Aktuelle Rezensionen
Sven Felix Kellerhoff
„Röhm-Putsch!“ 1934. Hitlers erste Mordaktion
Freiburg im Breisgau 2024, Herder, 272 Seiten
Rezensiert von Michael Schellhorn
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 13.10.2025
„Röhm-Putsch!“ bildet den Abschluss von Sven Felix Kellerhoffs persönlicher Tetralogie, mit der er sich zum Ziel gesetzt hat, angebliche „Desiderate“ (S. 203) zum Nationalsozialismus zu schließen. Der Historiker aus dem Hause Springer schildert die dramatischen Tage um den 30. Juni 1934 gewohnt lebendig, mit Liebe zum Detail und in leserfreundlicher Prosa. Berechtigterweise begreift er die „Nacht der langen Messer“ als „die erste systematische Mordaktion“ (S. 13) des Dritten Reichs. Zwar waren insbesondere die Monate nach den Reichstagswahlen vom März 1933 bereits durch Mord und Totschlag an NS-Gegnern gekennzeichnet, die den eigentlichen Charakter des Regimes enthüllten, doch erfolgten die Taten unkoordiniert und zumeist aus lokalen Initiativen in den „wilden Konzentrationslagern“ oder in als „Prügelstuben“ verharmlosten Folterkellern. Mit der Liquidierung der ersten Riege der Schutzabteilung (SA), deren Angehörige die Hauptgruppe der Täter des Jahres 1933 stellten, und politischer Gegenspieler übernahm Hitler von oberster Stelle erstmals die Organisation. Dabei bediente er sich mit der Schutzstaffel (SS) und der Reichswehr zweier Institutionen von Partei und Staat. Ihre Komplizenschaft band sie fortan an den „Führer“ und markiert somit eine „wichtige Zäsur auf dem Weg zur totalitären Diktatur“ (S. 13).
Etwas ungewöhnlich legt Kellerhoff seine Quellengrundlage erst in einem Anhang (S. 197–202) offen. Dabei sind vor allem die Nutzung der staatsanwaltlichen Ermittlungsakten mit ihren Zeugenaussagen aus dem Staatsarchiv München, das Zeitzeugenschrifttum aus dem Institut für Zeitgeschichte und die inzwischen im Bundesarchiv verwahrte Sammlung des Privatforschers Fritz Tobias, mit dem Kellerhoff über Jahre in Kontakt stand, als Besonderheit zu erwähnen. Den Untersuchungen der Staatsanwaltschaften nach dem Zweiten Weltkrieg widmet Kellerhoff dann auch ein lesenswertes Unterkapitel, das mit einigen Halbwahrheiten über die deutsche Nachkriegsjustiz aufräumt (S. 187–196). Ansonsten stützt er sich im Wesentlichen auf die zahlreich vorhandenen edierten Quellenbestände sowie Erinnerungsliteratur. Über Gebühr singt Kellerhoff allerdings das Loblied auf die Digitalisierung. Ohne Frage sind bestimmte relevante Bestände nun wesentlich bequemer, d.h. ohne Archivreise vom heimischen Computer, einsehbar. Dass es sich aber dabei um „bisher nicht oder kaum zugängliche Quellen“ (S. 200) handelt, dürfte so nicht stimmen. Ebenso sind bestimmte Digitalisate des Bundesarchivs nur in dessen Lesesälen nutzbar. Auch das „mächtige Instrument“ (S. 201) der Zeitungen als Quellen wird nicht erst seit der zunehmenden Digitalisierung genutzt. Alles in allem sorgen diese Übertreibungen eher für einen unangenehmen Beigeschmack, erwecken sie doch den Eindruck, dass der Autor selbst nach Möglichkeiten sucht, sich einer innovativen Avantgarde zuzurechnen. Dafür besteht aufgrund der soliden und überzeugenden Arbeit allerdings überhaupt keine Veranlassung.
Das erste von insgesamt vier Kapiteln widmet sich der Verhaftung des Stabschefs der SA Ernst Röhm durch den auch im SA-Gefüge als Oberster SA-Führer übergeordneten Reichskanzler und NSDAP-Chef Adolf Hitler in der Pension Hanselbauer im oberbayerischen Bad Wiessee. Alle weiteren für die Handlung zentralen Akteure treten in der dramatischen Erzählung, der sich „Vorspiel“, „Drama“ und „Nachspiel“ anschließen, erstmals auf. Im Vorlauf der finalen Aktion verschmolzen zur Rechtfertigung mehrere Erzählstränge zu einem großen, angeblichen Putschplan seitens des Stabschefs, der gemeinsam mit dem Ausland und ehemals Mächtigen, wie Hitlers Vorgänger im Reichskanzleramt Kurt von Schleicher, konspiriere. Röhms Homosexualität spielte dabei nur eine Nebenrolle zur Illustration seiner niederen Beweggründe. Diese Verschwörungstheorie bildete aber nicht den realen Hintergrund für das Eingreifen Hitlers. Der renitente Röhm weigerte sich trotz mehrmaliger Zusagen und seiner Einbindung in den Staatsapparat als Minister ohne Geschäftsbereich der vorgegebenen „politischen Generallinie“ (S. 18), die Phase der Evolution einzuläuten, zu folgen, indem er die Hoffnung innerhalb seiner Reihen auf eine „zweite Revolution“ aufrechthielt. Durch die immensen Zuwendungen aus Reichsmitteln war es der SA gelungen, das auf 4,5 Millionen Mann angewachsene Heer der Braunhemden (Frühjahr 1934) auf illegalen Wegen mit Waffen zu versorgen. Gestützt auf dieses Machtpotenzial versagte sich Röhm einer Unterordnung gegenüber der zumindest quantitativ unterlegenen Reichswehr, was notwendigerweise zu einem Konflikt zwischen den beiden bewaffneten Einheiten führen musste.
