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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Uta Bretschneider/Jens Schöne

Provinzlust. Erotikshops in Ostdeutschland. Mit Fotografien von Karen Weinert und Thomas Bachler

Berlin 2024, Ch. Links, 224 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-96289-198-5


Rezensiert von Esther Gajek
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 08.10.2025

Ein nüchternes, blau-weißes Schild mit „Sex Shop“, links vom Jägerzaun vor einem Einsiedler-Hof neben einer Allee in Herzberg an der Elster gelegen – dieses Foto auf dem Titel des Bandes steht exemplarisch für einen der unspektakulären, seit Jahrzehnten bestehenden Erotikshops in ländlichen Gebieten Ostdeutschlands, wie sie Uta Bretschneider und Jens Schöne erforscht haben. Die Direktorin des Zeitgeschichtlichen Forums in Leipzig, Kulturwissenschaftlerin und Soziologin, und ihr Co-Autor, der Historiker und Stellvertreter des Berliner Beauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, eint das Interesse am ländlichen Raum, zu dem sie jeweils zahlreiche Forschungsarbeiten publiziert haben. Sie stammen, so ihre Selbstaussage, aus der ostdeutschen Provinz „jenseits der urbanen Zentren“, wobei „Provinz“ dabei „höchst wertschätzend gemeint“ sei, wissend, dass es „die Provinz nicht gibt“ (9). „Unzufrieden darüber, wie wenig Berücksichtigung Dörfer, Klein- und Mittelstädte fanden (und finden), wenn es darum geht, die jüngere deutsche Geschichte zu erforschen und zu erzählen“ (7), hatten beide schon länger ein neues Thema gesucht. Als Uta Bretschneider im April 2021 bei einer Spritztour durch das südliche Brandenburg in der Navigations-App den Hinweis auf „Patrick Heidler. Aquaristik Shop, Sex Shop“ sah und ihren Kollegen davon informierte, zögerte Jens Schöne nicht lange, in ein Forschungsprojekt über „Provinzlust“ miteinzusteigen. Viele Fragen stellten sich den beiden in den kommenden zwei Jahren, zum Beispiel, welche Möglichkeiten mit dem Fall der Mauer für Menschen in der ehemaligen DDR entstanden waren – in einer Zeit zwischen „Wunder und Wut“ (10).

Nach einer ersten Recherche wurde deutlich, dass es sich um ein Massenphänomen gehandelt hatte: Ab circa 1990 waren privat geführte Sex-Shops in Ostdeutschland wie Pilze aus dem Boden geschossen; fast zweitausend sollen es gewesen sein. Auf Jahre des großen Erfolgs mit hohen Umsätzen und Gewinnen folgte um 1995 eine Welle der Schließungen; heute existiert nur noch ein Bruchteil, viele davon jedoch seit Beginn. Bretschneider und Schöne haben nach diesen Erotikshops gesucht und wurden in Aschersleben, Cottbus, Freiberg, Herzberg, Ilmenau, Lauchhammer, Oschatz, Quedlinburg, Suhl, Weimar und Zwickau fündig. Mit den Betreiberinnen und Betreibern haben Sie Interviews geführt, ebenso vergleichend mit Inhaberinnen und Inhabern von Erotikshops in Berlin, Leipzig und im westdeutschen Biebertal, dem Stammsitz von „Orion“ mit rund 150 Erotik-Geschäften in ganz Deutschland. Sie entdeckten – jenseits gängiger Klischees von Verruchtheit – auf dem Land „Orte voller Widersprüche: erwartbar und überraschend, bunt und trist, sichtbar und verborgen, aufgeräumt und vollgestopft“ (15). Viele werden noch von den (inzwischen in die Jahre gekommenen) Gründerinnen und Gründern geführt – mit viel Engagement, Geschäftssinn und einem Selbstverständnis als seriöse Kaufleute. Zwei Beweggründe haben den Großteil der Befragten auf die (damalige) Nische gebracht: die finanzielle Not durch den Verlust der Arbeitsstelle und / oder der Wunsch, selbstständig tätig zu sein.

Die Geschichte des „Sex-Shops“, wie er auf dem Buchumschlag abgebildet ist, steht stellvertretend für viele andere: Patrick Heidler (*1969) verlor nach der Wende seine Stelle und suchte nach neuen beruflichen Möglichkeiten; sein Vater, der als Rentner ausreisen durfte und in Westdeutschland Erotik-Geschäfte kennengelernt hatte, brachte die Familie auf die Idee, eines zu eröffnen. Die Alleinlage des Hofes kam ihnen entgegen, die Diskretion für die Kundinnen und Kunden war so gesichert. Vater und Mutter standen im Geschäft, der Sohn besorgte die Ware: bar bezahlt, in Flensburg, bei Orion oder in Berlin bei anderen Sex-Shops. Der Umgang mit Sexualität sei „unverkrampft“ gewesen (35), die Nachfrage enorm, jedoch hielt der Ansturm nur bis 1993 an, dann musste ein zweites Standbein gefunden werden: die Aquaristik. Patrick Heidler führt beide Geschäfte bis heute, aber der Rückgang der Kundschaft und die Zunahme des Internethandels machen ihm Sorgen.

