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Michael Simon

Alltagskulturen. Forschungsgeschichte – Themenfelder – Zugangsweisen

Baden-Baden 2024, Nomos, 228 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-96821-841-0


Rezensiert von Bernhard Tschofen
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 21.10.2025

Eine kompakte Einführung in unser Fach ist schon lange nicht mehr geschrieben worden. Manchen mag dies auch angesichts der Fülle der Inhalte und Komplexität seiner Traditionen und jüngeren Differenzierungen als gar nicht mehr möglich oder gar nötig erscheinen. Michael Simon, bis 2022 Professor für Kulturanthropologie/Volkskunde an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, hat sich nach seiner Emeritierung dennoch dieser Herausforderung gestellt und seine Erfahrungen aus Jahrzehnten einführender Lehre in einem übersichtlichen und gut benützbaren Buch zusammengeführt. Nicht zuletzt aufgrund seines dank einfacher Ausstattung günstigen Preises (24,90 €) wird der als Paperback und eBook erhältliche Band vor allem Studierende der ersten Semester erreichen. Er spricht aber auch Interessierte aus benachbarten Fächern an, die sich einen raschen ersten Überblick über Konzepte, Geschichte und Arbeitsweisen einer historisch und gegenwartsorientierten Alltagskulturforschung in der Nachfolge der Volkskunde verschaffen wollen. Die gute Lesbarkeit des Bandes, seine rasche Orientierung ermöglichende Gliederung und die umfangreichen, dabei aber nicht ausufernden und gut selektierten, Literaturhinweise kommen dem entgegen.

Ungeachtet des größere Offenheit signalisierenden Titels „Alltagskulturen“ ist die Einführung doch sehr von der Tradition deutsch(sprachig)er Volkskunde her gedacht und präsentiert dieses Fach in einem klassischen, nur vorsichtig um interdisziplinäre und internationale Horizonte erweiterten Zuschnitt. Diesem Anspruch aber wird sie überzeugend gerecht und spiegelt eindrucksvoll die reiche Erfahrung des Autors sowohl in einer großen Bandbreite jüngerer und älterer Forschungsfelder als auch in ihrer anschaulichen Vermittlung an Studierende. Ihre Ableitung aus über die Jahre erprobten und aktualisierten Vorlesungen merkt man ihr auf sehr positive Art an. Das reicht bis hinein in die konkrete Textgestaltung mit Kapiteln weitgehend vergleichbaren Umfangs, knappen Zusammenfassungen und vor allem „Aufgaben und Diskussionsfragen“ jeweils am Ende der vier Abschnitte, in die das Buch gegliedert ist. Sie unterstreichen seinen Charakter als Lehrbuch und erleichtern mit Sicherheit die studentische Rekapitulation der Inhalte und die Prüfungsvorbereitung. Zu erwähnen sind in dieser Hinsicht auch die über den Band verteilten, typografisch abgesetzten 15 Exkurse im Umfang von zumeist rund einer Druckseite. Sie bieten exemplarische Vertiefungen zu Begriffen, Gegenständen oder ausgewählten Quellen und zeigen, wie sich die in den umgebenden Kapiteln aufgebaute Argumentation auf konkrete Beispiele anwenden lässt, oder umreißen in aller Kürze Themen und Inhalte, die in der Darstellung ansonsten keinen Platz finden konnten, diese aber sinnvoll ergänzen. Dies macht den Band ganz nebenbei zu einem kleinen Handbuch, in dem sich rasch fachspezifische Perspektiven auf Stichworte wie „Cultural Turn“, „Aberglaube“, „Folklore und Folklorismus“ oder „Historische Demografie“ abrufen lassen – ein weiteres nützliches Detail dieser ganz auf praktische Handhabung ausgelegten Publikation.

