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Kathrin Pöge-Alder

Börners Sagenbuch. Populäres Erzählen in Ostthüringen

Weimar 2024, Jonas Verlag, 168 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-89445-608-5


Rezensiert von Janin Pisarek
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 15.10.2025

Mit „Börners Sagenbuch“ legt Erzählforscherin Kathrin Pöge-Alder einen besonderen und bisher weniger beachteten Sagenband vor. Die Eigenarten liegen in der Außergewöhnlichkeit des Originalwerkes als auch in der Gestaltung und Aufmachung der fachlich editierten und kommentierten Ausgabe, die in ihrer Ästhetik das klassische Sachbuch sowie den einfachen Reprint übertreffen. Das Buch kommt im ungewöhnlichen Querformat mit Hardcover-Einband. 15 Farbabbildungen zieren das Werk, von denen eine auch den harmonisch designten Buchumschlag schmückt. Die sinnlichen Malereien in traditionellen Techniken stammen von der Leipziger Künstlerin Madeleine Heublein, die als Grafikerin unter anderem schon literarische Werke zu Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) und Émile Zola (1840–1902) illustrierte. Im Schriftbild des Buches wird mit entsprechenden, den Malereien entnommenen Farben gearbeitet, um Pöge-Alders Anmerkungen und Ergänzungen (grün) vom Originaltext (blau) abzuheben, was sich nicht nur positiv auf die Gesamtoptik auswirkt, sondern auch dem Leseverständnis und Überblick förderlich ist, und bereits im Inhaltsverzeichnis eine Gesamtschau über das zu Erwartende schafft. Unterstützt wurde der Druck durch die Volkskundliche Kommission für Thüringen e. V.

Dass es sich bei dem Ursprungswerk um ein Unikum unter den Sagenbüchern des 19. Jahrhunderts handelt, wird in Pöge-Alders bebilderter Vorrede zum Autor Wilhelm Börner (1788–1855) und seiner Sammlung schnell deutlich. Denn die 24 Sagen, die sowohl regionaltypische Sagengestalten wie Waldweibchen, Perchtha1 und Futtermännchen als auch internationale Erzählstoffe wie ATU 551 „Wasser des Lebens“ (104) oder ATU 769 „Tränenkrüglein“, hier auch im Vergleich zu Bechsteins Variante (89–94.), beinhalten, sind nicht einfach nur aneinandergereiht, sondern in eine Rahmenerzählung eingebettet. So kennen wir es beispielsweise von den Märchen aus „Tausendundeiner Nacht“ oder Boccaccios „Decamerone“. Diese fingierte Mündlichkeit im Kreis der erzählenden Freunde nutzte Börner als Mittel für seine Erläuterungen zu den Sagentexten. Mit diesen Gedanken zu Überlieferungs- und Rezeptionswegen, möglichen Verbindungen zwischen den mündlichen Traditionen und verschiedenen Riten und Bräuchen sowie seinen Erkenntnissen und Ansichten aus der Altertumsforschung setzt sich Pöge-Alder in anregender und erklärender Weise auseinander. In der Unterhaltung der jungen Erwachsenen spiegeln sich zudem Identitäts- und Herkunftsfragen wider, die das Werk als Sagenbuch ungewöhnlich machen. Für die an der Mündlichkeit interessierte Autorin Pöge-Alder ist das „Erzählen und Hören […] für Börner exemplarisch sowohl für die Sagen als auch für die Erklärungen umgesetzt worden“ (151).

Die „Volkssagen aus dem Orlagau“, so der Originaltitel, aus dem Jahre 1838 vom in Knau bei Neustadt an der Orla geborenen Pfarrersohn Wilhelm Börner, gleichen einem erbaulichen Spaziergang durch das Sagenreich der rund 150 Quadratkilometer großen Flachland-Region im Orlatal in Ostthüringen – umgeben vom Vogtland, dem Thüringer Schiefergebirge und dem Thüringer Holzland, was grob dem nördlichen Teil des heutigen Saale-Orla-Kreises entspricht, und somit auch die Region seines beruflichen und persönlichen Wirkens. Neben seiner Tätigkeit als Diakon beschäftigte er sich mit Literatur, Ur- und Frühgeschichte – war sowohl geschichtlich als auch archäologisch tätig oder wie der einstige Museumsdirektor des Stadtmuseums Gera Alfred Auerbach (1864–1938) in einem Aufsatz der Gesellschaft von Freunden der Naturwissenschaften über die 1830er und 1840er Jahre schrieb: „[…] zu jenen Zeiten [war Börner] der unermüdlichste Ausgräber, Vorgeschichts- und Heimatforscher im Orlagau“2. Seine Vernetzung mit gebildeten Kreisen belegt Pöge-Alder anhand mehrerer Umstände. Einerseits fand Börners Sagenbuch in Universitätsbibliotheken wie Jena, Leipzig und München Eingang, andererseits war es auch Teil der Privatbibliothek der Brüder Jacob (1785–1863) und Wilhelm Grimm (1786–1859), die von einer „zuverlässig interessanten sagensammlung“ sprachen (9). Zudem bezog sich Jacob Grimm in der zweiten Ausgabe seiner „Deutschen Mythologie“ (1844) auf Börner, besonders in seinen Ausführungen zur Perchtha. Gemein haben die zeitgenössischen Sagensammler auch ihre Zugehörigkeit zur mythologischen Schule, worauf Pöge-Alder an mehreren entsprechenden Textstellen belegend verweist (beispielsweise 122). Briefkontakt pflegte Börner auch zu anderen Sammlern wie Ludwig Bechstein, der ebenso eine Sage des Ostthüringers aufnahm (8). Ein Beispiel für den Schriftwechsel bietet uns Pöge-Alder im Zusammenhang mit der aus Ranis bekannten „Ilsensage“. In ihren Anmerkungen liefert sie uns Bechsteins – der die Erzählung unter dem Titel "Die goldene Schäferei" in sein "Neues deutsches Märchenbuch" (1856) übernahm – kritische Nachfrage und seine Gedanken zur Einordnung dieser Erzählung (43-44) sowie eine vergleichbare Variante aus der Lausitz, festgehalten im "Neues Lausitzisches Magazin" von 1823 (54); auch ist die Sage im Vogtland bekannt. Spätere Sagensammler und -forscher wie Robert Eisel (1826–1917), der acht Jahre nach Börners Tod ebenso Mitglied des Vogtländischen Altertumsforschenden Vereins zu Hohenleuben wurde, oder Rudolf Drechsel (1890–mind. 1946), der rund 100 Jahre später seine „Sagen und alte Geschichten aus dem Orlagau“ (1934) veröffentlichte, speisten ebenso von Börners Werk, das bisher dennoch – so scheint es – nicht den größten Kreis von Rezipienten besaß.

