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Ina Kuhn

Laboratorien des guten Lebens. Wie Utopie-Festivals eine alternative Zukunft erfahrbar machen

(Freiburger Studien zur Kulturanalyse 9), Münster 2024, Waxmann, 251 Seiten, ISBN 978-3-8309-4951-0


Rezensiert von Manuel Bolz
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 07.10.2025

Die Kulturanthropologin Ina Kuhn untersucht in ihrer Freiburger Dissertation Utopie-Festivals als alternative Zukunftsräume und Laboratorien des guten Lebens. Anhand von Feldforschungen, vor allem Interviews und teilnehmenden Beobachtungen, zeichnet sie Vorstellungswelten, Plausibilisierungs- und Rationalisierungsstrategien von Teilnehmenden der Festivals nach. Sie zeigt, wie diese sich eine zukunftsfähige Gesellschaft beziehungsweise angesichts der Polykrisen der Gegenwart ein zwischenmenschliches Zusammenleben in Zukunft vorstellen.

Die kulturwissenschaftliche Zukunftsforschung hat vor dem Hintergrund aktueller sozialer, ökologischer, ökonomischer und politischer Krisendiagnosen Konjunktur. Auch die vorliegende Studie verortet sich an der Schnittstelle einer Anthropologie der Zeit, der transdisziplinären Zukunftsforschung sowie der Moralanthropologie. Ausgehend von der Frage, wie das Publikum von Utopie-Festivals Zukunft imaginiert, entwirft, verhandelt und erprobt, zeigt die Autorin materialbasiert und theoriegeleitet, wie Menschen sich vor dem Hintergrund eines gesellschaftlichen Imperativs der Selbstverantwortung positionieren. Utopie-Festivals stellen ein seit geraumer Zeit wahrnehmbares medialisiertes Phänomen dar, bei dem Menschen aus unterschiedlichen Wirkungskontexten an verschiedenen Orten in Deutschland (meist in ländlichen Räumen) zusammenkommen, um sich über mehrere Tage und Wochen hinweg über gesellschaftliche Zukunftsideen auszutauschen und diese punktuell auszuprobieren.

Ina Kuhn verfolgt in ihrer Ethnografie einen verstehenden Ansatz, der sich auf die kulturellen Logiken und das soziale Miteinander der Festivals richtet. Sie fragt danach, welche Bedeutungsaushandlungen sie bedingen, begleiten und aus ihnen resultieren. Nach einem Einstieg und der Verortung ihres Forschungsinteresses und -feldes im Fachkontext (7–34), erörtert sie ihre spezifische Perspektive: Utopie-Festivals sind in ihrer Lesart Projektionsflächen, Kristallisationspunkte und Verdichtungen gesellschaftlicher Wirklichkeiten. Sie sollen sinnhafte Antworten auf multiple Krisen der Gegenwart liefern, können Orientierung bieten, dienen aber gleichzeitig auch als experimentelle Erfahrungs-, Praxis- und Wissensräume.

Kuhn bedient sich des Laborbegriffs, den sie wie auch andere kultur- und sozialwissenschaftliche Perspektivierungen, aus naturwissenschaftlichen Kontexten auf ihr Forschungsfeld der „sozialen Experimente“ zu übertragen versucht. Ähnlich wie in Laborsettings (aber nicht als klinisch-rein und hermetisch abgeriegelt verstanden) sind es das Finden, das Perspektivieren und Fragen, das Teilnehmen, Beobachten und Notieren, das Austauschen, Schreiben, Distanzieren und Reflektieren, die ihre kulturwissenschaftliche Wissensproduktion bedingen und die Utopie-Festivals in den Mittelpunkt der Analyse rücken (34–64). Nicht nur die Praktiken, sondern auch die Vorstellung des „Versuchs“ werden von der Autorin gekonnt verknüpft: So sind es die zeitliche (Versuchsanordnung), die soziale (Laborgemeinschaft), die räumliche (Laborräume), die normative (Laborrichtlinien) und die symbolische Dimension (Laborjargon), mit denen Kuhn die mehrwöchigen Festivalereignisse und die dortigen Erfahrungen, Deutungen und Wahrnehmungen der „guten“ Zukunft und des „guten“ Lebens analytisch ausdifferenziert (64–90).