Die großen Bögen, die Michael Simon in den vier Abschnitten schlägt, sind in Anlehnung an den Untertitel mit „Einführung“, „Forschungsgeschichte(n)“, „Arbeitsfelder der jüngeren Alltagskulturforschung“ und „Herangehensweisen“ umrissen. Schon die „Einführung“ (Kap. 1), in der die „ethnowissenschaftliche Perspektive“ (34) auf Kultur und Gesellschaft vermittelt wird und die zentralen Begriffe eingeführt werden, situiert das Denken und Arbeiten der Empirischen Kulturwissenschaft – als die Michael Simon das Fach versteht – in seiner historischen Gewordenheit. Das hilft, selbst auf knappem Raum ein Bewusstsein für die Problematik von Konzepten wie Kultur und Alltag (aber auch: Volk und Rasse) zu wecken, auch wenn die Darstellung hier ihrem Anspruch gemäß niederschwellig und nicht besonders differenziert bleiben muss. Vor allem in Bezug auf „Kultur“ hätte man sich etwas mehr Reflexion der jüngeren Debatten gewünscht; so suggeriert die Argumentation doch sehr ein „komplexes Ganzes“ (20), das dementsprechend auch ganzheitlich zu entschlüsseln ist.

Die im Abschnitt „Forschungsgeschichte(n)“ (Kap. 2) dargebotene Erzählung folgt weitgehend dem etablierten Narrativ einer zur Empirische Kulturwissenschaft modernisierten Volkskunde. Sie setzt dabei aber aus der Breite der Expertise des Autors schöpfende eigene Akzente und macht auch unmissverständlich klar, dass besser von „Forschungsgeschichten im Plural als von einer geschlossenen Fachgeschichte“ (39) zu sprechen ist. Die dafür von Michael Simon getroffene Auswahl ist treffend und macht in ihrer Argumentation en passant auch noch mit ersten Grundlagen der Wissenschaftstheorie vertraut. Zur gelungenen Darstellung trägt nicht zuletzt die gute Bebilderung bei. Dies gilt für diesen Abschnitt, aber auch für den Band als Ganzes: Er ist mit 50 Abbildungen dokumentarischen Charakters, zumeist aus dem Archiv des Autors respektive aus seinen Forschungen und Alltagsbeobachtungen stammend, ausgestattet. Häufig sind sie mit sehr ausführlichen interpretierenden Bildunterschriften versehen, die somit nochmals eine weitere Ebene der Lektüre eröffnen. Für die „Forschungsgeschichte(n)“ beispielsweise tragen die Illustrationen auch dazu bei, die ästhetisch-repräsentative Dimension und damit die kulturelle Situiertheit wissenschaftlicher Praxis anschaulich zu machen. Besondere Erwähnung verdienen in diesem Abschnitt die Vertiefungen zu wichtigen Epochen und historischen Zeitschnitten wie etwa „Die Forschungssituation um 1900“, „Zur Reorganisation von Wissenschaft und Forschung nach dem Zweiten Weltkrieg“ und „Chiffre 1968“, aber auch die vergleichsweise eingehende Darstellung der „Volkskunde in der DDR“. Diese wird zudem durchgängig immer wieder durch Seitenblicke gewürdigt – eine Qualität, die den Band auszeichnet und die Bemühungen des Autors um Berücksichtigung unterschiedlicher Traditionen unterstreicht.

