Logo der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Kommission für bayerische Landesgeschichte

Menu

Aktuelle Rezensionen


Silva Semadeni/Societá Storica Val Poschiavo

Geboren im 19. Jahrhundert. Geschichten von fünf Puschlaver Frauen

Chur 2023, Somedia, 344 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-907095-64-5


Rezensiert von Esther Gajek
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 09.10.2025

„Geboren im 19. Jahrhundert“ – das klingt etwas trocken, und auch der Untertitel „Geschichten von fünf Puschlaver Frauen“ verspricht noch nicht viel. Dabei steckt in diesem Band Großartiges: Geschlechterforschung, Sozial- und Regionalgeschichte, interkonfessionelle Zusammenhänge, Migrations- und Wirtschaftsgeschichte, aber auch Mentalitätsforschung, Technikgeschichte und Genealogie. Das alles wurde von Silva Semadeni akribisch und fundiert erforscht. Die Autorin ist in der italienischsprachigen Schweiz, in Poschiavo aufgewachsen, studierte Geschichte, Volkskunde und italienische Literatur an der Universität Zürich. Sie war in Chur als Lehrerin, in Bern als Politikerin tätig und ist Gründungsmitglied der Historischen Gesellschaft Val Poschiavo, die die vorliegende Publikation, eine leicht überarbeitete Version der 2022 erschienenen italienischen Ausgabe „Le cinque ave. Storie di donne poschiavine dell’Ottocento“, herausgegeben hat. Der Band knüpft inhaltlich an eine 2009 abgeschlossene, vierbändige Forschungsreihe „FrauBünden“ des Frauenkulturarchivs in Chur an.

In bester Manier einer Prosopografie, individuelle Lebensläufe nachzeichnend, zu denen sich wenige Ego-Dokumente erhalten haben, führt Semadeni vor, was sich aus externen Quellen herauslesen lässt, auch wenn die Frauen selbst kaum etwas Schriftliches hinterlassen haben – ein Umstand, der für Forschung über Frauen leider nur allzu typisch ist. Ausgangspunkt ihrer Untersuchung bildet eine Fotografie von circa 1884 aus ihrer Familie, in der fünf Frauen aus drei Generationen abgelichtet wurden: Großmutter, Mutter und drei Enkelinnen – eine davon ist die Urgroßmutter der Autorin. Durch die intensive Recherche und Durchsicht einer großen Zahl von Quellen in vier Sprachen (italienisch, deutsch, dänisch, spanisch) kommt dann doch erstaunlich viel über die fünf Frauen und die Gesellschaft, in der sie gelebt haben, zu Tage: Einträge in Kirchenbücher enthalten Daten zu Geburten, Patenschaften, Konfirmationen, Hochzeiten und Beerdigungen; Anzeigen in den örtlichen Zeitungen werben für Eröffnungen von Lokalen der jeweiligen Familien; Amtsblätter teilen Konkursverfahren mit; Todesanzeigen führen Sterbedaten und Angehörige der Verstorbenen auf; Volkszählungen machen deutlich, wer wann wo lebte; Schulverzeichnisse weisen Ein- wie Austritte auf, Zeugnisse die jeweiligen Leistungen, Lehrpläne die zu vermittelnden Inhalte; Meldebögen in Dörfern und Städten dokumentieren die (zahlreichen) Umzüge vor allem ins Ausland; Ortsmonografien verzeichnen typische Jahresbräuche; die Lektüre noch erhaltener Briefe und Postkarten führt die (engen) familiären Bindungen und die großen Entfernungen zwischen Familienmitgliedern sowie deren lange Reisen vor; Autobiografien von (männlichen) Verwandten berichten von persönlichen Einschätzungen und Erlebnissen einzelner Angehöriger; Ortspläne zeigen die Lage der Gebäude und die Größe der zugehörigen Wirtschaftsflächen; die noch vorhandenen Häuser, sogenannte Zuckerbäcker-Paläste, künden von gehobenen Ansprüchen an das Wohnen wie dem Wunsch, seinen im Ausland erworbenen Wohlstand in der Heimat auch nach außen hin zur Schau zu stellen und im Alter den Ruhestand im Dorf zu genießen; Donationen für Schulen, Krankenhäuser, Straßenbeleuchtung, Brunnen, angelegte Parks oder Wasserleitungen geben ein weiteres Zeugnis des Reichtums ab, der durch die zurückgekehrten Auswanderer in die eher bescheidenen Dörfer und Städte gelangte.

