Aktuelle Rezensionen
Astrid Ackermann/Markus Meumann/Julia A. Schmidt-Funke u.a. (Hg.)
Mitten in Deutschland, mitten im Krieg. Bewältigungspraktiken und Handlungsoptionen im Dreißigjährigen Krieg
(bibliothek altes Reich 33), Berlin/Boston 2024, De Gruyter Oldenbourg, X + 611 Seiten, 37 farbige, 1 schwarz-weiße Abbildung
Rezensiert von Fabian Schulze
In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte
Erschienen am 21.10.2025
Es ist kein neues Phänomen, dass frühneuzeitliche Thematiken in der deutschen Erinnerungskultur vor allem dann Konjunktur haben, wenn sie mit möglichst „runden“ Jubiläen respektive Gedenkjahren verknüpft werden können. Man denke aktuell nur an die Vielzahl an Ausstellungen, Vorträgen und Publikationen mit Bezug zum Bauernkrieg vor 500 Jahren. Nicht ganz so öffentlichkeitswirksam wurde 2018 der 400. Jahrestag des Prager Fenstersturzes und damit der Beginn des Dreißigjährigen Krieges begangen, was vielleicht auch daran gelegen haben mag, dass seinerzeit gleich mehrere größere „Jubiläen“ um akademische und öffentliche Beachtung miteinander wetteiferten. Dennoch war die Fülle der Publikationen zum Dreißigjährigen Krieg rund um das Jahr 2018 erheblich, darunter einige umfangreiche, den bisherigen Wissenstand subsumierende Monografien prominenter Politik- und Geschichtswissenschaftler wie Herfried Münkler oder Johannes Burkhardt. Für die Forschung ertragreich waren auch mehrere neu erschienene Detailstudien, die sich z.B. den Reichskreisen im Dreißigjährigen Krieg oder dem Kriegsalltag in einzelnen Städten widmeten. Ein gewisser „Nachzügler“ jener regen Forschungs- und Publikationstätigkeit des Jahres 2018 wurde erst letztes Jahr von Astrid Ackermann, Markus Meumann und Julia A. Schmidt-Funke vorgelegt: Ihr Sammelband geht auf eine Gothaer Tagung im September 2018 zurück, die sich mit Bewältigungspraktiken und Handlungsoptionen im Dreißigjährigen Krieg befasste.
Ziel der Tagung war es, mittels eines vor allem akteurszentrierten Fokus in verschiedenen Beiträgen die stereotypische Vorstellung zu korrigieren, wonach sich die Zeitgenossen des Dreißigjährigen Krieges ihrem Leid einfach schicksalshaft ergeben hätten. Im Mittelpunkt sollten dabei, so die Herausgeber, die „Agency“ beziehungsweise die Handlungsoptionen der vom Krieg betroffenen Menschen stehen, die nicht zu den höheren militärischen oder politischen Entscheidungsträgern gehörten (vgl. Vorwort, S. IX). Die vorliegenden Beiträge wurden fünf Sektionen bzw. Kapiteln zugeordnet, die im Folgenden kurz besprochen werden sollen.
Die erste Sektion, „Beschreiben und bewältigen“, – wie alle Kapitelüberschriften orthografisch etwas eigenwillig geschrieben – fokussiert sich auf die (zeitgenössische) historiografische (Andreas Bähr) und literarische Rezeption des Krieges bzw. kriegsinduzierter Praktiken, Vorstellungen und Traumata. Nicht ganz überraschend befassen sich gleich zwei Beiträge mit Grimmelshausen und/oder Gryphius (Dirk Niefang, Friedrich Beiderbeck).
Die nächste Sektion ist mit „Überleben und überwinden“ betitelt. Die Beiträge von Markus Meumann, Stefanie Fabian und Johannes Kraus widmen sich dabei – konsequent dem ursprünglichen Tagungsfokus folgend – Überlebens- und Selbstbehauptungsstrategien Mindermächtiger, wie der einfachen Landbevölkerung, weiblichen Akteuren und delinquent gewordenen Söldnern.
Die Aufsätze der dritten Sektion, „Gewinnen und verlieren“, eint ihr Fokus auf urbane Räume und wirtschaftliche Aspekte. Alexander Zirr widmet sich den Handlungsspielräumen der Leipziger Bürgerschaft in der Endphase des Krieges unter schwedischer Besatzung, Philip Hoffmann-Rehnitz den Reichs- und Hansestädten Lübeck, Hamburg, Bremen und Köln, die er als „Städte im Ruhestand“ (S. 277) charakterisiert, da sie weitgehend von direkten Kriegshandlungen verschont blieben und dennoch u.a. ökonomisch und fiskalisch in den Krieg involviert waren. Astrid Ackermann greift das wirtschaftliche und logistische Engagement städtischer Kaufleute im Krieg ebenfalls auf und fokussiert sich dabei auf die Verbindung zweier Kaufleute zu den ernestinischen Herzögen.
