Aktuelle Rezensionen
Mathias Gredig/Matthias Schmidt/Cordula Seger (Hg.)
Salonorchester in den Alpen
Zürich 2024, Chronos, 232 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-0340-1733-6
Rezensiert von Esther Gajek
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 08.10.2025
Wer hätte nicht gerne an dieser Tagung teilgenommen: hochkarätige Referentinnen und Referenten, interessante Themen, Präsentationen unbekannter historischer Quellen und das in Hotels mit klingenden Namen wie „Reine Victoria“ in St. Moritz oder „Hotel Saratz“ in Pontresina, auf 1.800 Metern über dem Meeresspiegel und mit Live-Musik? Das Institut für Kulturforschung Graubünden mit dessen Leiterin, Cordula Seger, sowie die Universität Basel hatten 2022 zu einer internationalen und interdisziplinären Konferenz zu Salonorchestern in den Alpen eingeladen, die zwischen 1860 und 1960 sehr verbreitet waren und bisher kaum erforscht sind. Das hat auch mit der Quellenlage zu tun, denn viele Dokumente, wie sie in Hotels oder Kurvereinen anfielen, wurden nicht aufbewahrt oder sind nur sehr verstreut erhalten. Es ist den Basler Musikwissenschaftlern Mathias Gredig und Matthias Schmidt zu verdanken, dass sie im Rahmen eines Forschungsprojekt Tausende von Archivdokumenten gesichtet und den Autorinnen und Autoren sehr spezifisch zur Auswertung zur Verfügung gestellt haben.
Salonorchester – oft aus Klavier beziehungsweise Harmonium, Violine und Cello bestehend, mitunter durch weitere Instrumente ergänzt – wurden und werden bis heute von Kurvereinen wie Hotels für die Gäste engagiert. Die Ensembles spielten und spielen bei Trinkkuren, zum Frühstück, beim High Tea oder beim Eislaufen, zu Picknicks, im Kurpark und auch in eigenen Konzertreihen. Dass sie im Engadin so großflächig anzutreffen waren, hängt mit der Entwicklung des dortigen Tourismus zusammen. Zunächst als Bädertourismus, dann als Sommerfrische im 19. Jahrhundert praktiziert, bildete sich ab circa 1870 ein internationaler Wintertourismus heraus, der ab 1903, als das Engadin mit der Eisenbahn zu erreichen war, Jahr für Jahr wuchs. Der Wettbewerb um Gäste, der nun entstand, führte zu immer größeren und luxuriöseren Hotels wie auch zu immer aufwändigeren Attraktionen, darunter unter anderem die hoteleigenen Salonorchester.
Der vorliegende Band enthält die zu Aufsätzen ausgearbeiteten 14 Vorträge der Tagung von 2022, denen jeweils ein englischsprachiges Abstract vorangestellt wird. Die Beiträge sind von einem Vorwort der Herausgebenden, einem Personenregister und einem Verzeichnis der Autorinnen und Autoren gerahmt. Es lässt sich nur erahnen, mit welchen – weit verstreuten und heterogenen – Quellenkonvoluten operiert wurde, wenn man am Schluss die Aufzählung der Archive liest, in denen Materialien für die Forschung über die Salonorchester aufgetaucht sind.
Die Hälfte der Aufsätze nimmt eher musikanalytische Themen auf. So werden die Umarbeitungen von Opern zu Stücken für Salonorchester thematisiert oder spezifische Klangfarben, Arrangements und das Thema des Exotismus in der Musik herausgearbeitet. Auch ist davon die Rede, wie ein differenziertes Angebot von Musik bewusst von den Hoteliers eingesetzt wurde, um Gäste auch in entlegene Gebirgstäler zu locken oder mit Tanzwettbewerben zu erfreuen.