Keine der Frauen, deren Leben nachvollzogen wird, hat im größeren Stil Autobiografisches hinterlassen, und doch gelingt es Silva Semadeni mit den vielen Mosaiksteinen archivalischer Recherche ein facettenreiches Bild aller fünf zu zeichnen. Aber es ist viel mehr als eine Fallstudie zu Schweizer Arbeitsmigrantinnen des 19. Jahrhunderts entstanden. Die Studie gibt Einblicke in wichtige Aspekte der Geschichte Graubündens. Wegen Hungersnöten und Naturkatastrophen, aber auch aus Abenteuerlust und um Wohlstand zu erlangen, wanderten Bündner im großen Stil in europäische Länder aus. Sie arbeiteten dort vor allem als sogenannte Zuckerbäcker, eröffneten, tausende Kilometer entfernt von ihrer Heimat und oft unterstützt von einem verwandtschaftlichen Gefüge und ihren Ehefrauen, Cafés und Restaurants, die zum Teil großes Renommee genossen und mancherorts bis heute existieren. Torten, Kuchen, kandierte Früchte, aber auch Eis, Limonaden und Liköre standen auf den Speisekarten hunderter Gastronomiebetriebe in Städten vom Atlantik bis zur Schwarzmeerküste, die zum Treffpunkt einer neuen sozialen Schicht, des Bürgertums, wurden.

Die erste im Buch vorgestellte Frau, Orsola Lardelli-Lardelli (1816–1890), heiratete ihren Cousin. Das war nicht unüblich, denn die Reformierten, zu denen die hier porträtierten Familien gehörten, lebten lange Zeit getrennt von der katholischen Mehrheit, und die Auswahl an Heiratskandidaten war entsprechend klein. Zudem versuchte man durch die Heirat in der Verwandtschaft, familiären Besitz zusammen zu halten. Orsolas Mann stammte aus einer Zuckerbäcker-Dynastie, die Firmenanteile in Triest und Kopenhagen besaß. Weil sich das Miteinander der drei Firmeninhaber – alle aus dem Puschlav stammend und (wie oft üblich) zum Teil miteinander verwandt – als schwierig darstellte, erfolgte der Rückzug der Familie Lardelli von Dänemark nach Poschiavo. Doch schon bald zog Orsolas Ehemann nach Pamplona, Spanien, wo er sich eine neue Existenz als Caféhausbetreiber aufbaute, und die Familie nachholte. Die Biografie von Orsola steht exemplarisch für viele andere Ehefrauen, die ihre Ehemänner unterstützten, Kinder zur Welt brachten, zahlreiche familiäre wie finanzielle Schicksalsschläge zu verkraften hatten und in verschiedenen Ländern lebten, aber im Alter oft in ihre Heimat zurückkamen.

Die Biografie von Orsolas Mutter, Barbara Lardelli-Tosio (1779–1857), die nicht auf dem genannten Foto abgebildet ist, zeigt ein anderes Verhalten. Dazu hat die Autorin ebenfalls Quellen gefunden und ausgewertet. Barbara kehrte nach dem Tod ihres Mannes nicht in die Heimat, sondern nach Kopenhagen zurück, und führte die Konditorei ihres Mannes selbstständig erfolgreich weiter, auch indem sie musikalische Darbietungen anbot – ein Novum für die Zeit. Sie scheint insgesamt sehr innovationsfreudig gewesen zu sein, denn sie gehörte zu den ersten, die in dem neuen Vergnügungspark Tivoli, der in den Sommermonaten bewirtschaftet wurde, eine Gastronomie betrieben.

