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Ulrich Morgenstern/Thomas Nußbaumer (Hg.)

Pathways in early European ethnomusicology. Pioneers and discourses

(Music traditions, Bd. 4), Wien 2024, Böhlau, 280 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-205-21917-0


Rezensiert von Bledar Kondi
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 09.10.2025

Wesentliche Teilmomente des Begriffsverständnisses von Musikethnologie sind immer von Bedeutung für die Fachgeschichte. Dazu zählen auch die Kategorien der Volkskultur, der Folklore und der Volksmusik, die zwar in der westlichen postmodernen Welt entscheidend an Wert verloren haben, aber nur unzureichend durch andere Bezeichnungen wie populäre Kultur, Ethnopoetik oder traditionelle Musik ersetzt werden können. Schon daher ist das Unterfangen der beiden Herausgeber Ulrich Morgenstern und Thomas Nußbaumer, sich der Frage nach unbekannten Vorreitern der Musikethnologie, ihren impliziten Theorien und nationalen Schulen im Europa vom 19. bis ins frühe 20. Jahrhundert zuzuwenden, beachtenswert. Die ersten systematischen Feldforschungen zu Musiktraditionen in Europa setzten eine Verbindung mehrerer geistwissenschaftlicher Sachgebiete und politisch-ideologischer Faktoren voraus. In diesem Zusammenhang versuchen die Herausgeber, musikalische Ethnografie, Ethnozentrismus und Kulturpurismus an ihrem zentralen historischen Punkt miteinander in Bezug zu bringen. Sie stellen verschiedene Herangehensweisen an diese Thematik gegenüber und machen deutlich, wie wichtig das Nachdenken über kulturspezifischen Sinn in der Musikforschung vor dem Hintergrund einer musikethnologischen Theoriebildung ist. Ausgehend von dieser Perspektive konzentrieren sich die Aufsätze auf drei miteinander verknüpfte Themen, Fragestellungen und Diskurse: 1. The history of ideas and the study of traditional expressive cultures; 2. Research motivations, theories and methods from a comparative perspective; 3. Scholarship and non-academic discourses: alliances and conflict (8).

Der vorliegende Sammelband ist in zwei komplementäre Hälften geteilt: „I. Author-centred studies“ und „II. National and Regional Studies“. Die erste Hälfte befasst sich mit einer bestimmten Reihe europäischer Sammler und Forscher, deren wissenschaftliches Erbe als Eckpfeiler für die musikethnologischen Studien in ihren jeweiligen Ländern gilt. Im Mittelpunkt steht diesbezüglich die Frage, auf welche Weise sich solche isolierten Sammlungen und Forschungen wissenschaftlich erschließen lassen, um dadurch über die gleichzeitigen und späteren Entwicklungen im musikethnologischen Bereich in Westeuropa und in den USA Aufschluss zu erlangen. Die Ausführungen der Autorinnen und Autoren sind durchweg schlüssig und vermitteln einen klaren Einblick in Leben und Werk der repräsentativen Musikforscher, ohne den politischen-ideologischen Zusammenhang in Osteuropa aus dem Blick zu verlieren.

Die Autorinnen und Autoren verfolgen das Ziel zu klären, in welcher Weise die Vorreiter der Musikethnologie und ihre Nachfolger auf musikalischem Terrain agierten und welche Forschungsstrategien und flankierenden Maßnahmen sie dabei verfolgten. Was man bei Oskar Kolberg (1814–1890) in Polen, August Friedrich Eichhorn (1844–1910) in Russland, Friedrich S. Krauss (1859–1938) in Österreich, Réthei Prikkel Marián (1871–1925) in Ungarn, Filaret Kolessa (1871–1947) und Osyp Rozdolskyi (1872–1945) in der Ukraine bemerken kann, ist ein klar artikuliertes Bewusstsein für das traditionelle Musikleben, für ihr repräsentatives Objekt, für den Umstand, dass vor allem innerhalb historisch-ethnografischer Quellen in entsprechenden Beschreibungen klare musikethnologische Begriffe und Methoden herausgebildet werden.

