Aktuelle Rezensionen
Stefan Wellgraf/Christine Hentschel (Hg.)
Rechtspopulismen der Gegenwart. Kulturwissenschaftliche Irritationen
Leipzig 2023, Spector Books OHG, 270 Seiten, ISBN 978-3-95905-649-6
Rezensiert von Sebastian Dümling
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 08.10.2025
Nimmt man das Jahr 2014, als die AfD erstmals in ein überregionales Parlament, das Europäische, einzog, als Beginn des rechtspopulistischen Zeitalters in der Bundesrepublik – was nicht heißt, dass es vorher keine rechtspopulistischen Sprecher und Akteure gegeben hätte – und schaut man sich die schier unüberblickbare Menge an Literatur an, die hierzu seitdem allein in Deutschland erschienen ist, dann stehen Neuerscheinungen zum Thema unter besonderem Rechtfertigungsdruck, etwas Neues beizutragen. Schließlich hat man doch den Eindruck, dass mittlerweile alles hierzu gesagt wurde – wenn auch noch nicht von jedem. Um das gleich vorwegzunehmen: Der anzuzeigende Band schafft dies, also Neues, Unbekanntes, Überraschendes über Rechtspopulismus mitzuteilen, nur bedingt; und doch hat er den Rezensenten sehr begeistert! Aber von vorn.
Herausgeberin Christine Hentschel und Herausgeber Stefan Wellgraf äußern in der Einleitung ihr Unbehagen darüber, dass die Rechtspopulismus-Forschung vor allem homogenisierende makrostrukturelle Perspektiven einnehme, die kaum offen dafür seien, Rechtspopulismus als gelebte Rechtspopulismen „jenseits der Parteienlogik“ (13) zu erforschen – jenseits der Parteienlogik würde wohl auch bedeuten, die eingangs angeführte Periodisierung abzulehnen. Hentschel und Wellgraf stoßen sich an Forschungen, die von einem programmatisch eindeutigen, aber rein etisch hergeleiteten Begriff des Rechtspopulismus ausgingen, der dann auf der affektiven, alltagspragmatischen und ideologischen Akteursebene Unterschiede, Irritationen und Widersprüche wegwische. Streng induktiv würden die versammelten Beiträge hingegen aus ihren jeweiligen Feldern emischen Begriffsverständnissen nachgehen: Sie würden mit ethnografischen Mitteln „ganz unterschiedliche Orte und Milieus auf[suchen], in denen sich rechte Lebens- und Argumentationswelten einüben und entfalten, sich gegenseitig inspirieren und imitieren […] am Stammtisch, im Chat […] auf der Demo, im Taxi oder im Hilfseinsatz“ (13). Diese Erkundungen sind dort, wo sie empirisch besonders dicht ausgerichtet sind, sehr gelungen und machen den Band unbedingt empfehlenswert!
Im Folgenden seien die Beiträge schlagworthaft vorgestellt: Moritz Ege schreibt konzeptionell über den Zusammenhang von Antielitismus und Populismus; Stefan Wellgraf gibt eine kritische Übersicht zur aktuellen Rechtspopulismus/Rechtsradikalismus-Forschung; Kristóf Szombati bietet eine theoretische Deutung zur rechtspopulistischen Konjunktur, wofür er vornehmlich auf Stuart Hall zurückgreift; Hilary Pilkington formuliert methodologische Überlegungen zur Erforschung rechter Bewegungen am Beispiel der English Defence League; Julian Genner erkundet ethnografisch das Reichsbürgermilieu; Christine Hentschel widmet sich rechten Krisenakteuren im Umfeld von Katastrophen wie dem Ahr-Hochwasser; Simon Strick formuliert medientheoretische Gedanken zum Rechtspopulismus, wofür er den Begriff Noise fruchtbar macht. Rosa Cordillera A. Castillo schreibt über Affektpolitiken im Kontext der Präsidentschaft Rodrigo Dutertes’ auf den Philippinen. Julia Leser geht auf politische Diskurse zu Wolfsrudel-Vorkommen in Ostdeutschland ein; Friederike Sigler stellt ästhetische Formen und Vorlieben der Neuen Rechten vor; Annika Lems schreibt über Anti-Kosmopolitismus in der alpinen Provinz Österreichs; damit eng zusammen hängt Jens Wietschorkes Beitrag über den Schlagermusiker Andreas Gabalier und die Frage, ob Gabalier als Rechtspop einzuordnen sei; im Feld der Musik bewegt sich auch Kerstin Kock, die sich weiblichem Rap von rechts widmet; den Abschluss des Bandes markiert der Aufsatz von Karl Banghard über rechte Aneignungen der Frühgeschichte.
