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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Roger Diederen/Anja Huber/Nico Kirchberger/Antonia Volt (Hg.)

Jugendstil. Made in Munich. Kunsthalle München. Katalog zur Ausstellung

Berlin 2024, Deutscher Kunstverlag, 272 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-422-80241-4


Rezensiert von Bernd Wedemeyer-Kolwe
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 21.10.2025

München war um 1900 eines der wesentlichen Zentren des Jugendstils, und im Laufe der Zeit entstanden etliche private und öffentliche Sammlungen zum Münchner Jugendstil, wobei in den Münchner Museen selbst große Bestände vorhanden sind. Dass in München seit den 1980er Jahren regelmäßig Ausstellungen zum Thema gezeigt wurden, versteht sich daher von selbst. Die neue Ausstellung zum Münchner Jugendstil unterscheidet sich jedoch von den früheren Schauen: Zum einen konnte das Stadtmuseum München in den letzten Jahren mehrere umfangreiche hochkarätige Privatsammlungen zum lokalen Jugendstil übernehmen, die der Öffentlichkeit dringend präsentiert werden sollten. Zum anderen richtet sich diesmal der Blick auf das Thema nicht nur auf Kunst, Architektur und Design, sondern befasst sich in viel stärkerem Maße als früher mit dem zeitgeschichtlichen Kontext der damaligen Epoche, und hier besonders mit den Kulturkonflikten, die in der Reibung zwischen Modernisierung und Industrialisierung auf der einen und den sozialen, künstlerischen und kulturellen Reformbewegungen auf der anderen Seite entstanden waren. Das Spannungsfeld Natur-Kultur, das in dieser Zeit hochaktuell war und zwischen Sozialutopie und Untergangsszenario mäanderte, wird dabei spiegelbildlich auf die heutige Zeit übertragen, in der es – so eine These des Katalogs – vergleichbare Konflikte, Haltungen und Sichtweisen gebe (17). Die Ausstellung betrachtet also ganz bewusst und reflektiert die Vergangenheit durch die Brille der Gegenwart.

Der so erweiterte Blick auf das Thema findet sich auch im Katalog wieder, und die Einleitung in den Band fasst diese Perspektive prägnant zusammen. So wird die allgemeine Zeitdiagnose der vorletzten Jahrhundertwende, die die Epoche als äußerst ambivalent und spannungsreich kennzeichnet, nicht nur auf die künstlerischen Strömungen der Zeit übertragen, sondern in Beziehung zum gesellschaftlichen Kontext gesetzt. Die (angebliche) Kernfrage der Epoche „Wie wollen wir künftig leben“, die sicher nicht von ungefähr auf die heutige Zeit verweist, wird dabei mit dem Hauptimpuls der damaligen Kunst überblendet. Das Kernmotiv, das die Aufsätze des Kataloges durchziehe und sie zusammenhalte und das, so die Einleitung, die damalige Kunst umtreibe, sei der Versuch, das Lebens mittels der Kunst zu reformieren. In ein so definiertes Spannungsfeld passen alle damaligen künstlerischen, kunstgewerblichen, ästhetischen und kunstpädagogischen Entwürfe, Handlungsfelder und Projekte, so sehr sie sich auch auf den ersten Blick zu unterscheiden scheinen. Dadurch kann der Katalog über die engeren Produkte des Jugendstils – Malerei, Architektur, Gebrauchsgrafik – hinausgehen und flankierende zeitgenössische Kulturäußerungen mit einbeziehen. Entsprechend ist der Katalog auch nicht kunsthistorisch nach Orten, Stilen, Personen oder Kunstgegenständen sortiert, sondern nach gesellschaftlich und kontextbezogen bedeutsamen übergeordneten Motiven und Kategorien. Durch die Einordnung verschiedenster künstlerischer Ausprägungen in einen gemeinsamen zeitgenössischen Horizont entgeht der Katalog der Problematik, gegensätzliche oder zumindest ambivalente Tendenzen erklären zu müssen wie etwa Kunstgewerbe versus Kunst, günstige industrielle Gebrauchskunst versus hochpreisige Einzelstücke oder Ornament versus Sachlichkeit. Denn selbst eine einheitliche Motivlage in der Kunst, von der im Katalog ausgegangen wird, lässt den einzelnen künstlerisch tätigen Personen einen enormen Spielraum in Interpretation und Ausgestaltung. Alles passt zusammen.

So befasst sich der erste Abschnitt des Katalogs mit „Natur“, eine zentrale und verschieden ausbuchstabierte Kategorie der damaligen Zeit, deren Bildmotive in den Werken des Jugendstils nicht etwa als naturalistische Kopie abgebildet, sondern in ornamental-florale Interpretation übersetzt wurden, wobei in der Übertragung von „Gesetzmäßigkeiten der Natur“ auf reale Gegenstände erste Schritte zur Abstraktion vollzogen wurden (34). Die Beschäftigung mit der Natur veranlasste damals etliche Künstler (tatsächlich waren es ausschließlich Männer), sich den Ideen und Praktiken der Lebensreform zuzuwenden; wie auch etliche Reformer begannen, künstlerisch tätig zu werden. Gerade München hatte ja mit Karl Wilhelm Diefenbach einen herausragenden, den lokalen Bekanntheitsgrad weit überragenden Protagonisten. Andere (lebens)reformerische Maler und Grafiker der Zeit wie Fidus, Franz Müller-Münster, Sascha Schneider, Ludwig Fahrenkrog, Magnus Weidemann, Gusto Graeser oder der Barkenhoffer Heinrich Vogeler verarbeiteten ebenfalls Elemente des Jugendstils oder waren gar dessen Protagonisten; Verirrungen in völkische Bildwelten eingeschlossen. Ein vergleichbarer, im Katalog ebenfalls erwähnter, Zusammenhang (88) zwischen Reform und Kunst zeigte sich auch im Ausdruckstanz der Zeit.

Ebendiesen Bezug zwischen Kunst, Sinnsuche und Reform illustrieren auch die anderen Schwerpunkte des Katalogs: Der Abschnitt „Historismus“ weist in mehreren Aufsätzen auf die Suche des Jugendstils nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten in der Folge vorangegangener Kunstrichtungen hin; nicht ohne neue technische Möglichkeiten wie die Fotografie zu benennen, die der Jugendstil aufgriff. Das Kapitel „Märchen, Mythen, Sagen“ befasst sich mit der malerischen, grafischen, gebrauchsgestalterischen und darstellerischen (etwa im Figurentheater) Modernisierung traditioneller Erzählstrukturen und Mythen durch den Jugendstil, während der Abschnitt „Nah und Fern“ sich außereuropäischer Einflüsse auf die Kunst des Jugendstils annimmt. Das Kapitel „Schlicht und Funktional“ behandelt schließlich die „Demokratisierung“ des (Münchner) Jugendstils mittels günstig produzierter Gebrauchskunst wie Plakaten, Möbeln oder Alltagsgegenständen, die funktional, aber auch gestalterisch prägnant und modern konstruiert waren und die Schnittstelle zwischen Kunst und Alltag bildeten.

Herauszuheben ist die vorzügliche und qualitätvolle Bebilderung des Katalogs, die eindrücklich und vielfältig das Thema „Jugendstil“ veranschaulicht und zugleich neugierig macht.