Aktuelle Rezensionen
Katharina Schuchardt/Ira Spieker (Hg.)
Performanzen & Praktiken. Kollaborative Formate in Wissenschaft und Kunst
(Bausteine aus dem Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde 44), Leipzig 2024, Leipziger Universitätsverlag, 292 Seiten, ISBN 978-3-96023-610-8
Rezensiert von Simone Egger
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 21.10.2025
Die Vermittlung von Wissen findet in der spätmodernen Gegenwart längst nicht mehr ausschließlich in klassischen Formaten wie Publikationen, Vorträgen oder Ausstellungen in Museen für ein im Wesentlichen akademisches Umfeld statt. Der Philosoph Jacques Rancière zeigt auf, wie sich zugleich auch die Kunst von bestehenden Ordnungen wie festen Bildträgern oder einen längeren Zeitraum gültigen Aufführungspraxen und anderen, nach Disziplinen segmentierten Formen löst (Rancière 2016). Analog wandelt sich der Zuschnitt des Publikums, die gesellschaftliche Mitte verschiebt sich und ist nicht mehr per se an gesetzten Inhalten interessiert. Die Erfahrung von Komplexität ist vielfach einer Ästhetik der Displays mit Kurz-Informationen und Kunst-Stücken gewichen, während auch Akteurinnen und Akteure auf dem Gebiet von „Kunst und Kultur“ – seien es Museumsdirektorinnen, Künstler oder Professorinnen – in den letzten Jahrzehnten massiv an Bedeutung verloren haben. Ein weiterer Aspekt, der Wahrnehmung und Ausdruck verändert, ist die Digitalisierung und damit verknüpft die Digitalität der Gegenwart (Stalder 2016). Zu diesem Wandel müssen sich alle verhalten, während Veränderungen auch neue Perspektiven eröffnen und auf unterschiedliche Weise ermöglichen, die Vermittlung ebenso wie die Produktion von Wissen weiterzudenken und zu gestalten.
Die vorliegende Publikation setzt bei diesen Herausforderungen an und fragt nach neuen Wegen des „Writing Culture“ und des kollaborativen Ethnografierens, das sich in verschiedener Hinsicht um Partizipation bemüht. Dem Band vorausgegangen ist eine Tagung mit dem Titel „Performanzen & Praktiken“, die am 7. und 8. Juli 2022 am Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde in Dresden stattgefunden hat. Die Veranstalterinnen und Herausgeberinnen Katharina Schuchardt und Ira Spieker eröffnen die Diskussion mit einer generellen Einführung in das Thema. In dem Buch geht es zum einen um Präsentationsweisen jenseits der bestehenden Normen. Wie Schuchardt und Spieker schreiben, werden durch solche „Vermittlungsformen […] Zugänge geschaffen, die ein größeres Publikum erreichen, alltagsweltliche Bezüge und die Möglichkeit zu Rückmeldungen und Erweiterungen bieten“ (7). Zum anderen sind es Modi des Arbeitens, die über das mehrheitliche Vorgehen auf akademischen Positionen – sei es nun im Rahmen einer Gruppe oder bei der individuellen Bearbeitung einer Frage – hinausweisen und Partnerinnen aus dem Forschungskontext ebenso wie Kollegen aus anderen Disziplinen in die Operationalisierung miteinbeziehen.
Der Band ist in die vier Kapitel „Positionierungen“, „Inszenierungen“, „Interventionen“ und „Kollaborationen“ untergliedert. Die Beitragenden aus dem Bereich der Empirischen Kulturwissenschaft, der Kunstwissenschaften, der Künste und des Designs gehen überwiegend von eigenen Projekten aus und reflektieren ihre Erfahrungen im skizzierten Kontext. Zwei „Positionierungen“ beleuchten zunächst das durchaus mit Reibung verbundene In-Bezug-Setzen von Kunst und Ethnografie. Ute Holfelder stellt in diesem Rahmen drei Modi der Ko-Produktion – additiv, miteinander verwoben und getrennte Wege gehend – vor, die sie exemplarisch an verschiedenen, von ihr durchgeführten Forschungen festmacht, und betont dabei das Prozesshafte in der Zusammenarbeit mit unterschiedlichen Deutungs- und Herangehensweisen. „Trotz aller Differenzen, Komplikationen und Unwägbarkeiten eröffnen transdisziplinäre Projekte, die in Form einer Ko-Produktion stattfinden, auch viele Möglichkeiten“ (42). Simon Graf denkt vor dem Hintergrund seines Projekts mit dem Titel „Materialisierte Erinnerungen (in) der Landschaft“ über „Spannung durch Friktionen im Feld“ nach. Das Thema zieht sich von der Antragsstellung bis hin zur konkreten Umsetzung des Vorhabens. Gegenstand seiner Dissertation, einer künstlerisch-ethnografischen Ko-Produktion mit dem Filmemacher Florian Wegelin, sind Panzersperren, die der Landesverteidigung dienen „und bis heute die Kulturlandschaft in der Schweiz prägen“ (43).
