Aktuelle Rezensionen
Esther Tisa Francini/Alice Hertzog/Alexis Malefakis/Michaela Oberhofer (Hg.)
In Bewegung: Kulturerbe aus Benin in Schweizer Museen
Zürich 2024, Scheidegger & Spiess, 119 Seiten mit Abbildungen, 978-3-03942-197-8
Rezensiert von Brigitta Hauser-Schäublin
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 09.10.2025
Das Buch bildet den Abschluss der seit 2021 existierenden Benin Initiative Schweiz (BIS), in der sich acht Museen mit insgesamt 96 Objekten des ehemaligen Königreichs Benin (heute Republik Nigeria) zusammengeschlossen haben, um „pro-aktiv“ mit nigerianischen Partnerinnen und Partnern Provenienzforschung zu betreiben. Federführend war das Museum Rietberg Zürich, das 2024 publikationsbegleitend eine Ausstellung „Im Dialog mit Benin. Kunst, Kolonialismus und Restitution“ eröffnete. Beides, Publikation und Ausstellung, sind bezüglich Vokabular, Methodik und Inhalt geprägt vom internationalen postkolonialen Aktivismus zur Provenienz der Benin Artefakte, die sich in europäischen und US-amerikanischen Museen befinden. Diese Aktivitäten verkörpern das, was Patrick Bahners als „Kampagne“ bezeichnet.1 Sie dienen nicht der Meinungsbildung einer breiten Öffentlichkeit, sondern deren Mobilisierung, um einen kulturpolitischen Druck mit dem Ziel der „Restitution“ zu erzeugen. Die Schweizer Benin Initiative arbeitet im Gleichschritt und in engem Schulterschluss mit deutschen Kolleginnen und Kollegen und Institutionen zusammen. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass vier (darunter drei Museumsdirektorinnen) von fünf Hauptakteurinnen der BIS aus Deutschland stammen.
International wurde diese Kampagne durch die 2010 gegründete kollaborative Benin Dialogue Group mit Sitz in Hamburg initiiert. Sie wurde vorangetrieben durch die deutsche Regierungspolitik, die ausdrücklich postkoloniale Aktivitäten an ethnologischen Museen wünschte und förderte. Diese Tätigkeiten wurden wesentlich beeinflusst von der Provenienzforschung zu NS-Raubkunst und dem Bemühen Deutschlands um „Wiedergutmachung“. Bezüglich kolonialer Provenienzforschung sollte Deutschland international eine Vorreiterrolle übernehmen. Dies führte dazu, dass die deutsche Regierung die Eigentumsrechte an über 1.000 Objekten („Benin Bronzen“) in öffentlichen Museen 2022 an Nigeria übertrug – für „das nigerianische Volk“. Ein Jahr später übereignete der nigerianische Präsident, Muhammadu Buhari, sämtliche Benin-Objekte, auch diejenigen, die künftig von anderen Staaten zurückgegeben werden, dem Oba (König von Benin) als dessen Privateigentum. Mit dieser autokratischen Handlung, das nationale Kulturgüter (national cultural property) in das Privateigentum eines Monarchen transformierte, hebelte der Präsident die demokratischen Entscheidungsstrukturen sowie die kulturellen Institutionen des Staates – so auch die nationalen Museen – aus. International bewirkte diese Handlung eine Schockstarre. Andere Staaten setzten die Rückgabe ihrer Sammlungen aus, um weitere Entwicklungen abzuwarten. Deutschland – die politischen Verantwortlichen sowie die ihnen zudienenden Ethnologinnen und Ethnologen – stellte sich im Nachhinein auf den Standpunkt, dass es an „Nigeria“ sei (wer auch immer dies ist), über das Schicksal der Benin-Bronzen zu bestimmen. Dennoch unterstützte die deutsche Regierung den Bau eines privaten Museums in Benin-City mit 8,7 Millionen Euro (Stand März 2025). Sie hoffte, dass dort die Benin-Bronzen aus deutschen Museen aufbewahrt und ausgestellt würden. Diese Hoffnungen erwiesen sich als falsch.