Die Tochter von Orsola beziehungsweise Enkelin von Barbara hieß Angelina Olgiati-Lardelli (1840–1890). Sie heiratete mit 19 Jahren ihren Cousin Tomaso, der zum Partner ihres Vaters in Pamplona wurde. Die Geschäfte liefen dort so erfolgreich, dass Tomaso schon drei Jahre nach der Hochzeit ein mehrstöckiges Herrenhaus mit Ökonomiegebäude und Garten in der Heimat, im Puschlav, errichten ließ – Sinnbild seines Erfolges. Von den elf Kindern des Paares überlebten drei Töchter, von denen das vorliegende Buch ebenfalls handelt. Orsolas Mann verschied, als sie 35 Jahre alt war. Danach lebte sie bis zu ihrem Tod im neu gebauten Haus, das geräumig war und ihren in der Stadt entstandenen Ansprüchen genügte.

Die älteste Tochter, Leonita Jochum-Olgiati (1860–1935) blieb – nach den Jahren in Pamplona – als einzige der Familie durchgehend im Puschlav wohnen. Ihr Mann war erfolgreicher Unternehmer mit einer eigenen Weinhandlung, baute eine Zigarrenfabrik auf, vermittelte Lebensversicherungen und betrieb ein öffentliches Bad.

Eugenia Semadeni-Olgiati (1863–1929), die zweite Tochter, lebte nach der achtjährigen Schulzeit im Haushalt ihrer Mutter, wurde mit 16 Jahren konfirmiert, heiratete mit 22 Jahren und zog als erste der Familie auf die Alpennordseite der Schweiz. Hier zeigt sich ein eklatanter Unterschied zu den Biografien früherer Familienmitglieder, denn die Migration außerhalb der Schweiz hatte inzwischen die Anziehungskraft verloren. Samuele Semadeni, ihr Ehemann, war Spengler und vielseitig beruflich wie privat engagiert. Nach einer erfolglosen Phase kam er durch den Umzug nach Arosa, in dem dort blühenden Baubetrieb zu Wohlstand und Ansehen. Vier Kinder gingen aus der Ehe hervor. Die drei Töchter machten Ausbildungen in der Telegrafenagentur in Arosa, der Sohn studierte Ingenieurswissenschaften.

Zuletzt wird Angelina Pozzy-Olgiati (1869–1956), die jüngste der drei Töchter, porträtiert, die – eine Novität für die Zeit – jenseits des Heimatortes den Beruf der Schneiderin erlernte. Nach der Hochzeit mit 22 Jahren folgte sie ihrem Mann, einem Caféhausbetreiber, ganz traditionell nach Vigo an die spanische Atlantikküste, rund 2.000 Kilometer entfernt von Poschiavo. Acht Kinder entstammten dieser Ehe. Die erhaltenen Briefe ihres Mannes an seinen Partner und Cousin geben einen guten Eindruck von aktuellen familiären und geschäftlichen Problemen, allen voran dem Druck der Puschlaver Gesellschafter. Die Briefe und Postkarten von und an Angelina behandeln eher familiäre Themen, besonders die Frage nach einem Wiedersehen. Um 1900 verebbte die Erfolgswelle schweizerischer Cafés im Ausland; die Familie kehrte 1908 endgültig zurück. Nach dem Tod ihres Mannes 1911 betrieb Angelina als Witwe selbstständig das neu gebaute Bahnhofsbuffet.

