Aktuelle Rezensionen
Frank Matthias Kammel (Hg.)
Crazy Christmas. Weihnachtskrippe und Zeitgeist
Bayerisches Nationalmuseum München 2023, 145 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-925058-92-9
Rezensiert von Esther Gajek
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 09.10.2025
Es ist ein mutiges Unterfangen in einer so ehrwürdigen Institution wie dem Bayerischen Nationalmuseum mit seiner Sammlung kostbarster Krippen in einer Ausstellung 2023 diese „crazy“ Krippen aus der jüngsten Vergangenheit und nächsten Gegenwart zu zeigen! Viele davon in leuchtenden Farben, manche gänzlich abstrahiert, einige fast blasphemisch und viele voller Ironie!
1970 hatte der damalige Generaldirektor, Lenz Kriss-Rettenbeck (1923–2005), bereits eine Krippe von Rupert Maria Stöckl (1923–1999) ausgestellt, die nun 2023 wieder zu sehen ist: gegossene Figuren, mehrfarbig gefasst, auf einer Bodenplatte montiert, umgeben von Fantasiewesen und einer Architektur aus industriell hergestellten Versatzstücken – ein Exponat, das damals große Diskussionen ausgelöst, aber auch viele Freunde gefunden hatte und als adäquater Ausdruck der Zeit verstanden wurde. 1973 wurde dann bei Anton Hiller (1893–1985) eine Krippe in Auftrag gegeben, die aus bereits vorhandenen stilisierten Bronzefiguren bestand, die durch ihre reine Anordnung zu Krippen-Figuren wurden. Doch bereits 1977 endete das Bekenntnis zur zeitgenössischen künstlerischen Krippe: Die ausgestellte Krippe „Nativity“ (1961), eine großformatige mixed-media-Figurengruppe des US-amerikanischen Künstlers Edward Kienholz (1927–1994) im Stil des Neo-Dadaismus löste einen Skandal aus, der fast fünfzig Jahre lang zum Erliegen einer intensiven Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Künstler-Krippen führte.
Der aktuelle Direktor des Bayerischen Nationalmuseums (BNM), Frank Matthias Kammel und sein Mitarbeiter und Initiator der Ausstellung, Thomas Schindler, Kurator der hauseigenen Sammlung, knüpfen hier an. Das Einleitungskapitel „Schrille Nacht. Die Weihnachtsgeschichte als optische Herausforderung“ dient Kammel dazu, aktuelle, europäische Beispiele der Krippenkunst im weitesten Sinne vorzuführen und deren Bezüge zur Gegenwart zu erklären: Figuren, die zum Beispiel auf die jeweilige Stadt oder aktuelle Ereignisse wie die Pandemie anspielen, regionale Alltagspraxen festhalten oder filmische Vorbilder variieren. Nicht immer, so der Autor, stießen die Werke auf Zustimmung, denn bei Weihnachtskrippen gäbe es eine spezifische, eher konservative Erwartungshaltung, obwohl die „Strategie der buchstäblichen Vergegenwärtigung der Geburt beziehungsweise Anbetung Christi in den bildenden […] Künsten nicht neu und seit Jahrhunderten aus unterschiedlichen Gründen gepflegt worden ist“ (14). Anhand zahlreicher zweidimensionaler Darstellungen der Weihnachtsgeschichte wie auch vieler Beispiele von Weihnachtstexten sowie exemplarischer Krippen führt Kammel vor, wie das „Bethlehem-Ereignis“ jeweils aktualisiert und entsprechend der Zeit gedeutet wird und werden muss. „Insofern sind auch moderne, die Gegenwart einbeziehende Darstellungen der Weihnachtsgeschichte nicht nur aktualisierende Rückgriffe auf das aus biblischer Zeit überlieferte Geschehen, sondern im Sinn von ‚Ewigkeitskonzepten‘ Träger eines Spannungsbogens zwischen diesem Ereignis und seiner fortwährenden Vergegenwärtigung, in dem Vergangenheit und Gegenwart zusammenfallen.“ (28)
Den zweiten Teil des Kataloges nimmt die Sammlungs- und Forschungsgeschichte ein. Thomas Schindler beginnt mit der Nennung des Grundsatzkonfliktes zwischen den „Traditionalisten“ und „Modernisierern“ in der Krippenbewegung und beleuchtet dann ausführlich die Genese der hauseigenen Sammlung wie das Werk dessen Begründers, Maximilian Schmederer (1854–1917). Die rund 20.000 Einzelteile umfassende Sammlung entstand über Jahrzehnte, wurde seit 1900 im BNM ausgestellt und wirkte stilbildend in ihren Inszenierungen mit Panoramen, Architekturen und Beleuchtung. Manche Aufstellungen beruhten auf Quellen, aber im Grunde, so Thomas Schindler, handele es sich um ein sehr subjektives Agieren Schmederers: „Gesammelt wurde, was gefiel, und arrangiert wurde, was der eigenen Fantasie entsprach.“ (43) Mehrere Konservatoren haben die Sammlung betreut und durch ihre Forschung, die Schindler kurz andeutet, Entscheidendes zum Verständnis der Krippe beigetragen: Georg Hager, Rudolf Berliner, Wilhelm Döderlein, Lenz Kriss-Rettenbeck und Nina Gockerell.
