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Raphael Reichel
Männerparadies. Deutsche Rentner in Thailand zwischen Nostalgie und Stigma
Bielefeld 2024, transcript, 314 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8376-7232-9
Rezensiert von Raul Reinhardt
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 15.10.2025
Wenn wir an Thailand denken, assoziieren manche das Land vielleicht mit der pulsierenden Metropole Bangkok, Street-Food, majestätischen Tempeln, der Spiritualität des Buddhismus oder mit traumhaften Stränden und idyllischen Inseln sowohl am Golf von Thailand im Osten als auch am Andamanischen Meer im Westen (gleichwohl die sozio-ökonomische Kluft zwischen Arm und Reich, Korruption und politische Instabilität sowie Einschränkungen der Meinungsfreiheit und Diskriminierung von Minderheiten das Bild trüben). Kein Wunder, dass sich die Zahl der internationalen Touristinnen und Touristen zwischen 2000 und 2016 auf über 32 Millionen pro Jahr vervierfacht hat und dass Thailand bereits seit den 1950er Jahren zu einem beliebten Sehnsuchtsort geworden ist. Für manche Menschen wird das beliebte Reiseziel sogar zum neuen Wohnsitz, wie Robert W. Howards 2009 erschienene Studie zu Migrationsbewegungen aus westlichen Ländern nach Thailand belegt, auf die sich auch Reichel bezieht: In den frühen 2000er Jahren lebten Schätzungen zufolge rund 100.000 ausländische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger in Thailand, darunter 10.000 bis 30.000 Deutsche. Von den befragten deutschen Ausländerinnen und Ausländern waren 97 Prozent männlich, fast 50 Prozent befanden sich in einer Beziehung mit Einheimischen und zwölf Prozent verbrachten ihren Ruhestand dort (18–19).
Besonders die letzte Personengruppe ist der medialen Berichterstattung nicht unbemerkt geblieben und vor allem durch zahlreiche stereotypisierende Schlagzeilen und Reportagen in Deutschland aufgefallen. Allerdings ist es nicht einfach, aufgrund des autokratischen Staatsregimes und dem begrenzten Zugang zu offiziellen Daten verlässliche Statistiken zur Zahl deutscher Rentner zu ermitteln. Die Zahlen basieren auf indirekten Quellen wie Rentenüberweisungen, schließen jedoch Rentner aus, die saisonal pendeln und in der Regel sechs bis sieben Monate im Jahr in Thailand verbringen. Diese bleiben oft in Deutschland gemeldet und erhalten dort ihre Rente, weshalb eine Dunkelziffer existiert. Um den quantitativen Schätzungen qualitative ethnografische Einblicke gegenüberzustellen, bereiste Raphael Reichel selbst das Land und griff das Thema der Ruhesitzmigration in seiner Dissertation „Männerparadies. Deutsche Rentner in Thailand zwischen Nostalgie und Stigma“ auf, die am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen entstanden ist.
Formal ist die Forschung in drei Oberkapitel gegliedert – „Teil I: Annäherungen“, „Teil II: Erkundungen“ und „Teil III: Vertiefungen“. Dazu kommen sechs Unterkapitel: „Rentner und Thailand“, „Forschen und Analysieren“, „Thailand und Tourismus“, „Paradies und Alltag“, „Stigma und Rechtfertigung“ sowie „Nostalgie und Männlichkeit“. Ergänzt wird die Struktur durch das Vorwort „Nah und fern“, die Schlussbetrachtung „Leben und Sterben“ sowie den umfangreichen Anhang, der einerseits Kurzbiografien zu den Gewährspersonen und andererseits ein ausführliches Forschungsdesign umfasst. Die Studie geht dabei der Frage nach, warum deutschsprachige Rentner nach Thailand auswandern und welche biografischen Hintergründe sie dazu bewegen. Des Weiteren wird analysiert, wie die Ruhesitzmigranten über ihr Leben, ihre Beziehungen und ihre soziale Umgebung sprechen und welche Rolle Klischees, Stigmatisierungen sowie das Bedürfnis nach Rechtfertigung spielen. Zudem wird hinterfragt, welche tieferliegenden Motive sich aus ihren Erzählungen ableiten lassen – jenseits unterkomplexer medialer Zuschreibungen.
In den ersten Kapiteln eruiert Reichel den Forschungsstand, schafft ein Bewusstsein für sein Forschungsfeld und reflektiert besonders intensiv über seine eigene Position als Forscher in einem Feld, welches er mitunter als unangenehm und beizeiten als spannungsgeladen erlebt. Im weiteren Verlauf entfaltet Reichel die historische Entwicklung Thailands und untersucht in diesem Zusammenhang die Rolle des thailändischen Sexgewerbes, welches eng verwoben ist mit der Geschichte des Vietnamkriegs, da US-amerikanische Soldaten in Destinationen wie Bangkok und Pattaya ihren Fronturlaub („Rest & Recuperation“, 51) verbrachten. Dabei analysiert er auch Rechtfertigungsnarrative, und die Frage, warum viele Ruhesitzmigranten ihre Beziehungen zu Sexarbeiterinnen als weniger schambehaftet wahrnehmen als in Deutschland und sich selbst nicht als klassische Freier, sondern teilweise sogar als „Entwicklungshelfer“ (161) betrachten – obgleich dabei thailändische Frauen objektifiziert und sexualisiert werden. Reichel beleuchtet zudem, welche Erwartungen die Ruhesitzmigranten an ihr neues Leben haben, welche Aspekte den Männern in ihrem vorherigen Wohnort Deutschland gefehlt haben und wie sich ihr Alltag nach der Auswanderung gestaltet. Hierbei identifiziert er drei Tendenzen: So schafft sich ein Teil der Rentner einen strukturierten Tagesablauf, welcher mit täglichen Aufgaben, Ritualen, Verpflichtungen und Einbindungen in soziale Netze einhergeht, wohingegen eine zweite Gruppe in Praktiken des Urlaubmachens verharrt. Die dritte Gruppe bezeichnet Reichel als „hedonistisch-destruktive“ (75) Akteure, da diese kaum an Gemeinschaften angeschlossen sind und sich stattdessen hauptsächlich in den „Sexscapes“ (Denise Brennan) aufhalten, wo sie regelmäßig die Angebote der Sex- und Vergnügungsindustrie Thailands nutzen. Dabei betrachtet Reichel auch die Bedeutung intimer Beziehungen zu meist jüngeren thailändischen Frauen sowie die Einbindung in soziale Strukturen und Diskurse, welche von den Akteuren in schnelllebige „short-time-“ und verbindlichere „long-time-Beziehungen“ unterteilt werden.