Bożena Muszkalska betont in ihrem Aufsatz, dass der Pionier der Musikethnografie in Polen, Oskar Kolberg „did not seek to place his views within a strict theoretical framework [but] expressed them in letters, … articles, or only ‚between the linesʻ (15). Sein Konzept der regionalen ethnografischen Monografie wurde zum Vorbild in Polen und anderen europäischen Ländern (22, 24). Anders Hammarlund widmet seinen Beitrag dem schwedisch-jüdischen Cantor Abraham Baer (1834–1894), dessen umfangreiche Sammlung von traditioneller Synagogenmusik in Europa wichtig für die ersten Schritte der schwedischen Musikethnologie in 19. Jahrhundert war (43). Baer „[was] not interested in folk tunes as carriers of some metaphysical Volksgeist [but rather] in the musical medium itself as a form of communication“ (56). Moisei Beregovski (1892–1961) war der einzige Musikwissenschaftler, der die jüdische Volksmusik in der Ukraine zwischen den beiden Weltkriegen systematisch untersucht hat. Laut Michael Lukin zeigt Beregovskis Sammlung, dass die jüdische „traditionelle Volksmusik an einem Ort existiere, der von der dörflichen Lebensweise entfernt war und an dem die meisten Lieder keine feste soziale Funktion hatten“ (136). Das Repertoire, das Beregovski zwischen den beiden Weltkriegen dokumentierte, spiegelt neben der Konservierungstendenz auch Auflösungsprozesse konservativer Lebensweisen wider. Vor allem die Modernisierung, Urbanisierung, Industrialisierung und Emigration haben stark die poetische Sprache vieler gesammelter Lieder unter den osteuropäischen Juden beeinflusst (137).

Der Schwerpunkt der ethnografischen Forschungsarbeit beschränkt sich zumeist auf das jeweilige nationale Terrain und im Verlauf der Beschreibung, Dokumentation, Transkription und Analyse verschiedener lokaler Musikpraktiken schält sich die für das gesamte osteuropäische Gebiet maßgebende Bedeutung der Volksmusik als sozialer Praxis und Symbol der nationalen Identität heraus. Deutlich wird in den Ausführungen, dass die ersten musik-ethnografischen Feldforschungen ein wissenschaftliches Forum für die Auseinandersetzung mit und die Kommunikation über Volksmusik, Politik und Gesellschaft etablierten, woraus sich eine beträchtliche Amplifikation musikethnologischer Potentialitäten und Kompetenzen ergab. Im Gegensatz zu den oben genannten Forschungen als Kultur-Insider, hat der französische Musikhistoriker, Kritiker und Komponist Julien Tiersot (1857–1936) weitgehend über die Vielfalt und Komplexität der Javanischen und Afrikanischen Musiktraditionen geschrieben und viele westliche Vorurteile herausgefordert (61). Obwohl „Tiersot did believe that Western music was superior to that of other ‚racesʻ“, so Marcello Sorce Keller – „[he] forcefully maintained that ‚musical ethnographyʻ was a necessary complement to the study of Western music history“ (65, 77). Auch der russische Musikethnologe Evgenii Gippius (1903–1985) war überzeugt, schreibt Olga Pashina, dass man die Volksmusik als Bestandteil der Musikgeschichte im lokalen, nationalen und globalen Zusammenhang erforschen sollte um den richtigen Platz und Wert der gesammelten Klangphänomena in ihrer kulturspezifischen Landschaft zu bestimmen (143, 156).

Der Beitrag von Tamila Dzhani-zade konzentriert sich auf den deutschen Gelehrten August Eichhorn (1844–1910/1911), der als erster Musikethnograf in Turkistan die erste umfassende Sammlung zentralasiatischer Musik im zaristischen Russland anlegte. Historische Rekonstruktionen des akademischen Diskurses über zentralasiatische Musik im ethnokulturellen Kontext der Sowjetzeit zielte darauf ab, eine solide Grundlage für nationale Musikgeschichten in dieser Region zu schaffen, die auf kritischem Wissen und nicht auf ideologischen Mythen beruhen sollten (197, 213). Disziplinäre Grenzen zwischen Musikwissenschaft, Ethnografie, Folklore, Geschichte und Sozialwissenschaft spielten zu diesem Zeitpunkt eine geringe Rolle. Es lässt sich dennoch festhalten, dass der Wert der einzelnen Beiträge in der Zusammenführung der getrennt geführten Forschungen über Volksmusikpraktiken liegt, bei der sich teilweise überraschende Vorgriffe auf die spätere amerikanische Schule der Musikethnologie ergeben.