Diese jüngsten politischen „Restitutions“-Entwicklungen in Nigeria werden weder in der Ausstellung des Museums Rietberg noch in der Publikation erwähnt – und schon gar nicht, dass die Rückgabe der Schweizer Museumssammlungen an „Nigeria“ das gleiche Schicksal erleiden, also beim Oba landen werden. Die Fotos des Nationalmuseums in Benin City im Buch sind irreführend, denn sie suggerieren, dass das Nationalmuseum die Endstation und der Staat der Eigentümer der Sammlung sein werden.
Ausstellungsbesucherinnen und -besucher sowie die Leserschaft des Buchs werden auf die Ziele der von postkolonialem Eifer getriebenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eingeschworen. Einzig die Sichtweise des Benin-Hofs des 21. Jahrhunderts auf mehr als 120 Jahre zurückliegende Ereignisse wurde zugelassen. Im Buch machen sich die Wissenschaftlerinnen nicht einmal die Mühe, die Vorgeschichte und den Ablauf der britischen Strafexpedition wenigstens stichwortartig und basierend auf Fakten, den Berichten damaliger britischer und lokaler Zeitzeugen, wiederzugeben.2 Indirekt stützen sie die – haarsträubende – Version heutiger Höflinge, die in der Ausstellung mit einem entsprechenden Animationsfilm untermauert wird.
Gezielte Monovokalität also. Dabei ist die in den „Benin-Bronzen“ verkörperte Weltgeschichte mit unterschiedlichsten Akteursgruppen durch Raum und Zeit – einschließlich Sammler, Museen und Wissenschaftler – vielstimmig: Das Rohmaterial (Messingreifen) stammten aus dem Rheinland (und anderswo). Für den transatlantischen Sklavenhandel erwarben europäische Händler damit von den Benin-Königen Sklaven, die diese auf systematischen Sklavenjagden gefangengenommen hatten. Die Restitution Study Group, Nachfahren von rund einer Million Sklaven, welche die Benin-Könige im Verlauf von 300 Jahren gegen Messingreifen verschacherten und daraus die royalen Bronzen anfertigen ließen, gehörte nicht zu den Dialog-Partnern, ebenso wenig die Nachfahren jener von der Benin-Elite vor Ort gehaltenen Sklaven oder unterworfenen Bevölkerungsgruppen. Die Restitution Study Group verlangt Miteigentum an dem „Blut-Metall“. Tatsächlich hätten die „Benin-Bronzen“ den Status eines Weltkulturerbes verdient, denn sie sind shared heritage, dem der europäisch-kapitalistische Eigentumsbegriff – Privateigentum – fundamental entgegensteht.
Das in Ausstellung und Publikation verwendete Vokabular ist moralisierend-wertend und basiert auf der Schablone von den brutalen Kolonialisten und den wehrlosen, edlen und kunstsinnigen Opfern. Dementsprechend ist der Tenor des Museums Rietberg und der BIS seit deren Gründung derselbe geblieben: Die indirekt auf britische „Plünderungen“ von 1897 zurückgehenden Benin-Sammlungen in Schweizer Museen sollen dem „ursprünglichen Eigentümer“ zurückgegeben werden. Eine entsprechende Eigentumsübertragung hat die BIS bereits vereinbart (31).
Die reich bebilderte, ansprechend gestaltete Publikation gibt im ersten Teil (40 Seiten) zuerst einen Überblick über die Tätigkeit der BIS. Eine Fotografie (18) zeigt die Sprecherin bei einer „Audienz“ beim prunkvoll inszenierten Monarchen. Unerwähnt bleibt, ob die Sprecherin, wie dies Texte und Videos über offizielle Besuche beim gegenwärtigen Oba zeigen, sich auch auf die Knie niederlassen, sich verneigen und in die Hände klatschend Lobpreisungen auf den König singen musste. Danach folgt die Schilderung der „kollaborativen Provenienzforschung“, in der auch Höflinge, Kunstschaffende und Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu Wort kommen. Insgesamt wird der Eindruck erweckt, dass Nigeria gar keine Benin-Sammlungen besitzt (42, 90) und die Interviewten erstmals in Europa solche sahen. Mit keinem Wort erwähnt die Herausgeberschaft, dass Nigeria unmittelbar nach der Unabhängigkeit in seinen Nationalmuseen in Lagos und Benin-City eine der weltweit besten und größten Benin-Sammlungen besaß.