Wie die Überschrift „Entscheiden und erinnern“ schon nahelegt, vereint die vierte Sektion respektive das vierte Kapitel des Bandes thematisch eher heterogene Beiträge. Zumindest verbindet alle Aufsätze ein Forschungsinteresse an Ernestinern bzw. ernestinischen Territorien. Siegrid Westphal geht in ihrem Aufsatz der Frage nach, ob Herzog Johann Casimir von Sachsen-Coburg eher als Friedensfürst oder pragmatischer Landesherr einzuschätzen ist. Mit der Fokussierung auf einen regierenden Reichsfürsten hebt sich ihr Beitrag freilich von der von den Herausgebern postulierten Schwerpunktsetzung des Sammelbandes etwas ab, der, wie schon erwähnt, eigentlich vor allem die „Mindermächtigen“ in den Blick nehmen will. Auch der nächste Aufsatz gilt einem „Akteur der politischen Entscheidung“ (S. 363), der im Ernestinischen zu verorten war: Marcus Stiebing untersucht den Einfluss von Friedrich Hortleder, Rat am Weimarer Herzogshof, auf die Beurteilung des böhmischen Aufstands von 1618 durch Sachsen-Weimar und die weitere Politik des Herzogtums in der Anfangsphase des Krieges. Stefanie Freyer stellt sich in ihrer Studie anhand der Untersuchung des Baues des Schlosses von Gotha die Frage, wie und aus welchen Motiven ein profaner Monumentalbau mitten im Dreißigjährigen Krieg in einem vielfach verheerten Territorium letztlich erfolgreich projektiert und realisiert werden konnte. Der letzte Beitrag der Sektion stammt von Ulrike Eydinger, die Herzog Ernst von Sachsen-Gotha-Altenburg als Sammler von Flugblättern portraitiert. Dankenswerterweise sind zahlreiche Abbildungen der von Eydinger besprochenen Flugblätter abgedruckt, finden sich jedoch über den gesamten Sammelband verteilt jeweils zu Beginn der verschiedenen Aufsätze. Nach welcher Systematik welches Flugblatt welchem Aufsatz vorangestellt wurde, mag sich dem Leser zwar nicht immer erschließen, erfrischend innovativ ist diese Anordnung aber allemal.
Die letzte Sektion bzw. das letzte Kapitel des Bandes ist mit „Glauben und hoffen“ betitelt. Georg Schmidt widmet sich in seinem Beitrag geistlichen Akteuren und deren Ausdeutung von Gottes Wille (und damit auch ein Stück weit der Mitverantwortung der Geistlichkeit) im Krieg, während Julia A. Schmidt-Funke das breite Spektrum an theologischen Positionen innerhalb des Luthertums in Gotha während des Dreißigjährigen Krieges aufzeigt. Der letzte Aufsatz der Sektion und zugleich des Sammelbandes gilt dem Didaktiker und Universalgelehrten Wolfgang Ratke, dessen umfangreiche bildungs- und gesellschaftstheoretischen Reformideen und deren letztlich tragisches Scheitern Dorothea Meier beleuchtet.
Abgeschlossen wird der Band neben den obligatorischen Abbildungsnachweisen von einer umfangreichen Bibliographie und einem Personenregister. Ebenfalls darf nicht unerwähnt bleiben, dass jedem der einzelnen Beiträge ein Abstract auf Deutsch und Englisch vorangestellt ist.
In der Gesamtbetrachtung ist festzuhalten, dass der vorliegende Sammelband nicht nur optisch und in seinem schieren Volumen beeindruckt, sondern ebenso in der thematischen Bandbreite. In geografischer Hinsicht ist zwar eine gewisse Schwerpunktsetzung auf den mitteldeutschen Raum offensichtlich, überrascht aber angesichts der ursprünglichen Tagungskonzeption nicht. Auch ist in der Regel zu verschmerzen, dass nicht alle Beiträge des Sammelbandes die jüngsten Publikationen zum Dreißigjährigen Krieg aus den Jahren ab 2018 schon vollumfänglich rezipieren konnten.