Das Hauptziel des Artikels von Iryna Dovhaliuk und Larysa Lukashenko ist es, die Anfänge der galizischen Musikethnologie und die Entwicklung der Musikforschung in den folgenden Jahren zu untersuchen. Dies ist vor allem auf die Gründung der Wissenschaftlichen Gesellschaft Schewtschenko in Lwiw und der Ethnografischen Kommission zurückzuführen. Beide Autorinnen heben die Forschungsmethoden der galizischen Schule hervor: „The music ethnographer Osyp Rozdolskyi (1872–1945) … applied the method of ‚bush-nest researchʻ … to study the selected area. The method is based on dividing a large territory into smaller parts called ‚bushesʻ (meaning a number of villages connected in some way). … Rozdolskyi chose a village where he stayed and which was his base. [H]e would then observe the neighboring (one or two) villages [and] made reference recordings for comparing with what had been recorded in the main village (230).“

Anders als die erwähnten Forschungsanfänge in verschiedenen Länder Europas, wurde die ungarische Schule der Musikethnologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf der Grundlage der Entdeckung eines völlig unbekannten musikalischen Idioms in der mündlichen Überlieferung der ungarischen Bauern durch Zóltan Kodaly und Béla Bartok gegründet. Kodaly schlug unter anderem vor, bestimmte Dörfer monografisch zu untersuchen, um ihr gesamtes Musikleben zu erfassen. Sein Schüler Lajos Vargyas (1914–2007) war einer der ersten, der eine ethnografische Monografie über das Musikleben eines Dorfes schrieb (241). „The ‚village research movementʻ, a highly complex intellectual trend involving student associations, writers, sociologists, ethnographers, politicians as well as scouts, and comprising leftist and conservative ideas alike, permeated Hungarian society as a whole“, schreibt Dániel Lipták (244). Vargyas fügt noch hinzu: „The transmission of traditions, the genesis of the folk song … cannot be resolved simply by drawing conclusions from dead material. All of this can only be definitively clarified by meticulous observation on the spot. We must plunge our gaze into everyday life to gain a better understanding of how forces work.“ (246)

Ein Forscher, der eine gut durchdachte Methodik und eine breite Palette von Ansätzen in seinen Untersuchungen verwendete, war der Mönch des Benediktiner-Ordens Réthei Prikkel Marián (1871–1925). Seine Veröffentlichungen über die ungarischen traditionellen Tänze gelten als Grundsteine der ungarischen Ethnochoreologie. László Felföldi weist unter anderem darauf hin, dass Marian’s „interpretations and conclusions [on racial character of Hungarian language, music and dance] are viewed as largely incorrect today, but he provided an example for the complex historical-ethnographical approach to dance movement“ (101).

Ulrich Morgenstern beschäftigt sich in seinem Beitrag mit historischen Quellen und Schlüsselfiguren des Volkslieddiskurses im Österreich des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und beleuchtet deren unterschiedliche Hintergründe und Motivationen. Sein Anliegen ist es, den Kulturaktivismus und die politische Gesinnung in der Musikforschung kritisch zu betrachten, um ein objektives wissenschaftliches Verständnis der Musiktraditionen der Vergangenheit und Gegenwart zu erhalten. „Activists in the field of cultural politics“, schreibt Morgenstern, „were increasingly driven by ideologies of cultural purism, anti-modernism, anti-urbanism and also anti-Semitism [and this kind of] cultural activism has to be distinguished from performative ethnomusicology.“ (169–170)

Eine implizite Botschaft des Sammelbands sieht der Rezensent in der Haltung, dass die historische Relevanz der ethnografischen Erforschung im 19. Jahrhundert beziehungsweise den kulturpolitischen Aktivismus keineswegs inhaltlich beschränken oder zu eindimensional akzentuieren dürfe, da Meinungsfreiheit und -vielfalt der Sinn von Politik und Wissenschaft sind. Und wie Morgenstern in seiner Einleitung schon angemerkt hat: „[T]here is not a single influential concept in the theory and method of modern ethnomusicology that has not been developed much earlier in European […] folk music research and academic folkloristics, or in early comparative musicology.“ (23–24).