Aktuelle Rezensionen
Thomas Kühn (Hg.)
Dinge. Bilder. Menschen. Beiträge zur Volkskunde, Geschichte und Museumsarbeit in Hagenow, Mecklenburg und darüber hinaus. Festschrift für Henry Gawlick zum 65. Geburtstag.
Wismar 2023, callidus, 272 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-949534-08-09
Rezensiert von Michael Schimek
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 15.10.2025
Ein besonderes Buch: Nicht nur Anlass und Inhalt, sondern bereits die wertige Ausstattung setzt die hier anzuzeigende Neuerscheinung vom Mainstream aktueller Publikationen ab. So erscheint der Buchdeckel in der Blaudruck-Optik und -Haptik einer Wendeschürze aus dem 19. Jahrhundert. Stimmiger kann eine Festschrift für einen verdienten Museumsmann kaum gestaltet sein, der das Anfang der 1970er Jahre von Ehrenamtlichen im mecklenburgischen Hagenow gegründete Stadtmuseum zielstrebig zum renommierten Regionalmuseum „der grisen Gegend“ ausgebaut hat. Dieses umfasst heute mehrere Gebäude, darunter die ehemalige Hagenower Synagoge. Grundlage für die überzeugende Musealisierung der verschiedenen historischen Gebäude und die kenntnisreiche Konzipierung der darin gezeigten Dauer- und Sonderausstellungen ist eine vorbildlich betriebene klassisch-volkskundliche Sachkulturforschung, die stets die geistig-immateriellen Hintergründe des Dinggebrauchs einbezieht und den Jubilar über die Jahre zu einem großer Kenner norddeutscher Alltagskultur werden ließ. Die Rede ist von Henry Gawlick, der seit fast 40 Jahren mustergültige Museumsarbeit mit und für Menschen macht und im Sommer 2023 65 Jahre alt wurde.
Die Festschrift versammelt 16 Beiträge, die sich inhaltlich auf Henry Gawlicks Arbeitsfelder und/oder auf Kooperationen mit ihm beziehen. Dem Untertitel der Publikation entsprechend lassen sich die Aufsätze in Beiträge lokalen, regionalen und allgemeineren Zuschnitts unterscheiden. Zu ersteren zählen die Aufsätze von Heike Krause und Paul Mitchell zur Baugeschichte der Hagenower Stadtkirche, von Stefan Reißig über den Hagenower Orgelbauer Johann Heinrich Runge (1769–1843) und sein Werk sowie von Ralf Gehler über die Lebens- und Arbeitsumstände der bis Anfang der 1870er Jahre amtlich privilegierten Hagenower Stadtmusikanten. Olaf Both stellt Catharine Elisabeth Johanna Höpcke (1834–1914) vor, die als eigensinnige Empfängerin damaliger Armenfürsorge nicht nur aktenkundig, sondern auch – weil sie darüber hinaus die westmecklenburgische Schönberger Tracht trug – als „Mudder Höppsch“ zum Schönberger Original avancierte. Aktenkundig wurde auch der Sexualstraftäter Karl Uhlenbroock, an dessen Beispiel Florian Ostrop die diesbezügliche Arbeitsweise von Polizei und Justiz im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts vorführt. Eine besondere Auswanderungsgeschichte schildert der Festschrift-Herausgeber und inzwischen Nachfolger Gawlicks als Leiter des Hagenower Museums Thomas Kühn mit der Firmengeschichte des Fotoateliers Anton Weil als Beispiel einer „mobile[n] und multilokale[n] Lebensweise“ (102), die um 1905 mit der Einrichtung eines Fotogeschäfts in Hagenow endete. Einer anderen Facette von Mobilität geht Menno Dirks mit der Darstellung der historischen Entwicklung des Wismarer Fahrradhandels seit dem späten 19. Jahrhundert nach. Und auch Edwin Vorrath, Peter Schmedemann und Thomas Kühn behandeln in ihrem Beitrag Mobilitätsgeschichte, wenn sie die Arbeit der Lehrwerkstatt des Bahnbetriebswerks Hagenow Land unter sozialistischen Leitlinien zwischen 1948 und 1954 nachzeichnen.
Mehr museologisch-methodischen Charakter besitzen die Aufsätze von Andrea Kaufmann zur Anwendung von Comics in der musealen Vermittlungsarbeit und Wolfgang Brückner über die Rolle von Religion als Thema musealer Präsentation. Während Kaufmann für den Einsatz von Comics als Vermittlungsmedium mit eigenen Stärken plädiert, tut Brückner dies in seiner bekannt pointierten, mitunter auch polemischen Art für die Berücksichtigung von magischem Denken und spiritueller Erfahrung in historischer Tiefe als bisher unterrepräsentierte museale Ausstellungsinhalte von hoher Relevanz. Einen besonderen Aspekt gelebter Religiosität untersucht Erdmute Nieke anhand der Vorstellung bisher wenig bekannter „Jüdischer Heiligenbildchen“, wie sie seit Mitte des 19. Jahrhunderts vom Neuruppiner Bilderbogen-Verlag Oehmigke & Riemschneider hergestellt wurden. Auch Konrad Vanja widmet sich in seinem kenntnisreichen – sich von den Forschungen Adolf Spamers bis hin zu aktuellen Entwicklungen spannenden – Überblicksartikel „Gedanken zum Kleinen Andachtsbild“ der papiernen Überlieferung populärer Religiosität.
Vorbildliche Sachkulturforschung betreibt Wolfgang Beelitz, indem er aus Kiefernwurzeln (!) geflochtene Körbe, Wannen, Kiepen und andere Behälter vorstellt, wie sie in der Zauche-Flämig-Region (Brandenburg) zuletzt in den Nachkriegsjahren hergestellt wurden. Auch Wolfgang Dörfler liefert mit seinem Aufsatz über Binsenstühle sachkulturelle Grundlagenarbeit. In norddeutschen Museen, Heimatstuben und rustikalen Gaststätten bis heute allgegenwärtig, haben Binsenstühle den Sitzalltag breiter Bevölkerungsschichten jahrhundertelang geprägt. Entgegen seiner kulturgeschichtlichen Bedeutung ist dieses unscheinbare Möbel mit seinen aus Binsen geflochtenen Sitzflächen aber bislang kaum erforscht. Dörfler stellt in Anknüpfung an Arbeiten Henry Gawlicks vermittels zahlreicher Beispiele unterschiedlicher Zeitstellungen und regionalen Hintergrunds erstmals die typologische Varianz der wissenschaftlich so sträflich vernachlässigten Sitzgelegenheiten vor.
Den Abschluss des nicht nur für Museumsmenschen lesenswerten Buches bilden eine von Kuno Karls zusammengestellte Bildstrecke, die anschaulich-augenzwinkernd Einblick in Henry Gawlicks Arbeitsleben gibt, ein von Thomas Kühn erarbeitetes Schriftenverzeichnis Gawlicks sowie die Biografien der Autorinnen und Autoren.