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Mirella Carbone/Joachim Jung/Institut für Kulturforschung Graubünden

Grenz-Erfahrungen. Schmuggel und Flüchtlingsbewegungen im Fextal und Bergell 1930–1948

Zürich 2024, hier und jetzt, 548 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-03919-598-5


Rezensiert von Esther Gajek
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 21.10.2025

Grenze als Ort des Schmuggels und der Flucht – zwischen diesen Polen bewegen sich die zentralen Fragen der vorliegenden Veröffentlichung über zwei Schweizer Bergtäler in unmittelbarer Nähe zu Italien, dem Fextal hinter Sils im Engadin und dem Bergell von Maloja bis Castasegna. Um welche Dimensionen handelte es sich? Welche Waren wurden über die Grenze gebracht? Welche Bedeutung hatte illegaler Verkehr von Waren und Menschen für die Bevölkerung, die zwischen 1930 und 1948 in diesem Raum lebte? Wie veränderte sich das Verhältnis im Grenzverkehr je nach Situation? Was bekamen die Bewohnerinnen und Bewohner dieser Gebiete vor und im Krieg von den Fluchtbewegungen im Gebirge mit? Wie war es für diejenigen, die im Bereich der Grenzen, im Hochgebirge, ihren Dienst ausübten? Und wie empfanden es diejenigen, die sich auf diesen Strecken unter Lebensgefahr hin- und herbewegten? Alle Genannten machten mit und an der Grenze ganz unterschiedliche Erfahrungen – sie sind Thema des Bandes.

Er beginnt mit einer grundsätzlichen Diskussion des Paradigmas der Grenzen als „Lebensräume, als Übergangsbereiche, als Kontroll- und Sperrgebiete, als Pendlerzonen, als Auffang- oder Rückweisungsräume“ (15). In der Einleitung beschreiben Mirella Carbone, und ihr Kollege Joachim Jung, die beide das Büro des Instituts für Kulturforschung in Sils leiten, ihre eigenen Erfahrungen mit Grenze. Aber nicht nur dies begründete das Forschungsfeld, sondern eine exzellente Quellenlage und die für das Buch gewählte Zeit vor und im Zweiten Weltkrieg – ein besonderer Moment, in dem sich Grenzbeziehungen gut nachvollziehen lassen. Das in der Forschung aktuell gängige Konzept der „Bordertextur“ (18), wie es die beiden verwenden, hat den Vorteil, dass es nicht statisch und abgeschlossen ist, sondern offen und dynamisch; es wird permanent neu von den Beteiligten ausgehandelt. Zudem verweist es auf Übergeordnetes wie Legalität, Illegalität, Statuszuschreibungen, Legitimität, politische Systeme, „Freiheit, Gefangenschaft, Sicherheit und Todesdrohung“ (17). Der Grenzraum ist damit als „potentiell hybride Zone von verschränkten Existenzen“ (19) zu verstehen und zu behandeln.

Mit „Grenz-Erfahrungen“ wird eine Forschungslücke gefüllt. Das hier präsentierte Material, das mit größter Akribie in einem mehrjährigen Forschungsprojekt erhoben und bearbeitet wurde, ist neu. Carbone und Jung haben vier Gruppen von Akteurinnen und Akteuren in den Blick genommen: die Schweizer Grenzbewohnerinnen und -bewohner, die Grenzwächter, die Flüchtlinge aus Italien und schließlich die italienischsprachigen Schmugglerinnen und Schmuggler. Zu 32 qualitativen Interviews der Schweizer Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die damals Kinder waren und umfangreiche Erinnerungen hatten, kommen die Gespräche mit acht noch lebenden ehemaligen Flüchtlingen. Sie werden ergänzt durch bereits verschriftliche Interviews italienischer Schmuggler und Grenzwächter sowie durch den höchst seltenen Quellenbestand von Dienst- und Aktenregistern des Grenzpostens in einem der beiden Grenztäler, dem Val Fex, aus der Zeit von 1935 bis 1958. Eine weitere Materialgrundlage bilden zeitgenössische Fotos, zahlreiche einschlägige archivalische Quellen und die inzwischen zugängliche AUPER-Datenbank des Schweizer Bundesarchivs mit Angaben zu über 67.000 Zivilisten, die zwischen 1936 und 1946 in die Schweiz flüchteten und hier verzeichnet sind. Man kann als Leserin und Leser nur staunen, welche Fülle an schriftlichen Zeugnissen, mündlichen Erinnerungen und privaten Fotografien zu diesem tabubehafteten Thema überliefert ist und nun ausgewertet werden konnte.