Für die Kulturwissenschaft relevanter sind jene Aufsätze, die auf die Protagonistinnen und Protagonisten der Musikszene eingehen. So beleuchtet die Musikwissenschaftlerin Simone Hutmacher-Oesch in „Reisende Instrumentalistinnen im Engadin“, wie Frauen als Solo- oder Orchester-Musikerinnen zwischen 1890 und 1940 berufstätig sein oder gar Karriere machen konnten – zu einer Zeit, als es noch wenige berufliche Möglichkeiten für Frauen gab. Erhaltene Bewerbungsschreiben, Offerten von Konzertagenturen, Fotografien, Autogrammkarten, aber auch zeitgenössische Ankündigungen wie Berichte in den Tageszeitungen ergeben, dass besonders die Damenorchester sehr erfolgreich waren. Es galten folgende Prinzipien: „jung und gut aussehend, einen glücklichen Eindruck machend, sich unterhaltsam verhaltend sowie einheitliche Kleidung, wobei diese extravagant, jedoch nicht sexuell provozierend sein durfte“ (45).
Die quantitative und qualitative Untersuchung zu Salonorchester-Musikerinnen und -Musikern des Historikers Kurt Gritsch belegt deren hohe internationale Arbeitsmobilität. Die systematische Auswertung sowohl der Anstellungsverträge wie der Bewerbungen von Orchesterleitungen – zwischen 1899 und 1956 waren es 222 – zeigt, dass sich vor allem Schweizer bewarben, aber auch Dirigenten aus ganz Europa und einzelne sogar aus Afrika. In der Mehrzahl der Fälle kamen die Bewerbungen aus Kurorten oder Städten mit einer großen Musiktradition und entsprechend renommierten Konzerthallen wie Konservatorien. Der Autor fasst zusammen: „Meist als Selbständige unterwegs, waren Salonmusiker auf Empfehlungen von Hoteldirektor:innen und auf das Wohlwollen der Gäste angewiesen, und Wiederanstellungen blieben ihnen teilweise ohne explizite Begründung verwehrt. Dies und die generelle Orientierung der Hotellerie an Angebot und Nachfrage, aber auch die Einflüsse von Wirtschaftskrisen sorgten für oft prekäre und meist zumindest volatile Anstellungsbedingungen.“ (68)
Der Vizedirektor des Touriseums in Meran, der Historiker Patrick Gasser, zeichnet die Tourismusentwicklung der Kurstadt Meran nach, die der des Engadins in vielem gleicht, vor allem nach der Anbindung an das Eisenbahnnetz. Seit 1867 wurden in Meran regelmäßig Kurkonzerte beworben und abgehalten, besonders in der Saison zwischen Herbst und Ende Frühling: tägliche Konzerte, die wegen des milden Klimas fast immer „open air“ in Wandelhallen und Pavillons stattfanden. Eine erhaltene Anfrage des langjährigen Direktors der Kurkapelle, Carl Klinger, an die Hotelverwaltung von 1902 gibt einen guten Eindruck der zum Teil sehr unsicheren Anstellungen der Musiker: „Das Curorchester hier ist vom 1. Oktober bis 15. Mai, 29 Mann stark, wird aber vom 16. Mai auf 16 Mann reduziert, welcher Theil am 1. resp. 10. September wieder mit den Curconzerten beginnt. Es wäre nun in beiderseitigem Interesse, wenn die löbliche Hotelverwaltung das gutgeschulte und zusammengespielte Orchester von 16 Mann, in der Zeit vom 1. resp. 6. Juni bis 1. resp. 10. September beschäftigen würde.“ (163)
Meran entwickelte sich anfangs zum Luxus-Kurort, später zum Ort des Massentourismus: In der Saison 1913/14 wurden 1,2 Millionen Übernachtungen gezählt. Für die gleiche Zeit lassen sich zwischen 500 und 600 Promenadenkonzerte nachweisen. „Konzerte, Theater und Bälle boten die dringend nötige Abwechslung im eintönigen obligatorischen Tagesprogramm der Kurgäste, geprägt von minutiös verschriebenen Liege- oder Terrainkuren. Das Drumherum wurde damit genauso wichtig wie die Heilmittel selbst.“ (164)
Der Wiener Musikwissenschaftler Reinhold Nowotny zeichnet in seinem Beitrag das Leben von Ignaz Wacek (1856–1928), einem böhmischen Dirigenten und Musikpädagogen nach. Dieser kam 1903 ins Oberengadin und baute sich als Dirigent von (Blas-)Kapellen und als Gründer von örtlichen Orchestern eine Existenz auf. Die Überlieferung zu Wacek ist spärlich, trotz seines intensiven Wirkens in der Aufbauarbeit für einige, bis heute bestehende Musikgesellschaften in Graubünden. Die Biografie kann stellvertretend für andere in- und ausländische Musiker gelesen werden, die mit den Salonorchestern ins Engadin kamen und blieben.