Der zweite Teil der Publikation enthält „Objektbiografien“ (33 Seiten), Resultate der Provenienzforschung mit Beispielen von Objekten aus den an der BIS beteiligten Museen.3 Die Forschenden haben sich in erster Linie mit dem „Leben“ der Objekte, nachdem sie in britische Hände gefallen waren (als Kriegsbeute), befasst. Die Plastik eines Reiters (im Völkerkundemuseum der Universität Zürich) war kopflos als er in die Museumswelt gelangte (63–66). Frühere Kuratoren, so zeigt die Studie, waren bemüht aus dem Fragment eine vollständige (ergänzte) Plastik zu machen. Einen „doppelten Unrechtskontext“ weist die Untersuchung einer Reliefplatte im Musée dʼethnographie in Neuchâtel nach. Die Platte, die ebenfalls aus der britischen Kriegsbeute stammt, gelangte in jüdischen Besitz und wurde vom Nazi-Regime beschlagnahmt und ins Völkerkundemuseum in Wien überführt. Die Familie erhielt später das ihr entzogene Kulturgut zurück und veräußerte die Benin-Sammlung, darunter auch diese Reliefplatte aus dem 16. Jahrhundert, die 1952 ins Museum in Neuchâtel gelangte (71–73). Das Aufspüren von „Unrechtskontexten“ – ein Hauptanliegen postkolonialer Provenienzforschung – beschränkt sich jedoch auf die grausamen Taten von Europäern. Die Opferung von zu Sklaven gemachten Kriegsgefangenen im Königskult, die Enthauptungen und das Vergießen von Blut über die Ahnenaltäre mit den berühmten Benin-Bronzeköpfen (52 u. 96) ebenso wie die ständigen, auf Expansion, Unterwerfung und Vernichtung ausgerichteten Benin Angriffskriege auf Nachbargesellschaften und die professionell betriebene Sklaverei während Jahrhunderten (auch vorkolonialer Handel), werden nur marginal beziehungsweise als nicht wirklich belegt dargestellt. Zwar haben die Beninforschenden offensichtlich forensische Untersuchungen vornehmen lassen und Rauchspuren an Objekten festgestellt (28), die sie kurzerhand auf das Feuer, das drei Tage nach der britischen Einnahme von Benin ausbrach, zurückführen. Umgekehrt hat jedoch keines der beteiligten Museen Gedenkköpfe, die auf Königsaltären standen, daraufhin untersucht, ob sich Spuren menschlichen Blutes nachweisen lassen. Ausstellung und Publikation klammern die mehrfachen Benin „Unrechts- und Gewaltkontexte“ gezielt aus.
Der dritte Teil des Buches (33 Seiten) stellt Kooperationsprojekte vor allem mit Künstlerinnen und Künstlern vor, die im Rahmen der vom schweizerischen Bundesamt für Kultur maßgeblich geförderten Benin-Initiative in verschiedenen Museen verwirklicht werden konnten. Gesamthaft betrachtet, legitimiert das Buch als Teil einer Kampagne das auf „Restitution“ ausgerichtete Handeln der Benin Initiative Schweiz. Einen Beitrag zur Meinungsbildung von Laien – also den Steuerzahlern – leistet es nicht.
Anmerkung
1 Patrick Bahners: Kampagne in Deutschland. Bénédicte Savoy und der Streit um die Raubkunst. Springe 2023. Medial wirksame kulturpolitische Kampagnen sind, wie Bahners Buch zeigt, nicht neu. Bereits der Gründer des „Rheinischen Merkur“, Joseph Görres, propagierte 1815 die Heimführung der napoleonischen Beutekunst. Er organisierte „eine systematische Kampagne, mit dem Ziel, eine breite Öffentlichkeit auf die Rückgabe der in Paris zurückgehaltenen Werke einzuschwören“ (zitiert nach Bahners, S. 50).
2 Vgl. Staffan Lundén: Distorting history in the restitution debate. Dan Hicks’s The Brutish Museums and fact and fiction in Benin historiography. In: International Journal of Cultural Property 31,2 (2024), S. 202–225; 2024. DOI: https://doi.org/10.1017/S0940739124000225.
3 Zur Provenienz der Benin-Objekte in Schweizer Museen und deren zeitliche Zuordnung vgl. Audrey Peraldi u. Andreas Schlothauer: Objekte aus dem Königreiche Benin in Schweizer Museen. In: Kunst & Kontext #20 (2020), S. 9–24.