Immer wenn Belege zu den Familien fehlen, wertet Silva Semadeni andere Quellen aus der gleichen Zeit und zu ähnlichen (familiären oder wirtschaftlichen) Zusammenhängen aus, so zum Beispiel Briefe von Zeitgenossinnen, die über ihre hauswirtschaftlichen Tätigkeiten in die Heimat berichten. Es gibt aber auch Themen, zu denen sich keine Belege finden lassen wie der Alltag der Frauen, der durch vieles geprägt war: Schwangerschaften, Geburten, Kindererziehung und die emotionalen Belastungen mitunter jahrelanger Abwesenheit der Ehemänner oder der eigenen Kinder, Verlust von Angehörigen oder anstrengende, wochenlange Reisen zwischen Heimat und Arbeitsort, ganz zu schweigen von Kochen, Bevorraten, Waschen und vielem mehr. Indirekt kann hier mitunter doch zurück auf den Alltag geschlossen werden, wenn Silva Semadeni zum Beispiel die Belege zitiert, aus denen hervorgeht, dass die Wasserleitungen in Poschiavo 1887 in die Häuser gelegt wurden. So hieß das im Umkehrschluss, dass kein Wasser mehr von den öffentlichen Brunnen geholt werden musste; ebenso machen Eintragungen zu Lebensmittelkäufen im Ausgabenbuch einer (mit den fünf Frauen verwandten) Familie deutlich, dass man aufgrund steigenden Wohlstands vieles zukaufte und nicht mehr selbst gebuttert oder Brot gebacken hat und keine Hühner mehr hielt.

Es ist genau diese gelungene Mischung aus Mikrokosmos wie Makrokosmos, das Verweben von fünf Biografien in die jeweilige Zeitgeschichte, die diesen Band zum großen Lesevergnügen machen. Natürlich stehen die fünf Frauen im Vordergrund, an ihnen zeichnet die Autorin Familiengeschichte nach, aber sie geht weit darüber hinaus. Übergeordnete Themen werden grafisch durch grau hinterlegte Seiten vom Fließtext abgesetzt. Hier ist von rechtlichen Zusammenhängen die Rede, dass Frauen durch Heirat ihre Staatsbürgerschaft wie die Rechte an ihrem Eigentum verloren und dass sie nach dem Tod des Ehemannes unter männliche Vormundschaft gerieten. In Ausnahmefällen besaßen sie aber auch weitreichende Befugnisse für Entscheidungen. Medizinhistorische Zusammenhänge werden genannt: hohe Kindersterblichkeit von über 50 Prozent im ersten Lebensjahr; Hausgeburten mit Hebamme; eine ungenügende Gesundheitsversorgung und späte Krankenhausgründungen. Die Autorin verweist auf familiäre Beziehungen, in denen es frühe Ehen unter Verwandten gab, zum Teil alleinerziehende Mütter, die fern von ihren Männern in der Heimat blieben; schulpflichtige Kinder, die von Verwandten aufgezogen wurden und erst nach der Konfirmation ins Ausland, zu den Eltern, zogen. Semadeni kommt auf die Besonderheit der reformierten Gemeinde zu sprechen, den engen Zusammenhalt untereinander, der das Leben in der Heimat prägte und besonders im Ausland. Sie vollzieht Ortsgeschichte nach, indem sie schildert, wie die Rückkehrer das Ortsbild durch ihre Gebäude prägten und ihre gestiegenen Ansprüche zum Beispiel an Komfort in ihrer Heimat geltend machen. Auch von der Entwicklung der Caféhäuser in den europäischen Städten ist die Rede, ihrer Verbreitung, dem diversifizierten Warenangebot, den Räumlichkeiten mit Vergnügungsmöglichkeiten wie auch dem Versuch, mit immer neuen Attraktivitäten eine größere Kundschaft zu erreichen.

Was für ein gut lesbares, hoch interessantes, reich illustriertes Buch ist hier entstanden! Vor der Forschungsleistung, besonders der Quellenarbeit der Autorin, kann man nur den Hut ziehen. Wie schön wäre es, noch mehr Bände dieser Art zu Bündner Frauen und ihren Geschichten im 19. und 20. Jahrhundert würden folgen.