Das „Drama“ spitzte sich jedoch von anderer Seite zu. Am 17. Juni 1934 hielt Vizekanzler Franz von Papen vor den Marburger Studenten eine von seinem Adjutanten Edgar Julius Jung verfasste Rede, die den Auftakt zu einem Sturz Hitlers bilden sollte. In den von Papens Mitarbeitern in der Vizekanzlei, Jung, Fritz Günther von Tschirschky und Herbert von Bose, entworfenen Plänen nahm der nach wie vor amtierende, aber zunehmend zurückgezogene Reichspräsident Paul von Hindenburg eine zentrale Funktion zur Entmachtung Hitlers ein. Dieser rückte aber Ende Juni unmissverständlich von der Seite seines ehemaligen „Fränzchens“ ab und positionierte sich an der Hitlers, welcher sich nun „offenbar zum baldigen Losschlagen entschlossen“ (S. 79) zeigte. Schon ein wenig beachtetes Ereignis habe in Hitler das Gefühl verstärkt, so Kellerhoff, „bedrängt und eingekreist“ (S. 76) zu sein. Einen Steinschlag gegen die Windschutzscheibe von Heinrich Himmlers Auto interpretierte Hitler als Attentatsversuch. Die Einschläge drohten näher zu kommen. Hitler reagierte, nachdem er von der Gesprächsabsage Hindenburgs an Papen erfahren hatte. Loyale Teile der SA um Viktor Lutze, die SS und deren Sicherheitsdienst, die ein Bündnis mit der Reichswehr schlossen, und die Leibstandarte Adolf Hitler wurden in Bereitschaft versetzt. Die SA-Führung erhielt die Weisung, sich in Röhms Urlaubsquartier am Tegernsee zu einer klärenden Aussprache einzufinden. Hitler selbst bemühte sich nach außen um business as usual, koordinierte aber vom Rheinhotel Dreesen nahe Bonn die Aktion. Hier wartete er auf das „Fait accompli“ (S. 95), das das Eingreifen gegen die vermeintliche SA-Revolte legitimieren sollte. Wer den als solchen bezeichneten Aufmarsch der Münchner SA auf dem Oberwiesenfeld und dem Königsplatz in der Nacht des 29. Juni auslöste, bleibt leider unklar. Nach der bestätigten Festnahme Röhms in Bad Wiessee setzte sich die Mordmaschinerie in Gang, die Kellerhoff in ihren Einzelheiten und nicht nur an bekannten Beispielen schildert. In Berlin, München und Breslau fielen bis zum Morgen des 2. Juli in etwa 90 Personen der Aktion zum Opfer. Der Hauptbeschuldigte Röhm, der sich weigerte, sich selbst zu erschießen, wurde durch den stellvertretenden Kommandanten des Konzentrationslagers Dachau, Michael Lippert, in seiner Zelle 474 im Gefängnis Stadelheim getötet.
Das „Nachspiel“ eröffnete die NS-Justiz mit der legistischen Rechtfertigung der Taten. Das Kabinett verabschiedete am 3. Juli das gerade einmal 21 Wörter umfassende „Gesetz über Maßnahmen der Staatsnotwehr“ und sprach die Täter damit von jeglicher Schuld nachträglich frei. Mit seiner eineinhalbstündigen Rede vom 13. Juli vor dem uniformierten Reichstag lieferte Hitler eine mit den bekannten Anschuldigungen durchzogene Interpretation der Ereignisse. Juristische Unterstützung erhielt Hitler von dem bislang wenig bekannten Staatsrechtler Carl Schmitt, der mit einem Aufsatz in der Deutschen Juristen-Zeitung „die intellektuelle Unterfütterung, an der es Hitlers Rede gemangelt hatte“ (S. 174), bereitstellte. Trotzdem verwandte das NS-Regime in der Folge eine Menge Arbeit und vor allem Geld darauf, die Taten durch Aktenvernichtungen zu vertuschen und die Hinterbliebenen der Opfer durch Zahlungen ruhigzustellen.
Das empfehlenswerte, wenngleich eher deskriptive als analytische Buch, das sich einem breiten Leserkreis anbietet, schließt anstelle eines Registers mit einem hilfreichen Personenglossar, das neben den Opfern Täter, Überlebende und Zeugen mit kurzen Biogrammen auflistet.