Des Weiteren fragt der Autor nach den Auswirkungen, wenn das vermeintliche Paradies zur alltäglichen Realität wird. Er hält dabei fest, dass es nicht nur Erfolgsgeschichten gibt: Einige Ruhesitzmigranten verlieren im Laufe ihres Aufenthalts ihr gesamtes Vermögen. Die Konsequenzen können ein gescheiterter Rückzug nach Deutschland sein, wobei Suizide, besonders bei denen, die nicht in Gemeinschaften integriert sind und unter Altersarmut oder Einsamkeit leiden, ebenfalls keine Seltenheit darstellen. Abschließend thematisiert Reichel daher Aspekte wie Krankheit, Pflegebedürftigkeit und Tod, die für alternde Ruhesitzmigranten von besonderer Bedeutung sind, in deren eigenen Wahrnehmung jedoch kaum reflektiert werden.
Die Feldforschung für die Studie konzentrierte sich auf Pattaya und Bangkok, ergänzt durch punktuelle Beobachtungen auf Phuket und Hua Hin. Die erste Forschungsphase erstreckte sich dabei über knapp fünf Wochen von Februar bis März 2016, mit Schwerpunkt auf Bangkok und einem ersten Besuch in Pattaya. In diesem Zeitraum wurden sieben qualitative Interviews geführt. Zudem nahm Raphael Reichel an Veranstaltungen der deutschsprachigen Community im Begegnungszentrum in Pattaya teil, darunter Gottesdienste, Stammtische und Spieleabende. Von Februar bis Mai 2017 folgte die zweite Forschungsphase: Reichel mietete ein Apartment in Bangkok und reiste regelmäßig nach Pattaya, wo er sich teils über längere Zeiträume aufhielt. In dieser Phase führte er 17 Interviews mit 15 Gesprächspartnern, von denen er drei als Experteninterviews klassifiziert. Alle befragten Ruhesitzmigranten identifizieren sich als heterosexuelle Männer, einige sind kinderlos, andere haben erwachsene Kinder aus mittlerweile geschiedenen deutschen Ehen oder Nachwuchs aus derzeitigen thailändischen Beziehungen. Die finanzielle Situation der Befragten variiert, das Durchschnittsalter der Rentner liegt bei 66 Jahren. Zwei von ihnen sind mittlerweile verstorben. Zudem führte Reichel zahlreiche informelle Gespräche, hielt seine teilnehmenden Beobachtungen in einem Feldtagebuch fest und ergänzte seine Forschung durch eine begleitende Medienanalyse. Letztere umfasst Reportagen, Belletristik, Ratgeberliteratur sowie deutschsprachige Medien in Thailand, wie beispielsweise die auflagenstärkste Zeitung „Der Farang“ (244).
Zusammengefasst beleuchtet Raphael Reichel in seiner ethnografischen Studie wertfrei die Lebensrealitäten westlicher Ruhesitzmigranten und hinterfragt die Illusionen eines vermeintlichen „Männerparadieses“, das man auch zynisch mit den Worten „Sonne, Sex und Selbstfindung“ beschreiben könnte. Er zeigt, dass viele dieser Männer aus persönlichen oder gesellschaftlichen Umbrüchen heraus nach Thailand auswandern, dort jedoch mit den Herausforderungen des Alltags, dem Scheitern von Beziehungen und den Veränderungen der Stadt konfrontiert werden. Ein prägnantes Beispiel ist der Wandel in Pattaya-Naklua, wo das einstige deutsche Viertel „Little Germany“ mit seinen langjährigen Treffpunkten durch neue Immobilienprojekte verdrängt wird (227). Auch die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie, die das Vergnügungsgewerbe der Stadt zeitweise zum Stillstand brachte, bilden eine Herausforderung für viele der deutschen Rentner. Raphael Reichels Forschung offenbart Pattaya als einen Ort patriarchaler Nostalgie und kurzlebiger Träume – ein Paradies, das selten von Dauer ist. In einer Gesamtschau liefert die Dissertation damit nicht nur wichtige Impulse für die kulturwissenschaftliche Mobilitäts-, Migrations- und Geschlechterforschung im Kontext von Alter und Ruhestand, sondern legt durch dichte ethnografische Analysen Widersprüche und Spannungsfelder transnationaler Männlichkeitsentwürfe offen. Die Studie schließt so eine Forschungslücke und wirft zugleich zentrale Fragen zu den Bedingungen und Konsequenzen globalisierter Lebensentwürfe im Alter auf.