Logo der Bayerischen Akademie der Wissenschaften

Kommission für bayerische Landesgeschichte

Menu

Aktuelle Rezensionen


Karsten Plöger

Das Engadin. Biografie einer Landschaft

Zürich 2023, hier und jetzt, 319 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-03919-579-4


Rezensiert von Esther Gajek
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 23.10.2025

Wieder ein Band über das Engadin? Womöglich mit vielen farbigen Bildern und Anekdoten rund um Luxushotels, die VIPs und die hehre Bergwelt feiernd? Nein, das ist Karsten Plögers Band in keiner Weise. Der promovierte Historiker holt weit aus, weist detailliert nach, vor allem aber fasst er interdisziplinär bisher verstreutes Wissen über eine weltbekannte Gegend pointiert zusammen. 813 Anmerkungen, 13 eng bedruckte Seiten Bibliografie, ein detailliertes Ortsverzeichnis und über 50 eher unbekannte Abbildungen, die europaweit recherchiert wurden, entsprechen dem Niveau eines Fachbuches. Dass es sich dann auch noch um ein gut geschriebenes Werk handelt, macht dessen Lektüre umso erfreulicher.

Aus der Einleitung, die den Titel „Landschaft im Dreiklang der Zeiten“ trägt, wird der Anspruch der Monografie deutlich. Plöger beruft sich mit seinem Konzept, die „Biografie einer Landschaft“ zu schreiben, auf Fernand Braudels 1949 erschienene Studie über das Mittelmeer und die mediterrane Epoche unter Philipp II. Es sei, so Plöger Braudel zitierend, wichtig, eine ganzheitliche Geschichte zu verfolgen: Ereignisgeschichte müsse mit erstens den „langsamen Rhythmen“ (9), zweitens mit Herrschaftsorganisation und Machtverhältnissen verbunden werden und drittens besonders mit den Kontinuitäten, der „long durée“ (10). Im Engadin seien dies unter anderem Klima, Siedlung, Transitwesen, Handel, Migration, Besitzverhältnisse und Sprache, nicht zu vergessen die Gestaltung einer Landschaft und deren Bewirtschaften unter Extrembedingungen, 1.800 Metern über dem Meeresspiegel.

Auf das Vorwort folgen fünf Kapitel, die jeweils im Titel die Ereignisgeschichte des Engadins und dessen Besiedlung aufgreifen. Schon in der Bronzezeit (2200–800 v. Chr.) lassen sich Handelsbeziehungen über hunderte von Kilometern nachweisen, Spezialisierungen im Bronzeguss wie auch eine sich damit herausbildende wohlhabende Oberschicht und eine relativ hohe Bevölkerungszahl. Archäologische Funde belegen frühe Glaubenswelten mit Opfergaben zu bestimmten Gelegenheiten sowie Weihegaben wie Schwerter, deren Herstellung differenzierte handwerklichen Fähigkeiten voraussetzte. Es herrschte „ein Geben und Nehmen […] auf allen Ebenen […] Das prähistorische Engadin war Lebens- und Grenzraum, in zunehmendem Masse aber auch schon Durchgans- und Begegnungsraum. Schon sehr früh werden dabei Anzeichen für eine unterschiedliche Entwicklung des Ober- und des Unterengadins erkennbar.“ (30)

In der über fünfhundert Jahre währenden Epoche zwischen römischer Invasion 15 v. Chr. und Eingliederung in das Frankenreich 536, der das zweite Kapitel gewidmet ist, wurde das Engadin beziehungsweise dessen Bevölkerung unterworfen, ein Teil der männlichen Bevölkerung zwangsrekrutiert. Das Gebiet war nun Teil von „Raetia“ und damit vollends zum Durchgangsraum für die römischen Truppen auf ihrem Weg nach Norden geworden. Schon vorhandene Pässe wurden ausgebaut, neue geschaffen. In der Folge weitete sich der Fernhandel aus – auch durch die von den Römern eingeführte einheitliche Währung. „Italische und nordafrikanische Keramikprodukte, Lavezgeschirr, Amphoren mit Öl und Wein, Südfruchte, Stoffe, Teppich und Gewürze aus dem Orient, Salben und Parfüms, Fisch und Meeresfrüchte“ (43) erreichten Rhätien; in den Süden handelte man vor allem mit Tieren, Fleischprodukten, Erzeugnissen aus Wolle und Holz. Trotz großer Veränderungen blieben die Beharrungskräfte in Hinsicht auf (Land-)Wirtschaft, Handel, Kultur und Religion in dem doch relativ abgelegenen Tal stark. Der Akkulturationsprozess an die römische Kultur verlief über mehrere Generationen und lässt sich bis heute in der rätoromanischen Sprache nachweisen, dem eine Art Vulgärlatein oder Rätolatein zugrunde liegt.