Pöge-Alders Anmerkungen sind stets kontextualisierend und räumen mit romantisierten Bildern jener Zeit auf, in der sie neue Erkenntnisse aus Forschung und Wissenschaft miteinfließen lässt, wie beispielsweise zu den Hermunduren (13–14, 16–17). Sie liefert weiterführende Informationen zu genannten Personen, historischen Persönlichkeiten und ihren Werken und deckt gelegentlich auch Bekanntheitsverhältnisse auf, so sie für die Wege und Beeinflussungen der Erzählungen und Motive interessant oder dem besseren Verständnis zuträglich sind. Kurze Erläuterungen liefert Pöge-Alder auch zu mythologischen Figuren wie Skylla und Charybdis (27) sowie zu allerhand Sagengestalten. So begegnen wir etwa dem Berggeist Rübezahl (25), Riesen (36), Drachen (36–41) und Wechselbälgern (131).

Besonders für Ortsunkundige interessant dürften auch die zahlreichen Erklärungen zur geografischen Lage der kleineren Ortschaften wie Hirschbach (66), Auma (69) und Wilhelmsdorf (75) sein, zu kleineren Gewässern (67) oder Flurnamen. Ebenso erfreuen sich volkskundlich interessierte Leserinnen und Leser an den kurzen Ausführungen zu den im Text vorkommenden sprichwörtlichen Redensarten, so wie Erzählforscherinnen und -forscher an den Verweisen auf andere regionale Sagenvarianten oder die Requisitenverschiebungen (95). Pöge-Alders Hinweise, gelieferte Forschungsansätze, erklärende Worte und kritische Auseinandersetzungen sind stets prägnant, ohne sich im Detail zu verlieren. Sie regen zur Weiterbeschäftigung mit den verschiedenen Themen an und liefern dafür auch diverse belegende und weiterführende Quellen und Sekundärliteratur, wie zu Einzelartikeln aus der „Enzyklopädie des Märchens“ (beispielsweise Lutz Röhrichs Artikel „Elementargeister“ auf 87–88, 91), dem „Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens“ sowie zu verschiedenen Chroniken, Monografien und Sammelbänden. Positiv für die Arbeit mit dem Werk ist auch das Einflechten der Seitenzahlen des Originalbandes.

Bevor „Börners Sagenbuch“ mit einem umfangreichen Register sowie dem erwähnten Quellenverzeichnis endet, rundet Kathrin Pöge-Alder ihre Ausführungen mit abschließenden Gedanken zu Wilhelm Börners Sagenunterhaltungen ab. Darin gewährt sie einen Einblick wie sie zum Thema und der Sammlung kam und setzt sich kritisch mit der Frage um „Regionalität als Fund und Erfindung“ auseinander.

Trotz seiner guten Verbindungen, seines unermüdlichen Schaffens und der Einzigartigkeit seiner Ostthüringer Sagensammlung blieb Börners Werk größere Popularität, wie sie die Sagen von Robert Eisel, Grimmschüler Emil Sommer (1819–1846) oder etwa Paul Quensel (1865–1951) erhielten, bisher eher verwehrt. Mit der Neuherausgabe dieses Fundus an populären Stoffen, die in der Region des Vogtlandes (hier vor allem Erzählungen von den Moosleuten) und des Orlatals spielen, könnte diese kurzweilige Reise in die Vorstellungen und Erzählkultur einer früheren Welt mehr Beachtung erhalten. Pöge-Alders Buch lädt jedenfalls optisch wie auch inhaltlich sehr dazu ein, die Sagenwelt des „Orlagaus“ wieder (neu) zu entdecken – möge dies gelingen.

 

 

 

Anmerkungen

 


1 Schreibweise wie bei Wilhelm Börner. Meist wird die Sagengestalt ohne „h“ geschrieben. Bei der Perchta handelt es sich um eine ambivalente, dämonische Sagengestalt vom Typus Frau Holle (siehe auch S. 79), die ebenso unter Namen wie Berchta, Percht oder Frau Gode vorkommt und auch als Kinderschreckgestalt bekannt ist. Gelegentlich gilt sie als Anführerin der Wilden Jagd (bspw. als Wilde Bertha in der Pößnecker Region) sowie der Heimchen, meist als arme Seelen gedeutete Gestalten.

2 Auerbach, Alfred: Geschichte der Vorgeschichtsforschung in Ostthüringen. In: Jahresbericht der Gesellschaft von Freunden der Naturwissenschaften in Gera 70/75, 1927/32, S. 67–100, 74.