Im abschließenden, ausführlichen Katalogteil werden die Exponate kontextualisiert, in Details und Totalen fotografisch festgehalten sowie genau beschrieben. Eine davon ist die in neonähnlichen Farben gehaltene, acht Meter lange, zweidimensionale Krippe – die Titelillustration des Kataloges. Der Grafiker Walter Tafelmeier (*1935) hatte sie für das Funkhaus des Bayerischen Rundfunks entworfen und dort einmalig 1969/1970 aufgestellt. Sie war anschließend in das Depot des BNM gelangt, wurde jetzt entdeckt und gab den Anstoß für die Ausstellung. Maria trägt Afro-Look und sitzt vor einer Landschaft, die an das Cover des zeitgleich erschienenen Albums der Beatles „Yellow Submarine“ erinnert – farbenfroh und virtuos auf Aktuelles anspielend. Andere Werke kamen für die Ausstellung erst vor kurzem in den Besitz des BNM und ergänzen jetzt die großen historischen Bestände um zeitgenössische: die Weihnachtkrippe der „international bekanntesten italienischen Krippenkünstlerin“ (89) Angela Tripi (*1941), die in der sizilianischen Tradition des Stoffkaschierens auf Holz- oder Tonkörpern arbeitet; Rudi Bannwarth (*1962) mit seinen großformatigen Szenen einer Geburt auf der Baustelle, klassisch aus Lindenholz geschnitzt und farbig gefasst, mit einem bettelnden Keith Richards, einem am Rand stehenden Ministerpräsidenten Söder und einem skeptischem Engel; Krippenfiguren als sogenannte Fadengaukler des Oberammergauer Schnitzers Markus Wagner (*1959) und die vier miniaturhaften, hintergründigen Szenen „Pericolo“, „Epiphania“, „Candelaria“ und „Assunzione“ von Peter Sauerer (*1958), bei denen zeitgenössische Themen und Figuren auftauchen, die nur noch von Ferne an die biblischen erinnern oder gar nichts mehr mit der Heilsgeschichte zu tun haben, wie die Figur des BNM-Generaldirektors in „Candelaria“. Am Beispiel der Figuren von Barbara Lorenz Höfer (*1958) wird wiederum gezeigt, wie aktuelle Krippen ikonografische Details der historischen aufnehmen, sie variieren und weiterbuchstabieren.
„Crazy Christmas“ versammelt eindrucksvolle Beispiele für die Lebendigkeit einer großen künstlerischen Tradition. Man wünscht sich einen ähnlichen Band, der ganz der Alltagskrippe gewidmet sein sollte: den massenhaft produzierten gegossenen oder gefrästen Figuren, auch gerne eine anthropomorphisierende Bade-Enten-Krippe zeigend, das Ephemere einer Wurstkrippe abbildend, das Spielzeughafte einer Playmobil-Krippe vorführend, das Tiefgründige von Krippenfiguren aus Patronenhülsen erläuternd – auch das alles ist sammlungs- und ausstellungswürdig, hat mit „Crazy Christmas. Weihnachtskrippe und Zeitgeist“ zu tun.