Der Kern der Monografie beschäftigt sich mit Utopie-Festivals als Experimentierräume guter Zukunft. Die Autorin formuliert vier Analyseperspektiven, die auf das „doing future“, also das Zukunftmachen als eine mediale, narrative, soziale und diskursive Herstellungsleistung verweisen (90, 94): Feldimmanent ist das „Zukunft imaginieren“. Sich Zukunft vorzustellen, stellt eine soziale und kulturelle Wissenspraxis dar, die nicht nur psychologische und kognitive Prozesse einschließt, sondern sich auch durch eine gesellschaftspolitische und alltagspraktische Dimension auszeichnet. Im Feld der Utopie-Festivals zeigt sich ein ganzes Spektrum an sinnstiftenden Zukunftsvorstellungen: Diese betreffen nicht nur den sozialen Nahbereich des eigenen Alltags (z. B. Wohnen, Arbeiten, Freizeit usw.), sondern prägen darüber hinaus ganze Gesellschaftsentwürfe. Teilweise werden die Zukunftsimaginationen von den Akteurinnen und Akteuren im Feld konkretisiert, zum Beispiel in Form eines temporär erprobten Plastik-, Konsum- oder Geldverzichts. Teilweise werden die Zukunftsimaginationen mit spirituell-religiösen Geboten verknüpft. Einige von ihnen bleiben aber abstrakt, was die Übersetzung in die Alltagspraxis nach den Festivals erschwert wie Akteurinnen und Akteure benennen. Die Uneindeutigkeit ist keinesfalls ein Defizit. Im Gegenteil, die „Operationalisierung“ des Gelernten und die Übertragung von Wissen in Praxis ist Anspruch und intendierter Effekt der Festivals, die Zukunftsideen zwar versammeln, zur Diskussion stellen und bündeln, die Umsetzungspraktiken aber nur bedingt ausformulieren.

Ein besonderes Augenmerk liegt auf der Praktik des „Ein-Bildens“: Zum einen kommen bei den Festivals Menschen ähnlicher Haltungen zusammen und tauschen sich themenbezogen aus. Sie bilden sich weiter (weniger im Sinne eines Träumens, sondern eher im Sinne eines gemeinsamen Imaginierens). Zum anderen sind die zeitlich begrenzten Ereignisse Räume der Wissensaushandlung, -vermittlung und -vergemeinschaftung und können daher als Räume für/von Bildungsarbeit abseits institutionalisierter Lernräume wie Schulen oder Universitäten verstanden werden (94–125).

Die Zukünfte, die im Kontext des Festivalgeschehens als „gut“ und „erstrebenswert“ bewertet werden, orientieren sich an spezifischen politischen und moralischen Idealen, zum Beispiel einem Konsumverzicht ohne normative gesellschaftliche Setzungen. Anhand der Oberkörperfrei-Debatte zeigt die Autorin, wie Besucherinnen und Besucher „Zukunft verhandeln“ und wie sie diese mit Differenzkategorien wie Gender zum Beispiel auf den Abbau bestehender cis-heteronormativer Geschlechterordnungen, auf Familienmodelle und Paarbeziehungen beziehen. Zukunft verhandeln bedeutet in diesem Zuge auch, gesellschaftliche Missstände und Machtverhältnisse zu thematisieren, soziale Ungleichheiten zu problematisieren und auf die Suche nach gemeinsamen Ansätzen zur Bewältigung und Lösung eben dieser Probleme zu gehen. Die Utopie-Festivals verweisen damit auch auf ein Bedürfnis, für die Zukunft Verantwortung zu übernehmen – individuell und kollektiv (125–163).

Zukünfte werden bei Utopie-Festivals jedoch nicht nur imaginiert oder in Stuhlkreisen und Workshops narrativiert und diskursiviert, sondern Zukunft wird erprobt. So werden konkrete Zukunftspraktiken wie zum Beispiel der Geldverzicht durch einen tauschlogikfreien Geldtopf ausprobiert (163–186).

