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Daniel Habit/Christiane Schwab/Moritz Ege/Laura Gozzer/Jens Wietschorke (Hg.)

Kulturelle Figuren. Ein empirisch-kulturwissenschaftliches Glossar. Festschrift für Johannes Moser

(Münchner Beiträge zur Volkskunde 49), Münster, New York 2023, Waxmann, 324 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8309-4801-8


Rezensiert von Esther Gajek
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 09.10.2025

„Festschrift“ – der Begriff lässt in akademischen Kreisen an die Ansammlung von Beiträgen zu einem Thema denken, das den Jubilar beziehungsweise die Jubilarin lange beschäftigt hat, und die Gratulierenden aus dem engeren oder weiteren Umkreis, die sich in Freundschaft oder in Abhängigkeit verbunden fühlen, höchst heterogen fortführen, mal kürzer, mal länger, mal mehr, mal weniger treffsicher. Viele dieser Veröffentlichungen gehen leider eher unter, als dass sie nachwirken, und ein großes, geschlossenes Lesevergnügen stellen sie auch nur selten dar.

Bei dem vorliegenden Buch, erschienen zum 65. Geburtstag von Johannes Moser, dem Münchner Lehrstuhlinhaber und Vorstand des Instituts für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie, verhält es sich anders: Der Band buchstabiert ein Thema, das der kulturellen Figur, durch und weiter – und das gleichzeitig auf eine versierte wie angenehme, unterhaltsame, gut zu lesende und immer wieder höchst anregende Weise, so dass die Lektüre zum Vergnügen wird und zum Denken anregt. Die fast vierzig Beiträge stammen aus dem Münchner Kollegium und dem akademischen Freundeskreis des Jubilars. Durch die Kürze der Beiträge, keiner ist mehr als zehn Seiten lang, wird deren Lektüre nie ermüdend, denn die Themen sind vielseitig, werden schwungvoll, mitunter pointiert angerissen und sind jeweils mit Sekundärliteratur hinterlegt, so dass der Wissensdurst auch befriedigt wird. Alle zeichnen sich zudem durch gute Lesbarkeit und ein breites Spektrum dieser kulturellen Figuren aus. Ihre Anordnung erfolgt alphabetisch: von A wie „Aufsteiger(:in)“ über „Expat“, „Steirerbua“ bis Z wie „Zuogroaster“. Einige der thematisierten Figuren – wie die genannten – spielen auch direkt auf den Jubilar, Johannes Moser an. Es fehlt also nicht einmal an Ironie, nach aller gebührenden Würdigung im Vorwort.

Ziel des Bandes ist es, das „kulturanalytische Potential einer Perspektive“ auszuloten, „die Figuren und Figurierungen als ein wesentliches Element kultureller Ordnungen betrachtet“ (10). Diese dienten der Einordnung und Orientierung in einer komplexen Welt, verwiesen oft auf Stereotypen und Bezugssysteme und konkretisierten sich immer medial; „Hybride aus Fiktion und Realität“ (12) würden vom Individuellen auf Gesellschaftliches verweisen und seien damit für die Kulturwissenschaft äußerst aussagekräftig.

In der Einleitung von Jens Wietschorke und Moritz Ege, die sich in ihren Veröffentlichungen bereits mit kulturellen Figuren wie dem „Wiener Typen“ beziehungsweise dem „Proll“ eingehend beschäftigt haben, wird die Genese der kulturellen Figur vorgeführt: Aus der Literatur des 19. Jahrhunderts kommend („Bürger“, „Flaneur“), in Sozialbeschreibungen der Zwanziger Jahre weiterlebend („Die Angestellten“), taucht sie in der Soziologie der 1960er Jahre auf („Arbeiterkind“) und wird dann zum wissenschaftlichen Konzept, das „nicht einfach auf nur handelnde Individuen verweist, sondern immer auch auf eine ganze, sozial wie kulturell zu definierende Gruppe, und als solches auch imstande ist, wesentliche Züge des Zustands einer Gesellschaft allgemein zu spiegeln“ (13). Monografien zu „Nerds“, zum „nomadischen Subjekt“ oder zu „Vagabunden“ seien Beispiele dafür. Aus dem Forschungsüberblick geht hervor, dass es ganz verschiedene Bezeichnungen für das Konzept der Figur gibt: Wietschorke und Ege nennen unter anderem „social types“ (Orrin E. Klapp), „Kulturcharaktere“ (Wolfgang Lipp), „Kulturfiguren und Sozialcharaktere“ (Gerd Stein), „Sozialtypen“ (Stephan Moebius, Markus Schroer) oder „soziale Figur“ (Johanna Rolshoven). Wietschorke und Ege haben bereits 2014 „Figur und Figurierungen in der empirischen Kulturanalyse“ methodologisch pointiert und entwickeln diese Überlegungen nun in der Einleitung von 2024 weiter. „Kulturelle Figur“ stehe für einen „dezidiert kulturwissenschaftlichen Ansatz, der literarisch-idiografischen Perspektiven, der konstitutiven Medialität von Figuren und Figurierungen sowie ihren performativen Aspekten Rechnungen trägt“ (15) und die permanente Konstruktion der Figuren betone. Folgende Charakteristika seien in diesem Zusammenhang wichtig: „Kulturelle Figuren leben von der Evidenz“ (16), sie „sind nicht einfach nur Rollen oder Rollenbilder“ (17) oder gar Posen, sondern stabiler. Sie werden immer medial repräsentiert, permanent ausgehandelt, „haben zeitdiagnostisches Potential“ (19), das heißt sie bringen Themen der Zeit auf den Punkt und sie sind gleichzeitig Praxis der Konstruktion wie der Dekonstruktion, wenn sie „soziale Zugehörigkeiten, Wertigkeiten, Differenzen und Ungleichheiten“ (21) vorführen wie neu verhandeln.