Mathias Gredig weist mit seinem Text und zahlreichen zeitgenössischen Fotografien auf die enge Verbindung von Sport und Musik hin, wie sie bis weit in die 1930er Jahre bestand: Ob beim Schlittschuhlaufen oder Skispringen, beim Skijöring oder Bobrennen – überall wurde Live-Musik vorgetragen. Kleine Kohleöfen, Handschuhe mit umklappbaren Fingerkuppen oder Alkohol sollten den Musikerinnen und Musikern helfen, die Kälte auf und um das Eis zu ertragen, was jedoch kaum gelang. Erst gegen Ende der 1930er Jahre ersetzten Grammofone und Lautsprecher die Orchester.
Der Aufsatz von Matthias Schmidt konzentriert sich auf die musikalischen Darbietungen im Luxushotel „Kursaal Maloja“, einer „urbanen Palastfantasie fürs Hochgebirge“ von 200 Metern Länge mit 300 Zimmern und im Laufe der Jahre mit allen denkbaren Raffinessen ausgestattet: Klimaanlage, Zentralheizung, Taubenschießanlage, Golfplatz, Aufzügen und elektrischer Beleuchtung. Alles war darauf ausgerichtet, „luxusverwöhnte Städter auf dem von ihnen als angemessen empfundenen Niveau zu beherbergen. An diesem Punkt geriet zwingend die Bedeutung der Kultur ins Visier der Planer.“ (204) Hier traten Mitglieder des Orchesters der Mailänder Scala wie auch Gäste aus der Metropolitan Opera in New York auf, ganze Kompositionen wie der Maloja-Walzer wurden dem Haus gewidmet. Zentraler Aufführungsort war der Theatersaal mit seinen schlossähnlichen Dimensionen und einer kostbaren Ausstattung. „Musik spielte innerhalb dieses Konzeptes die grundlegende Rolle einer Art von Immersionsgeberin: Jeweils passend zur Tageszeit und zum gesellschaftlichen Anlass wurden die Ankommenden in musikalische Klänge gehüllt.“ (210) Die Aufführungen gerieten zur „kulturellen Selbstversicherung eines kosmopolitisch gesonnen, gehobenen grossbürgerlichen oder aristokratischen Publikums von Bedeutung“ (210). Der Autor betont gerade diese übergeordnete Funktion von Musik: als Ausgangspunkt eines gegenseitigen Abtastens des gesellschaftlichen Statusʼ, als „elitärer Erkennungscode“ (216) zum Beispiel für zukünftige gemeinsame private wie geschäftliche Transaktionen. Die erhaltenen und hier erstmals ausgewerteten Programme für die täglichen Nachmittags- und Abendkonzerte des Sommers 1912 verzeichnen meist kürzere Stücke mit insgesamt 90 Minuten Dauer. Das Repertoire entsprach dem zeitgenössischen Opern- beziehungsweise Musikgeschmack der internationalen Hotelgäste. Man spielte eine „vielstimmige, zwischen ästhetischen und politischen Rücksichten abwägende, weltläufige Musik“ (216). Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 änderte sich das schlagartig. Die Landesgrenzen wurden geschlossen, die internationalen Gäste blieben aus, und aus Kommunikation und Kooperation wurden Feindschaft und Segregation.
Es ist ein großes Verdienst von Mathias Gredig und Matthias Schmidt, diese spezifischen Quellen aufgespürt und den Kolleginnen und Kollegen zur Verfügung gestellt zu haben. So ist ein facettenreiches, differenziert belegtes Panorama der Salonorchester entstanden, dass gleichzeitig neue Aspekte zum Engadiner Tourismus und der örtlichen Hotelgeschichte enthält, aber auch weit über das Regionalspezifische hinausgeht.