Die Ergebnisse der leitfadengestützten Interviews und anderer Materialien – im Falle von Uta Bretschneider auch einer teilnehmenden Beobachtung von vier Tagen als Verkäuferin in einem Erotik-Geschäft in Aschersleben – fließen pro Laden in ein Kapitel ein. So ist vom ersten Geschäft in Ostdeutschland, in Freiberg, die Rede, den unterschiedlichen Situierungen („Wo der Sexshop besser ausgeschildert ist als das Rathaus“ und „Sexshop im Nirgendwo“, „in der Kulturhauptstadt“ Weimar, an der Wilhelm-Pieck-Straße), der Expansion von „Ost nach West“, den Betreibern, den „Höhen und Tiefen“ im Geschäft bis hin zu dem Vergleich mit den großstädtischen Anbietern, wo es um „Sexpositive Perspektiven“ in Leipzig oder die Entwicklung von der Sexspielzeug-Manufaktur hin zu einem eigenen Laden in Berlin geht.

„Provinzlust“ zeigt einmal die Aufbruchsstimmung nach der Wende, ferner den Wunsch der Betreiberinnen und Betreiber, sich unternehmerisch auszuprobieren, was in der DDR nicht möglich war. Es ist von abenteuerlichen Umsatzzahlen, von nächtlichen Fahrten für ausgegangene Waren, langen Schlangen oder 190 weiteren Filialen, die man als Großhandel belieferte, die Rede, wie auch von den vielfältigen Beziehungen zwischen „Ost“ und „West“. Auf Seiten der Kundinnen und Kunden wird dann der „Nachholbedarf“ (140) angeführt, die Neugier auf ein bisher nicht gekanntes Angebot zu Erotik und (der in der DDR verbotenen) Pornografie. Mit dem Fall der Mauer war alles auf einmal verfügbar. Schließlich handeln die Geschichten von dem Anspruch der Geschäftsleute, Sexualität zu enttabuisieren, gleichzeitig aber auch von ihrem Ansinnen, mit Sexspielsachen, DVDs und Unterwäsche Geld zu verdienen. Hier war und ist großer Einfallsreichtum nötig, um die größtenteils sehr individuell geführten „Sex-Shops“ halten zu können und die Wünsche und Ansprüche der Kundschaft auch noch nach Jahrzehnten des Bestehens und besonders im Zeitalter des Online-Handels zu befriedigen.

Der Fokus des Bandes liegt auf den Umbruchsjahren seit dem Ende der DDR, gespiegelt durch die Erfahrungen, von denen die Interviewpartnerinnen und -partner erzählen. „Im Sinne des Kulturwissenschaftlers Albrecht Lehmann und seiner auf die Gegenwart bezogenen ‚Erfahrungsgeschichte‘ sollen diese Erfahrungen der Inhaber:innen als Basis lebensgeschichtlichen Erzählens, als Grundlage des ‚Welt-Verstehens‘ sowie des ‚Welt-Deutens‘ betrachtet werden und ihre Biografien ‚als Summe unserer Erfahrungen‘.“ (210) Die ausführlichen Zitatpassagen handeln von Schwierigkeiten bei der Eröffnung, Erfolgen, Durchhaltewillen, Kampf genauso wie Scheitern, von Konkurrenz, mangelnder Anerkennung durch die westdeutschen Franchise-Unternehmen, abenteuerlicher Produktsuche, Erfindungsreichtum und Ablehnung. „Diese Erinnerungslandschaft offenbart zugleich gesellschaftliche und ökonomische Prozesse, die Rahmen und Bestandteil der Transformation waren und es zum Teil bis heute sind“ (10): Freiräume und Unsicherheiten, Solidarisierungen und Vereinzelung, Improvisationstalent und Abstürze, Massenarbeitslosigkeit und Unternehmergeist, „Nachwendetristesse und Goldgräberstimmung“ (66), nicht zu vergessen die ganzen Praktiken des Aushandelns, Ausprobierens und Ausharrens.

Uta Bretschneider und Jens Schöne haben eine überzeugende Darstellung und vor allem Einordnung eines bisher vernachlässigten Themas, der „Provinzlust“, vorgelegt, ganz ohne Voyeurismus, durchsetzt mit gut gewählten Zitaten aus den Interviews und adäquat sachlich illustriert mit den Fotos von Karen Weinert und Thomas Bachler. Das Buch hat alles, was man sich als Leserin und Leser wünscht: ein unerwartetes Thema, ein schlüssiges Konzept, gute Geschichten, deren sachliche Kommentierung und präzise Zusammenschau sowie ein ausführliches Literaturverzeichnis zur weiteren Lektüre.