Die Dimensionen der illegalen Grenzüberschreitungen im hier untersuchten Gebiet waren zwar nicht so groß wie andernorts zwischen der Schweiz und Italien, erreichten aber ein nennenswertes Ausmaß, und das trotz schwierigster Gegebenheiten in bis zu 3.000 Metern Höhe des Grenzverlaufes. Zwischen dem 1. Juli und dem 11. Dezember 1935 wurden beispielweise von dem mit einer Person besetzten Fexer Posten 895 Schmuggler gezählt – die Dunkelziffer liegt weit höher. Ausfuhrschmuggel wurde von den Schweizer Zöllnern geduldet, bei Ausbruch von Maul- und Klauenseuche und in den Kriegsjahren erfolgte jedoch strengste Bewachung. In den dreißiger und vierziger Jahren waren materielles Elend und Verfolgungen durch Faschisten und Nationalsozialisten ausschlaggebend, die Unbill des Warentransports wie der Flucht auf sich zu nehmen, selbst über gefährliche Gletscher hinweg: „Schmuggler, schwer beladen mit Gütern aller Art – sogar mit Autopneus – sowie Militär- und Zivilflüchtlinge, mit oder ohne Passeure, stellten sich zu jeder Tages- und Jahreszeit, bei fast jeder Wetterlage den Strapazen und Gefahren hochalpiner Passüberquerungen. An der Risikobereitschaft dieser Menschen lässt sich ihre Not, die Ausweglosigkeit ihrer ökonomischen oder existentiellen Lage ermessen.“ (501)

Der besonders große Schmuggel von Italien in die Schweiz kann durch die großen ökonomischen und politischen Unterschiede zwischen den beiden Ländern erklärt werden, die in der Zeit von 1930 bis 1948 geherrscht haben: in Italien wirtschaftliche Unsicherheit und Diktatur, in der Schweiz eine starke Währung und politische Neutralität und damit Stabilität. Grundsätzlich zeichnen sich zwei Entwicklungen ab: erstens der sogenannte Ausfuhrschmuggel von Genussmitteln wie Tabak, Kaffee und Zucker aus der Schweiz in den dreißiger Jahren, um hohe Zolltarife und Verbrauchssteuern in Italien zu umgehen und zweitens der illegale Warenfluss zwischen 1943 und 1948 in und aus der Schweiz, der Grundnahrungsmittel wie zum Beispiel Reis (gegen Salz) umfasste. Die für den Band interviewten Zeitzeuginnen und -zeugen führten nicht nur Versorgungsengpässe und strenge Rationierungen von Importgütern im eigenen Land an, sondern betonten auch, dass sie durch den Handel mit ihren italienischen Nachbarinnen und Nachbarn diese in ihrer prekären Lage hätten helfen wollen und können. Sowohl sprachlich wie soziokulturell gäbe es – so Carbone und Jung – eine große Nähe zwischen den Bewohnerinnen und Bewohnern der Grenzgebiete.

Die Flüchtlingsbewegungen kamen vor allem in den Erzählungen der Bergeller Befragten vor. Die damaligen Kinder erinnerten sich, wie Menschen auf den Weitertransport in ihren Dörfern warteten oder dort über Wochen im sogenannten Interniertenheim, einem umgebauten Hotel, untergebracht waren. Hier ergaben sich Kontakte und Begegnungen, und beim Brand eines Heims im Februar 1945 dann ganz konkrete Möglichkeiten von Solidarität und Gastfreundschaft. In einigen Fällen gelang es Carbone und Jung, von den Befragten zu profitieren, ihnen aber auch etwas zurückzugeben: Die Bergellerinnen und Bergeller profitierten von weiterführenden Informationen zu den Flüchtlingen, die diese als Kinder gekannt hatten; Mitglieder einer jüdischen Flüchtlingsfamilie erhielten von Carbone und Jung dezidierte Hinweise aus Archivalien, die ihre Familienangehörigen damals betroffen hatten. Ein anderer, zur Zeit des Interviews 98-jähriger Flüchtling, der noch ein differenziertes Bild seiner Flucht zeichnen konnte, war dankbar, dass seine Erfahrungen nun für die Nachwelt erhalten bleiben werden.