Utopie-Festivals dienen, so zeigt es Ina Kuhn eindrücklich, der individuellen, aber auch kollektiven Sinnsuche, Selbsterfahrung und Selbstformung. Der Besuch der Zukunftslaboratorien ist daher immer auch verbunden mit Formen der Identitätsarbeit und der Vorstellung eines zukünftigen Selbst, das sich ethisch zu optimieren und transformieren versucht (186–211). Ferner loten die Akteurinnen und Akteure durch die Erprobung polygamer Paarkonstellationen temporär romantische, fürsorglich-solidarische und sexuelle Grenzziehungen aus oder üben sich in einem Fleisch- und Alkoholverzicht. Andere nutzen den Raum für die Reflexion über kapitalistische Gesellschaftsstrukturen und Nachhaltigkeit oder ordnen ihre als monoton wahrgenommene Arbeitsverhältnisse selbstkritisch ein. Nicht selten wird der Besuch der Utopie-Festivals und die Auseinandersetzung mit den dortigen gesellschaftspolitischen Themen zu einem narrativ-biografischen Wendepunkt. Die Utopie-Festivals helfen demnach bei der Selbsthistorisierung und Biografisierung des Selbst, das heißt die Erfahrungen dort helfen bei der sinnhaften Deutung und Einordnung eigener Lebensverläufe, inklusiver biografischer Brüche. Als Orientierungspunkt dient häufig die Vorstellung „der“ Gemeinschaft beziehungsweise „des“ Gemeinwohls (211–232).

Vor allem in der ersten Hälfte des Buches werden viele Fragen aufgemacht. Auch wenn dies sicherlich dem kulturanthropologischen Forschungsmodus geschuldet ist und auf der auf Verstehen und Dekonstruktion bestehenden Arbeitsweise beruht, scheinen sie beim Lesen aufgrund Ihrer Fülle teilweise zu überfordern – auch, weil viele Fragen unbeantwortet bleiben.

Außerdem hätte ich mir als Leser gewünscht, noch mehr über die biografischen Kontexte der Alltagsakteurinnen und -akteure zu erfahren, insbesondere die Ambivalenzen, Widersprüche und Irritationen. Vielleicht tat ich das auch, weil das Forschungsfeld auf den ersten Blick „zu“ harmonisch wirkte: Wo gibt es konfliktreiche Aushandlungen zwischen den unterschiedlichen Festivalbesuchenden? Um was wird gestritten? Um welche Deutungen wird gerungen? Wer möchte welche Zukunftsvorstellungen und Gesellschaftsentwürfe voranbringen und erproben und welche Strategien und Taktiken werden genutzt? Und gibt es Menschen, die solchen Festivals aktiv ablehnend gegenüberstehen?

Kulturtheoretische Perspektivierungen zum Beispiel auf Geschlecht, Raum und Emotionen werden in der Studie angerissen. Und auch wenn sich die Arbeit an den Praxisfeldern (imaginieren, verhandeln, erproben und probieren) orientiert und diese das Buch strukturieren, hätte eine fokussierte Auseinandersetzung mit Differenzkategorien gezeigt, dass hier eine spezifische Gruppe zusammenkommt, um „ihre“ Zukunft zu entwerfen, während andere Vorstellungswelten eher vernachlässigt werden und in den Hintergrund rücken. Wer kann also die Chance nutzen, auf Utopie-Festivals Zukunft erfahrbar zu machen und ihre Zukunft zu erproben? Und welche Machtverhältnisse und Ungleichheitsdimensionen (Klassismus, Sexismus, Rassismus usw.) verstärken sich auch durch dieses Format?

Die Arbeit zeigt, dass Zukünfte nicht einfach nur da sind, sondern dass sie von Menschen gemacht und unterschiedlich gedeutet werden, beispielsweise auf Utopie-Festivals. Der Plural „Zukünfte“ verweist bereits darauf, dass sie stets multipel sind und innerhalb gesellschaftlicher Gefüge und Gruppen Gegenstand von Aus- und Verhandlungen darstellen.

Das Buch eignet sich durch die Alltagsnähe, die verständliche Sprache und das detailreiche empirische Material nicht nur für Forschende in der Kulturanthropologie, sondern auch für alle an Zukunftspraktiken und gelebten Zukünften Interessierten. Die Studie beschäftigt sich mit einem drängenden Thema und kann gerade in Krisenzeiten Wissen liefern, um gesellschaftliche Transformationsprozesse und ihr Dynamiken einzuordnen, zu verstehen und mitzugestalten.