Alexa Färber und Alexander Martos fragen in ihrem Beitrag – Gegenstand ist der Klimawandel – nach dem „Potenzial vorausgreifenden Forschens & Gestaltens und seinen zeitlichen Bedingungen“, so der Untertitel ihres Textes. Ihre Ausführungen zur „Realfiktion Klimarechnungshof“ bilden den Auftakt der „Interventionen“. Das gestaltend-forschende Format mit Beteiligten aus verschiedenen Professionen wird, angelehnt an den im Spätkapitalismus etablierten Arbeitsmodus, in einem projektförmigen Rahmen etabliert und verweist qua Behauptung über die Gegenwart hinaus in die Zukunft. „Die Realfiktion Klimarechnungshof verfolgt dabei zwei Ziele: Indem sie sowohl eine reale gesellschaftliche Forderung mit performativen Mitteln verstärkt als auch den damit verbundenen Prozess beobachtet, untersucht das transdisziplinäre Projekt zum einen die Wirkung dieses Ansatzes und gestaltet zum anderen aktiv die Auswirkungen von Klimawandelwissen auf gesellschaftlichen Wandel.“ (77) Tatjana Hoffmann spürt dem Ansatz der „Geopoetik“ auf der ukrainischen – und von Russland annektierten – Halbinsel Krim nach. Dazu bewegt sie sich empirisch forschend im Umfeld der Szene, die dieses Konzept hervorgebracht hat, dem Krim-Club und seiner Veranstaltungsreihe „Bosporusforum“. Es geht um wechselseitige Beziehungen, Durchdringungen und Projektionen zwischen Landschaften und menschlichen Akteurinnen wie Akteuren. „Geopoetik erweist sich als kollaborative Deutungsmethode der Künste und der Wissenschaften“ (93) – gerade auch in einem politisch stark umkämpften Raum. Der sprachgewaltige Literat Bodo Hell ist Gegenstand von Michael J. Gregers Ausführungen. In seinem Beitrag geht es nicht um eine konkrete Zusammenarbeit, sondern um das Moment der Ethnografie im Werk des österreichischen Universalkünstlers. Bodo Hell sampelt oder collagiert in seinen Arbeiten historische Texte zur Volkskunde und zeichnet seine Beobachtungen auf der Alm wie auch in der Großstadt in Notizbüchern auf. Sein Vorgehen ist der Feldforschung nahe, bei allen Berührungspunkten bleibt Bodo Hell aber ganz transdisziplinärer Künstler, dem es darum geht, komplexe Inhalte, wie sie in der Weise noch nicht gesehen werden, freizulegen – was ihn der Ethnografie wiederum noch näherbringt. Paulina Seyfried setzt in ihrem Text bei den „Möglichkeiten und Herausforderungen von Kollaboration als strukturelle[r] Transformationsmethode im Kunstfeld“ (133) an. Vor dem Hintergrund des Neuen Institutionalismus zu Beginn der 2000er Jahre geht es aus einer dezidiert kunstwissenschaftlichen Sicht um Impulse und Modi des Arbeitens, die im Austausch von Freier Szene und institutionalisierten Formen der Kunstvermittlung entstehen.