Die Qualität von „Grenz-Erfahrungen“ liegt in der Tiefe und Gründlichkeit, mit der Carbone und Jung in das Material eingetaucht sind. Abstrakte Themen werden konkret, weil einzelne Personen und deren Lebensumstände präzise hervortreten: Schmuggler wie Grenzposten, Flüchtlinge wie Einheimische. So offenbaren die umfangreichen Unterlagen der Posten im Fextal und Egodokumente von Grenzbeamten bisher unbekannte Inhalte: Nicht nur Schmuggler waren harten Lebensbedingungen ausgesetzt, sondern auch deren Antagonisten, die Grenzposten. Sie hatten wechselnde, lange Dienstzeiten, waren widrigsten Außentemperaturen ausgesetzt, bekamen niedrigen Lohn, wohnten unter misslichsten Bedingungen und mussten unangekündigte Kontrollen sowie häufige Versetzungen über sich ergehen lassen. Sie durften, um Fraternisierungen vorzubeugen, keinen Kontakt zur Bevölkerung haben und hatten im Zweiten Weltkrieg auch polizeiliche und militärische Aufgaben zu erledigen. Trotz aller Widrigkeiten waren damals angesichts der schwierigen Lage auf dem Schweizer Arbeitsmarkt Stellen im Bundesdienst gefragt. Die Schmuggler aus dem italienischen Valmalenco dagegen waren, wie es ein damaliger Zollbeamter formulierte, „arme Kerle, die aus Not diese mühsame und gefährliche Arbeit verrichteten“ (142). Sie nahmen die enormen Strapazen der langen, hochalpinen Überquerungen auf sich, ganz zu schweigen von den Gefahren einer Inhaftierung, um durch den Austausch von Waren etwas zu verdienen.

Bei den jüdischen Flüchtlingen gelang es Carbone und Jung über die AUPER-Datenbanken zum Teil ganze Familien exakt zu identifizieren und die Fluchtgeschichten zu rekonstruieren oder durch mündliche und schriftliche Erinnerungen von noch lebenden Familienmitgliedern zu ergänzen. Die Schilderungen der langen, gefährlichen Fluchtwege, der Unwägbarkeiten bis hin zu höchster Lebensgefahr sind an Dramatik nicht zu überbieten. Dies gilt auch für die Fluchtgeschichten der hunderten von Partisaninnen und Partisanen.

Die Monografie über den Grenzverkehr in zwei Schweizer Bergtälern kann als vorbildlich gelten. Sie präsentiert ein bisher unbekanntes Material in seiner Tiefe, diskutiert dieses in allen vorhandenen Aspekten und kommt zu neuen Ergebnissen. Dass diese viele Jahre umfassende Grundlagenforschung möglich war, ist organisatorisch dem Institut für Kulturforschung in Graubünden zu verdanken, finanziell einer ganzen Reihe Schweizer Stiftungen. Inhaltlich waren es die Vielzahl von Zuträgerinnen und Zuträgern wie der Zugang zur AUPER-Datenbank, die diesen Band ermöglicht haben. Mit ihr hat der Schweizer Staat die Grundlage dafür gelegt, dass aus den Fehlern der Vergangenheit, der restriktiven Flüchtlingspolitik im Zweiten Weltkrieg, in einer Art „Selbstdurchleuchtung“ (497) für die Zukunft gelernt werden kann. So ein Vorgehen würde man sich in allen europäischen Ländern wünschen – weitere Werke wie „Grenz-Erfahrungen“ ohnehin.