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Johannes Moser/Libuše Hannah Vepřek (Hg.)

Kulturwissenschaften und neue Technologien. Zwischen Technikentwicklung und öffentlichen Diskursen

(Edition Kulturwissenschaft 298), Bielefeld 2024, transcript, 200 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8376-7210-7


Rezensiert von Roman Tischberger
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 20.10.2025

Digitale Technologien durchdringen zahlreiche Forschungsfelder Empirischer Kulturwissenschaft (EKW) und werden darüber hinaus selbst zum Gegenstand kulturanthropologischer Untersuchungen. Mit dem Sammelband „Kulturwissenschaften und neue Technologien. Zwischen Technikentwicklung und öffentlichen Diskursen“ legen die Herausgebenden Johannes Moser (München) und Libuše Hannah Vepřek (Tübingen) einen Schwerpunkt auf kulturwissenschaftliche Implikationen der Entwicklung und Herstellung digitaler Technologien sowie der Diskurse darüber. Der Band versammelt neben einer Einleitung acht Aufsätze von technikforschenden Kolleginnen und Kollegen. Er bildet gleichsam eine Ergebnispräsentation des in München 15. bis 16. Februar 2023 von den Herausgebenden und ihrem Team veranstalteten Workshops „Formen. Öffentliche Diskurse um neue Technologien und die Rolle der Empirischen Kulturwissenschaft.1

Libuše Hannah Vepřek und Johannes Moser stecken „Zur Einführung: Neue Technologien in Gesellschaft und Alltag. Kulturwissenschaftliche Verantwortung, Potenziale und Interventionsmomente“ ab, welchen Mehrwert EKW-Perspektiven auf Technikentwicklung und Alltagsauswirkungen bieten können. Unter Technologie verstehen sie dabei das Zusammenspiel materiell gebundener Technik in ihren soziokulturellen Einbettungen; der Blick auf „das Neue“ ist an zeithistorische Diagnosen und Diskurse geheftet und zielt auf Imaginationen wie Aushandlungen über das noch nicht Etablierte.

Aus einem transdisziplinären Forschungsansatz im Bereich der Intensiv- und Palliativpflege zeigen Milena D. Bister (Berlin) und Jörg Niewöhner (München) in „Visualisierungen als Modus der Intravention in der ethnografischen Technikforschung“ auf, wie eine empirisch-kulturwissenschaftliche Analyse den Wissensraum technikgestützter Pflegepraxis erweitert. Über Visualisierungen und Skizzierungen finden die Beteiligten eine gemeinsame (Bild-)Sprache und damit einen Modus der Verständigung zwischen den Disziplinen. Am Beispiel der Aufschlüsselung einer komplexen Pflegesituation in vermeintlich eindeutig messbare Parameter zeigen Bister und Niewöhner wie ethnografisch ko-laborativ erzeugtes Wissen sich in Entwicklungsprozesse von Technologie zurückspeisen kann.

Aus interdisziplinärer Projektperspektive legt Sarah Thanner (Jena) mit „Smarte Alltagsdinge im Werden. Von (T)Räumen anwendungsorientierter Forschung zwischen Wissensproduktion, politischem Innovationsnarrativ und Produktversprechungen“ eine ungeschönte Innensicht auf die Übersetzungsschwierigkeiten vor, die sie im Forschungsfeld erfahren hat. Thanner analysiert das Gewicht der Eigenlogiken von Drittmittelprojekten und die Verfahrensstrukturen medieninformatischer Prototypisierung, die den Entwicklungsprozess eines „smarten Tisches“ in starkem Maße überformen. Anders als im Beitrag zuvor fällt es hier der Forschungsgruppe schwer, empirisch-ethnografische Erkenntnisse auf Augenhöhe in den Entwicklungsprozess zu integrieren, da disziplinäre Epistemologien und akademische Verwertungslogiken stärkere Auswirkung haben als ko-laborative Entwicklung.