Unter dem Oberpunkt „Inszenierungen“ stellt zunächst Frauke Wetzel als Programmleiterin des Formats „neue unentd_ckte narrative 2025“ („nun“) ihre Erfahrungen in Sachen Kollaboration zwischen Theater und Zivilgesellschaft vor. „Mit verschiedenen kleinen und großen Kulturformaten gestaltet das Programm […] in Chemnitz und im Erzgebirge vielseitige Erzählräume, um Antworten auf aktuelle gesellschaftspolitische Herausforderungen wie Rechtspopulismus zu finden.“ (155) Katharina Schuchardt und Ira Spieker reflektieren in ihrem Beitrag, wie das grenzüberschreitende „Zusammen arbeiten“ der Wissenschaftlerinnen mit der Prager Dramaturgin Veronika Kyrianová – dem öffentlichen Dienst in Deutschland und der Freien Szene in Tschechien – verlaufen ist. Aufgrund der differierenden Konstellationen und nicht zuletzt auch aufgrund der Pandemie war die Kollaboration ebenfalls mit Reibungen verbunden, und doch sind Performances daraus hervorgegangen. Von zentraler Bedeutung war auch für Katharina Schuchardt und Ira Spieker das prozesshafte und als bereichernd empfundene Aushandeln im Kontext der gemeinsamen Produktion. „Das Museum der Deutschen“ von Theresa Jacobs und Michael Wehren bildet den Abschluss dieses Kapitels. Bei dem theatralen Projekt in Budyšin/Bautzen, das sich mit der sorbischen Minderheit befasst, handelt es sich um „eine kollektive Fiktion zwischen Zuschauer:innen und Akteur:innen, bei der angenommen wird, dass wir jetzt und hier 500 Jahre in der Zukunft leben“ (193) und alle Deutschen – bis auf die Sorbinnen und Sorben – verschwunden sind. Theresa Jacobs und Michael Wehren betonen die Qualität der Arbeit als Drittem Raum, in dem „Dialogizität überhaupt entstehen und erfahrbar werden“ (209–210) kann.
Inga Reimers eröffnet mit ihrem Text die Reihe der „Kollaborationen“ und setzt sich mit den Bedingungen dieser Art des Arbeitens auseinander. Gegenstand des Beitrags ist ihr Dissertationsprojekt „Essen mit und als Methode“, das in dem künstlerisch-wissenschaftlichen Graduiertenkolleg „Versammlung und Teilhabe“ entstanden ist. Im Fokus stehen Ess-Settings, öffentliche oder halböffentliche Veranstaltungen, bei denen kollektiv gegessen und/oder gekocht wird. Diese Situationen „sind an der Schnittstelle zwischen Kunst, Wissenschaft und zivilgesellschaftlichem Engagement bzw. Aktivismus verortet“ (215). Isabella Kölz, Lena Schweizer und Luisa Hochrein stellen ihr Projekt „StadtTagebücher Würzburg“ vor und geben „Einblicke in eine designanthropologische Konstellation“. Aus einer Forschung über Design ist mit dem kollaborativen Kulturprojekt „ein public interest design entstanden, das für alle Beteiligten Räume für Reflexion, Zusammenarbeit, Perspektivwechsel, Experiment und Kreativität öffnen soll“ (232). Susanne Müller-Bechtel und Henrike Hans dokumentieren in ihrem Artikel mit dem klingenden Titel „Kaffee, Kaufmann, Kunst“ die Ergebnisse eines Projektseminars im musealen Bereich. Gemeinsam mit Studierenden der Universität Würzburg haben sie sich im Ludwig-Roselius-Museum in Bremen anlässlich dessen 100-jährigen Bestehens über Möglichkeiten der Wissensvermittlung in der Spätmoderne Gedanken gemacht.
Tyyne Claudia Pollmann setzt sich am Exempel ihres Projekts „Polyphonic Perspectives“ mit der Logik des Forschens aus künstlerischer Perspektive auseinander. „[A]rt and artistic research comprises a field of practices that create local and temporal strategies that unfold their impact in the special and do not stop ar any section of the real, no matter which manifestation.“ (266)
Anzumerken ist, dass der überwiegende Teil der Texte aus der Perspektive von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern geschrieben ist, die sich aus ihrem Fachverständnis heraus mit künstlerischen Praktiken auseinandersetzen. Die Frage, wie sich Künstlerinnen und Künstler zur ethnografischen Wissensproduktion positionieren, stellt sich in einem weitaus geringeren Teil der Beiträge. Insbesondere der letzte Artikel macht aber noch einmal deutlich, wie wichtig es auch aus einer anthropologischen Sicht ist, die Arbeit und das Agieren von Künstlerinnen und Künstlern künstlerisch und kunstwissenschaftlich zu verstehen – nicht zuletzt um Reibungen, von denen im Kontext des kollaborativen Arbeitens vielfach die Rede ist, auf produktivere Weise aufzunehmen. Der Band von Katharina Schuchardt und Ira Spieker ist ein zentraler Baustein für die Weiterentwicklung der kulturwissenschaftlichen Methodologie und eine Bereicherung für die Forschung mit und in Feldern. Gleichzeitig macht er deutlich, dass künftig auch das, was im Bereich der Kunst und der Wissensvermittlung als „Audience Development“ bezeichnet wird, sowohl für die Reflexion der eigenen Empirie als auch mit Blick auf die Rezeption von Forschungsergebnissen immer mehr an Bedeutung gewinnen wird.