpartner entschloss sich, nach dem Interview, seine Aussagen zurückzuziehen. Hegner entschied sich dennoch für die Veröffentlichung und argumentierte, dass sie nur durch Illoyalität gegenüber ihrem Interviewpartner loyal bleiben konnte – nämlich „dem wissenschaftlichen Selbstverständnis unseres Faches und dem, über den Interessen von Einzelpersonen stehenden, Idealbild der Erkenntnisgewinnung“ (157).

Anna Larl, Manuela Rathmayer und Konrad J. Kuhn formulieren in ihrem Aufsatz zwei Strategien, die sie anwandten, um mit ihrer komplexen Positionalität in einem dicht besetzten Feld der Volkstanzkultur in Tirol umzugehen, das Auftraggeberinnen, Feldpartner, die Öffentlichkeit und die wissenschaftliche Gemeinschaft umfasste. Erstens stützten sie sich auf die Strategien der Positionierung, die darin bestanden, die politische Ideologisierung und Instrumentalisierung hervorzuheben sowie neue Fragen an alte Forschungsfelder zu formulieren. Zweitens setzten sie Strategien der Nicht-Positionierung ein, um zu vermeiden, von anderen Akteursgruppen in diesem dicht besetzten Feld politisch positioniert zu werden, „und so eine unabdingbare Feldnähe zu verlieren“ (185).

Isabella Kölz reflektiert über die „Positionierungsaushandlungen“, die sie während ihrer kollaborativen Feldforschung mit Studierenden und Mitarbeitenden im Bereich Design an einer Hochschule für angewandte Wissenschaften in Deutschland vornehmen musste. Sie stellt fachliche Überlegungen zum Thema kollaborative Ethnografie und ethnografisches Experiment vor und reflektiert dadurch ihre Feldforschungserfahrungen.

Auf der Grundlage von Erzählforschung und Ethnopsychoanalyse schreibt Claudia Willms über Positionierungen während ethnografischer Interviews in interreligiösen Kontexten und Begegnungen.

Jens Wietschorke diskutiert Pierre Bourdieu als eine Figur, die sowohl ein nuanciertes theoretisches Rahmenwerk entwickelte als auch als prominenter öffentlicher Intellektueller in Frankreich wirkte. Wietschorke zeigt, dass diese Doppelkonstitution von Wissenschaft möglich war, weil Bourdieu die Grenze zwischen soziologischer Analyse und politischem Engagement klar hielt, während er zugleich das Recht beanspruchte, aufgrund seines Expertenwissens an öffentlichen Debatten teilzunehmen.

Marion Näser-Lather beschreibt ihre komplexen Erfahrungen im Rahmen eines Forschungsprojektes zu anti-„genderistischen“ Argumentationen, bei dem ihr bestimmte politische Positionierungen imputiert wurden. Sie wurde sogar verklagt, um ihre Veröffentlichungen zu stoppen. Aufgrund dieser Analyse entwickelt Näser-Lather ein siebendimensionales Koordinatensystem der Positionierungsdimensionen, das Studierenden sowie Forschenden sicherlich viel Stoff zur Diskussion und Reflexion bieten wird.

Das Thema dieses Bandes war schon immer relevant, hat jedoch in den letzten Jahren stark an Brisanz gewonnen – insbesondere mit dem sogenannten „Ende vom Ende der Geschichte“, ausgelöst durch die Kriege in der Ukraine und in Israel/Palästina, den Rechtruck und die Erosion der (neo)liberalen Hegemonie sowie den Abbau von DEI-Initiativen an den Universitäten in der USA. Dieser facettenreiche und bedeutende Band lädt uns alle dazu ein, darüber nachzudenken, welchen Platz wir in den Kulturwissenschaften Forschenden und Lehrenden in dieser sich verändernden Welt einnehmen – und einnehmen sollten.

 

Anmerkungen

 


1 Pavić: Zabranjena istina o srebrenici-priručnik zasnovan na stranim izvorima [Die verbotene Wahrheit über das Srebrenica-Handbuch aus ausländischen Quellen]. In: Iskra. Svetla strana sveta [Der Funke. Die helle Seite der Welt], 22. Juli 2029, https://iskra.co/republika-srpska/pavic-zabranjena-istina-o-srebrenici-prirucnik-zasnovan-na-stranim-izvorima/ [21.3.2025].

2 Srebrenica. Reconstruction, background, consequences and analyses of the fall of a ‚safe‘ area. NIOD Institute for War, Holocaust and Genocide Studies, https://www.niod.nl/en/publications/srebrenica [21.3.2025].