Ein ähnlicher Impetus, vielfältige Genealogien als legitim anzuerkennen, dabei aber die Perspektive eines auf überlieferte Wissensbestände aufbauenden Fachverständnisses nicht aus den Augen zu verlieren, kennzeichnet auch den zweiten umfassenderen Abschnitt „Arbeitsfelder der jüngeren Alltagskulturforschung“ (Kap. 3). Auf den ersten Blick in ihrer Wahl und Anordnung etwas beliebig wirkend, erweisen sich die zahlreichen kleineren Kapitel und Exkurse bei der Lektüre doch als wohlüberlegt arrangiert. Vor allem aber beschränken sie sich nicht allein auf die kanonischen Felder der Volkskunde und ihre möglichen Äquivalente, sondern skizzieren ausgewählte, für das Verständnis des Faches und seiner Frageweisen grundlegende Themen (etwa: „Von der Arbeiterkultur zu den Arbeitskulturen“, „Gemeindestudien“, „Brauch- und Ritualforschung“, „Erzählforschung“ oder „Sachwelt und Museum“), aber ebenso jene Bereiche, an denen sich die konzeptionelle Entwicklung gut nachvollziehbar darstellen lässt. Die Kapitel zu „Mobilität und Migration“, „Geschlecht und Körper“ oder den „Disaster Studies“ seien hier beispielhaft erwähnt. Freilich gilt auch hier, dass die Ausführungen zwangsläufig nicht sehr tiefgehend sein können und man sich da und dort etwas eingehendere Diskussionen aktueller Positionen gewünscht hätte, aber insgesamt bieten die Ausführungen ein gutes Rüstzeug zu fachspezifisch differenzierten Blicken auf aktuelle Themen der Alltagskultur.

Den Abschnitt zu den „Herangehensweisen“ (Kap. 4) hat Michael Simon mit Verweis auf jüngere Sammelwerke zu Methoden und Arbeitsweisen bewusst kurzgehalten. Er ist im Gegensatz zu den vorangegangenen Abschnitten auch mehr als allgemeine Propädeutik angelegt, die mit ganz grundlegenden Kenntnissen vom „Fragen stellen“ bis zur „Auswertung und Verschriftlichung“ vertraut macht. Trotzdem kommt auch hier die fachspezifische Perspektive auf Empirie nicht zu kurz und wird – immer mit Blick auf die konkrete wissenschaftliche Praxis – ein reflektiertes Verständnis von Daten, Quellen und Feldern prominent gemacht. So gelingt es dem Autor, Studierenden das Denken und Arbeiten des Fachs zu vermitteln ohne sich in allzu differenzierten Debatten um epistemologische Grundlagen und Methodologien zu verlieren. Denn letztlich gilt ihm als besonderer Wert, was er auch seiner Leserschaft ans Herz zu legen versucht: „Ein guter Beitrag sollte auf falsche Gelehrsamkeit verzichten, klar und nüchtern geschrieben sein und durch Nachvollziehbarkeit überzeugen.“ (186)

Summa summarum hinterlassen Michael Simons „Alltagskulturen“ den Eindruck einer mit vor allem pragmatischer Intention verfassten Einführung. Es geht ihr weniger um eine Standort-, noch weniger um eine Neubestimmung. Sie tritt bescheiden auf und führt dennoch vor, wie erhellend ein konsequent historisch kontextualisierender und theoretisch informierter (wenngleich selten explizit theoretisch argumentierender) Blick auf disziplinäre Standards und aktuelle Themen unseres Faches sein kann. Es bleibt allerdings die Frage, ob der Titel „Alltagskulturen“ nicht etwas eng und vielleicht auch konventionell gefasst bleibt: Trotz gelegentlicher und im Kapitel „Datenerhebung“ auch explizit gemachter Anmerkungen zu einer vom Paradigma Alltag durchdrungenen Wissenschaftspraxis (vgl. 180–181) bleibt die Bezugnahme auf Alltag doch weitgehend auf einer beschreibenden Ebene im Sinne der „‚Bagatellen‘ als Untersuchungsgegenstand“ (24–25). Eine auch das Wissenschaftsverständnis und damit Denk- und Arbeitsweisen durchdringende politische Dimension dieser Orientierung kommt dagegen für meinen Geschmack etwas zu kurz – und böte dabei doch so viel, was auch Jüngeren die spezifischen Assets Empirischer Kulturwissenschaft vermitteln könnte. Denn letztlich wird das künftige Interesse am Fach auch davon abhängen, ob unsere nun und in näherer Zukunft abtretende Generation die richtigen Wege, das heißt: Inhalte, Sprache und Formate, findet, seine Attraktivität und Relevanz nachhaltig zu kommunizieren.