Beide vorigen Beiträge öffnen ein Spannungsfeld ethnografisch gefütterter Entwicklung von Technologie. Martina Klausner und Matthias Kloft (beide Frankfurt am Main) knüpfen daran an, in dem sie nach der Rolle kulturanthropologischer Forschung in öffentlichen Debatten zur Entwicklung neuer Technologien fragen. Am Beispiel des Topos risikohafter künstlicher Intelligenz (KI) schreiben sie ein Plädoyer „Für ein produktives Zweifeln. Eine ethnografische Re-Konfiguration von Risiko-KI-Assemblagen am Beispiel des Robo-Advisory“. Anhand einer Gegenüberstellung von Regulierungsansätzen des europäischen AI Acts und dem bereits etablierten Einsatz von Technologien maschinellen Lernens in der Risikobewertung von Finanzprodukten zeigen sie, dass KI nicht als autonome Black Box agiert, sondern als heterogener Komplex fall- und feldweise ethnografisch ernst genommen werden muss. KI sollte entsprechend als diskursiv hergestellte, politisierte und soziomaterielle Assemblage begriffen werden, denn als bloßes technologisches Produkt.

Ina Dietzsch (Marburg) adressiert die Frage wie in Imagination und Konstruktion von humanoiden Robotern Vorstellungen von Geschlecht zugeschrieben und reproduziert werden. Mit „Humanoide Roboter. Umkämpfte Materialisierungen von Künstlicher Intelligenz“ blickt die Autorin auf KI als technisches Gerät. Nach einem einführenden Exkurs zu Technofeminismus extrahiert Dietzsch aus dem Science Fiction-Schlüsseltext „Er, Sie und Es“ der Schriftstellerin Marge Piercy drei Perspektiven der „His Story“, „Her Story“ und „Its Story“. Sie nutzt diese als analytische Folien, um die Perspektivierung von Geschlecht in der Entwicklung und Präsentation von humanoiden Roboterprodukten nachzuvollziehen. An Beispielen von „smart wives“, die als persönliche Assistierende dienen sollen, Sexrobotern sowie dem humanoiden Roboter Sophia, diskutiert Ina Dietzsch inwieweit Spielräume für alternative Konzepte von Geschlecht und Geschlechterrollen fruchtbar gemacht werden können. Gleichzeitig sieht sie, dass dem Feld der Aushandlung enge Grenzen gesteckt sind, in dem kulturanthropologisches wie technofeministisches Wissen in Konstruktions- und Regulierungsdiskursen um humanoide Roboter eine zu geringe Wirkmacht entfaltet.

Gesa Ziemer und Heike Lüken (beide Hamburg) zeigen in „Mixed Media in der Stadtplanung. Praktiken digitaler Ko-Kreation und der Blick der kulturwissenschaftlichen Stadtforschung“ anhand praxeologischer Untersuchungen von digitalgestützten Bürgerbeteiligungs-Formaten, wie sich etwa Virtual Reality/Augmented Reality oder eine interaktive, digitale Stadtkarte auf partizipative Stadtplanung auswirken. Ähnlich wie in den ersten Beiträgen des Sammelbandes wird hier die Innensicht eines interdisziplinären Projektteams beschrieben, das ethnografische Expertise nutzt, um Bürgerbeteiligung und Einbindung digitaler Technologien besser zu verstehen. Ziemer und Lüken ziehen ein positives Fazit zur Einspeisung ihres kulturwissenschaftlichen Wissens in das gesamte Projekt. Beitragsübergreifend zeigt sich die Notwendigkeit der Sensibilisierung für Rahmung und Bewusstmachung disziplinärer Vorannahmen in interdisziplinären Projekten.

Wie wird „das Gute“ in gesellschaftlichen Transformationen ausgehandelt – und welche Rolle nehmen Museen und Ausstellungen dabei ein? Tim Schaffarczik (Tübingen) greift den öffentlichen Protest im Zuge der Etablierung des Tübinger „Cyber Valley“ auf und zeigt die „Analyse, Übersetzung und Vermittlung von Diskursen um neue Technologien […]“ in öffentlicher Wahrnehmung von KI. Die Ausstellung „Cyber and the City“ des Stadtmuseum Tübingen stellt den emotionalen Diskurs, der sich Ende der 2010er Jahre in der Stadtgesellschaft entfaltete, in musealisierter und partizipativer Form mit Exponaten gegenüber, die Funktionsweisen maschinellen Lernens und möglicher Anwendungen vermitteln. So wird im Ausstellungsraum eine erfahrbare Vielstimmigkeit geschaffen, die wieder auf den gesellschaftlichen Diskurs zurückwirken kann – dies allerdings oft nicht schafft. Denn die Analyse und Übersetzung einer öffentlichen Debatte in eine Ausstellung sei zeitintensiv und laufe ihr „am Ende meist hinterher“ (144).