Bei den Beiträgen lassen sich Unterschiede feststellen: Einige handeln von historischen Figuren („Schlawiner:in“), die meisten von zeitgenössischen („Urban Gardener“), andere verbinden die Zeithorizonte („Heiratskandidat:in“). Es gibt Artikel, die über eine andere Erfahrungswelt schreiben („Citizen Scientist“, „Detektivin“, „Der echte Wiener“, „Terrorist“, „Vanilla Girl“) wie solche, die vom Eigenen handeln („Feministen*“, „Gast“, „Professorin“, „Nachwuchswissenschaftlerin“, „Beobachter:in“). Methodisch wird Letzteres weniger thematisiert, was angesichts der Kürze der Beiträge und gewünschten Zuspitzung sicher vertretbar ist, aber Potential für weitere Forschungen bergen würde. Rolf Lindner deutet das in seinem Beitrag über den „Hustler (academic and otherwise)“ an, wenn er herausarbeitet, wie nahe sich Forschende und „Hustler“ mitunter sind: „Die Anweisungen für den:die Feldforscher:in entsprechen exakt der Kardinaltugend für Hustler, etwas durch Kleidung, Sprache und Haltung vorzutäuschen, um das Vertrauen des Gegenüber zu gewinnen“ (161). Und Eveline Dürr hebt ausdrücklich hervor: „In die Figur der ‚Beobachter:in‘ bin ich als Ethnologin selbst verstrickt.“ (57)

Auch in ihrem Ansatz unterscheiden sich die Aufsätze: Manche reißen ein Thema an („Die Arbeitsassistenz“, „Civil Servant“), andere vertiefen bereits Erforschtes („Der echte Wiener“, „Ossis und Wessis“), präzisieren den Unterschied zwischen kultureller Figur und Rolle („Der:die Geschworene“), weitere nützen die Gelegenheit zur essayistischen Darstellung („Gast“),  wieder andere zur politischen Stellungnahme („Die:der Flüchtling“, „Querdenker:in“) oder als Aufruf für eine bestimmte Arbeitsweise („Der:die Kollaborateur:in“). Auch das ist ein großes Verdienst des Bandes: Alles hat seinen Platz, steht gleichberechtigt nebeneinander und verfügt über Potential, hier anzuknüpfen und weiter zu denken wie zu forschen.

Noch ein letzter Punkt sei aufgeführt: Die meisten der kulturellen Figuren werden zwar im Inhaltsverzeichnis gegendert, aber nur wenige sind weibliche Figuren, eine Tatsache, die Walter Leimgruber in „Aufsteiger:in?“ mit dem Fragezeichen und einschlägigen Passagen kritisch anmerkt (vgl. 41). Hier bestünde weiteres Forschungspotential, gezielt diese – zum Beispiel in einem weiteren Band – in den Blick zu nehmen. Bereits eine erste zufällige Sammlung von Begriffen zeigt, welche Stereotypisierungen und damit indirekten Zuschreibungen bei den weiblichen kulturellen Figuren enthalten sind: „die kluge Hausfrau“, „die Schwiegermutter“, „die Muse“, „die brave Tochter“, „die Frau an seiner Seite“, „die Rabenmutter“, „der „Blaustrumpf“, „die Emanze“, „das leichte Mädchen“ und so weiter.  

Selten, dass ein Fachbuch so kurzweilig geraten ist! Man liest mit Gewinn für das Thema, aber auch einfach so, zur Unterhaltung. Und dass die Beiträge dann auch noch dazu anregen, weitere Bände zu konzipieren und zum Beispiel in Seminaren neue „kulturelle Figuren“ zu entdecken – was will man mehr?