Von diesen Beiträgen haben manche den Rezensenten besonders überzeugt und begeistert, andere wiederum weniger, so vor allem die programmatische Ausrichtung des Bandes, da sie allzu bemüht eine gleichsam gegenhegemoniale Position zum (behaupteten) Forschungsmainstream zu beziehen versucht.
In seinem mit Verve verfassten Beitrag „Luftgebäude und Sammelwut. Konzeptionelle Probleme der Forschung zu rechten Bewegungen“ bezieht Stefan Wellgraf entsprechende Position, indem er die, seiner Meinung nach, evidenten „epistemologischen, methodischen und politischen Probleme einiger besonders prominenter Forschungsstränge“ aufführt. Diese vehement vorgetragene Positionierung gegen die Politikwissenschaft, gegen die quantitative Soziologie, gegen die Extremismusforschung, kurzum: gegen im Grunde alle, die nicht dem ethnografischen, induktiven Ethos der Herausgeberin und des Herausgebers folgen, fand der Rezensent nicht überzeugend. Im Gegenteil: Es entsteht der Eindruck, dass jeder Forschungsblick, der nicht die recht eigentlich triviale Tatsache ausarbeitet, dass das Leben der Menschen widersprüchlicher ist, als es wählerstatistische, milieutypologisierende und makroökonomisch argumentierende Untersuchungen formulieren, ein schlechter, zu kurz greifender oder gar politisch fragwürdiger Forschungsblick sei.
Hier wäre doch meines Erachtens etwas mehr Anerkennung der wissenschaftlichen Arbeitsteilung gerechtfertigt, die sowohl beispielsweise Philip Manows auf Wahlkreisstatistiken beruhende Politische Ökonomie des Populismus genauso ihren Platz bietet wie der Wellgraf’schen Ethnografie (rechter) Hooligans. Dieser Gestus zeigt sich auch in der Verheißung des Klappentextes, dass der Band, „bisherige Gewissheiten über die Rechte grundlegend in Frage stellt“; eine Verheißung, die sich glücklicherweise nicht erfüllt. Denn: Was wären eigentlich Gewissheiten über die Rechte? Spontan fällt einem ein, dass die Rechte rassistisch ist und eine maskulinistische Geschlechterpolitik vertritt. Steht das nach der Lektüre des Bandes in Frage? Nein. Welche anderen Gewissheiten über die Rechte ins Wanken geraten könnten, erschließt sich hingegen nicht.
Der Rezensent konnte diese Programmatik auch deswegen nicht nachvollziehen, weil die meisten Beiträge gerade durch besondere Sensibilität und sprachliche Feinheit auffallen, durch eine wohltuend zurückhaltende Position des Ethnografen, der Ethnografin überzeugen. Julian Genners Miniatur über eine Berliner Taxifahrt, die diskursiv ins Reichsbürger-Denken hineinführt, ist geradezu ein kleines (weil auf wenigen Seiten ausgeführtes) Meisterwerk einer dichten Beschreibung – und man möge diesen Beitrag jedem geben, der am Erkenntnisgewinn der ethnografischen Methode zweifelt. Genner schafft es, die Aussagen von Corona-Leugnerinnen und Leugnern und Reichsbürgerbewegten durch seine feine Interpretation auf eine Analyseebene zu bringen, auf der es dem Rezensenten völlig eingeleuchtet hat, den Deutungsbegriff des häretischen Nationalismus hierfür heranzuziehen. Mag Genner mit seiner ethnografischen Poetik auch unter den Autorinnen und Autoren hervorstechen, bescherten auch andere Beiträge dem Rezensenten eine besondere Leseerfahrung, vor allem die Texte von Karl Banghard, Annika Lems, Jens Wietschorke und Julia Leser sind hier zu nennen. Diese Beiträge bleiben nämlich auch nicht bei dem mittlerweile sehr erwartbaren Passepartout-Interpretament stehen, den sogenannten Neoliberalismus und dessen (angebliche) Krisenhaftigkeit für den Rechtspopulismus verantwortlich zu machen, sondern gewinnen ihre Erklärungskraft aus der induktiven Bearbeitung ihres Materials.