Viele Beiträge entspringen dem Bedürfnis, die disziplinären Fähigkeiten der EKW in die Gestaltung neuer Technologien und wissenschaftliche Diskurse einzubringen. Lina Franken (Vechta) bietet mit „Neue Technologien im Forschungsalltag wissenschaftspolitisch diskutieren“ programmatische Überlegungen dazu. Ausgehend von der Beobachtung, dass die scientific communities der Digital Humanities und EKW unterschiedliche Relevanzsetzungen digitaler Technologien in den eigenen Forschungsalltagen vornehmen, fragt Franken nach den wissenschaftspolitischen Implikationen dieser – in der EKW eher abwartenden und bisweilen kritischen – Haltung. Sie verweist auf laufende Prozesse der Digitalisierung von Kulturerbe, Forschungsdatenmanagement, Infrastrukturprojekte für Forschungsdaten sowie die Nutzung computationeller Methoden in der Forschung: All diesen, auch wissenschaftspolitisch relevanten, Themenfeldern müssten sich Forschungsprojekte der EKW verstärkt zuwenden, um den „tiefgreifenden Wandel der Forschungsalltage und des Wissenschaftssystems“ (162), der sich derzeit vollziehe, sichtbar mitzugestalten.

Zum Abschluss des Bandes entfaltet Anne Dippel (Jena/Braunschweig) in einem dicht gewebten Text das Konzept der Digitale und ihre Effekte und Veränderungen auf Zeit. In „Schaltkreisexistenzialismus. Zu den elementaren Auswirkungen algorithmischer Kuratierung auf das Verhältnis von abstrakter und sozialer Zeit in der Digitale“ umreißt sie zunächst den „Epochenbegriff“ (171) der Digitale und zeigt anhand der Durchdrungenheit der Welt mit digitalen Phänomenen, wie Verhältnisse von abstrakter und sozialer Zeit neu kalibriert werden. Mit einem kontrastierenden Blick auf „klassisch“ ethnologische Forschungsdarstellungen von Claude Lévi-Strauss und Heike Behrends offenbaren sich die Auswirkungen umso deutlicher: Abstrakte Zeit wird in digital durchdrungenen, algorithmisch geprägten Alltagen umso tiefer verankert und bringt neue soziale Zeitregime des vernetzten Hingebens und de-toxisierenden Abstandgewinnens hervor. Dippel konstatiert den Veränderungen der Digitale weiter „neurotonische Daten“ (187), die, insbesondere im Rahmen der Vermessung digitaler Aufmerksamkeitsökonomien, soziale Zeitempfindungen auf neue Art – wiederkehrend-nivellierend – (vgl. 190) strukturieren. Kulturanthropologische Forschung bliebe davon nicht unberührt und müsse die Neukonfigurationen von Welt in der und durch die Digitale in ihre Forschungen einbeziehen.

Der Sammelband bündelt forschungspraktische und programmatische Texte zur Auseinandersetzung mit digitalen Technologien und bildet damit einen aktuellen Stand der Fachdiskussion ab. In den Texten (wie auf Konferenzen) wird die Relevanz der fachlichen Perspektive auf den Themenkomplex der neuen Technologien stets unterstrichen – hieran muss in Forschungsprojekten, Sichtbarkeiten und interdisziplinären Debattenbeiträgen weiter angeknüpft werden, um die EKW als nicht verzichtbare Akteurin eines, auch wissenschaftspolitischen, Diskurses über neue Technologien und ihre Wirkungen zu positionieren. Die hier versammelte Texte bieten reichhaltiges Material dafür.

 

Anmerkung

1 Der Workshop wiederum fand im Rahmen des abgeschlossenen DFG-Forschungsprojekts „Spielend ‚in the loop‘. Neue Mensch-Software Relationen in Human Computation Systemen und deren Auswirkungen auf Sphären des Alltags“ statt.