Diese Beiträge zeigen indes auch, dass der titelgebende Plural Rechtspopulismen kaum aufgeht, weil die vorgestellten Milieus beziehungsweise Akteure ideologisch letztlich doch bestimmte und bestimmbare Propositionen teilen: die Annahme einer kulturellen, moralischen wie ethnischen Dekadenz, verbunden mit der Überzeugung, in einem antihegemonialen Kampf gegen eine linke Kulturelite zu stehen. Das Verdienst der meisten Aufsätze besteht dabei darin, diese Weltdeutungen in den konkreten Lebenswelten ihrer Akteure zu situieren, Lebenswelten, die dann ihrerseits sehr plural sind.
Normativ, aus einer liberal-demokratischen Perspektive gesprochen, besteht auch darin die alles andere als angenehme Erkenntnis des Sammelbands, nämlich dass das, was meines Erachtens als das Rechte im Singular zu verstehen wäre, mittlerweile integraler Bestandteil sehr pluraler Lebenswelten und Lebenswirklichkeiten ist. Entsprechend muss resümiert werden, dass das rechte Projekt einer gegenhegemonialen Strategie sehr erfolgreich ist: Die verschiedenen Felder, denen sich die Beiträge widmen, zeigen die integrative Macht rechter Ideologeme, indem diese sehr verschiedene Milieus zusammenbringen. Deswegen scheint es mir auch – blickt man auf die Wahlerfolge (neo-)faschistischer Parteien und Akteure in Europa und den USA – unbedingt nötig zu sein, dass empirisch-kulturwissenschaftliche Arbeiten rechtspopulistische Parteien analytisch dezidiert einbinden, anstatt sie auszuschließen; verwiesen sei nur auf Patrick Wielowiejskis 2024 erschienene, beeindruckende Studie über Rechtspopulismus und Homosexualität, die AfD-Akteure ethnografisch begleitet und gleichsam den State-of-the-Art darstellt, wie eine Parteienethnografie als ethnografische Kulturanalyse durchgeführt sein sollte.
Nach der Lektüre des Sammelbandes bleibt beim Rezensenten vor allem diese Frage offen – die der Band explizit nicht stellen möchte: Wie schaffen es rechtspopulistisch-faschistische Parteien wie die AfD oder FPÖ, ein Angebot zu formulieren, dass diese so disparaten rechtsalternativen Milieus anspricht und einbindet? Anders gesagt:
Erst dadurch, dass rechtspopulistisch-faschistische Parteien die liberalen Demokratien des Westens von innen heraus bedrohen und sich feindlich diesen gegenüber positionieren, erhalten die im Band vorgestellten Akteure und Milieus eine, so geht es jedenfalls dem Rezensenten, Relevanz, die sie ohne ihre parlamentarischen Repräsentanten nicht hätten. Der Sammelband sollte nicht zuletzt deswegen eine breite Rezeption erfahren, weil die in ihm Porträtierten mehrheitlich das Wählerinnen- und Wählerspektrum genannter Parteien bilden. Wer dieses normative Argument nicht teilt, dem sei diese Publikation empfohlen, weil ihre Beiträge vom heuristischen Potential ethnografischer Zugänge in Feldern der politischen Kultur überzeugen. Dem Band sind daher viele Leserinnen und Leser zu wünschen.