Für die nachfolgende Phase, die Zeit zwischen 536 und 1367 – den „Aufbruch ins Mittelalter“ (53) – stellt Karsten Plöger hohe disruptive Kräfte fest: Durch die Christianisierung veränderten sich Glaubenswelten; die Feudalisierung, neue Strukturen der Herrschaft mit großen sozialen Ungleichheiten, beeinflusste die Beziehungen der Menschen; der Ausbau der Kulturlandschaft trug dauerhaft zur Transformation von Landschaft und dem Leben der Menschen bei. Die Quellen für diese Entwicklungen liegen buchstäblich unter der Erde, in den Sedimentschichten der Oberengadiner Seen, oder haben sich in den rätoromanischen Flurnamen erhalten, die bis heute Zeugnis von den (Brand-)Rodungen, dem Nutzwert von Orten zum Beispiel als Wiesen oder deren Bewirtschaftung ablegen. Intensiv bewässerte Weideflächen bildeten die Grundlage einer Viehwirtschaft, die nicht nur den eigenen Bedarf deckte, sondern zur Überproduktion und damit zum Handel führte. Das Engadin hatte zu dieser Zeit durch seine Pässe eine strategische und wirtschaftliche Schlüsselstellung. Die Verwaltung erfolgte über das Bistum Chur, das die geistliche und weltliche Macht innehatte und als Passhüter Steuern wie Zölle einnahm. Zwischen 843 und 1802, fast 1000 Jahre lang, unterstand dieses Bistum der Erzdiözese Mainz – also auch hier große überregionale Beziehungen, die viele Auswirkungen hatte, unter anderem auch auf die Dominanz des Deutschen als Amtssprache.

„Mündigkeit und Stagnation“ heißen, so Plöger, die Charakteristika der nachfolgenden Epoche. Diese begann 1367 mit dem Zusammenschluss dreier Talgemeinden mit vorstaatlichen Zügen gegen die willkürlichen Entscheidungen des Churer Bischofs und dauerte bis 1799, der Aufnahme des Freistaats der Drei Bünde in die Helvetische Republik. Anhand der überlieferten Gemeindeordnungen lässt sich sehr gut nachvollziehen, wie sich die Dezentralisierung der Gegend vollzog und das Oberengadin zum Beispiel ein besonders großes Maß an Autonomie erhielt. Mitte des 16. Jahrhunderts war der Bischof „endgültig als Machtfaktor ausgeschaltet“ (122). Die führenden Familien vermehrten ihre Macht zusehends, ließen ihre Söhne im Ausland studieren, und der Handel mit der Republik Venedig blühte. Die Bauernfamilien vor Ort versorgten sich weitgehend selbst; der Überschuss an landwirtschaftlichen Gütern wie Butter und Käse wurde vermarktet, Schlachtvieh bis auf den Viehmarkt von Tirano getrieben, Holz zu den Salinen nach Tirol gebracht. Umgekehrt gelangten Salz, Reis und Wein wieder zurück in das Engadin. Schon im späten 16. Jahrhundert lässt sich ein „weit gespanntes Handelsgeflecht“ (145) nachweisen.

Große Kälteeinbrüche mit Missernten und Hungersnöten um 1570, aber auch massive Zerstörungen durch Lawinenabgänge und Hochwasser führten zu Auswanderungswellen. Die zivile wie auch militärische Migration bildete eine „elementare Lebenserfahrung für Menschen im ganzen Alpenraum“ (148) und hinterließ tiefe Spuren. Um eine Vorstellung von den Dimensionen dieser Emigration zu erhalten, seien exemplarisch die Zahlen von Celerina genannt: Zu Beginn des 19. Jahrhunderts lebten 44 Prozent der Dorfbewohner im Ausland – zumeist Männer, was gravierende Folgen für die Frauen hatte, die nun Verantwortung für die Arbeit von Männern übernahmen. Besonders bekannt sind die Bündner Zuckerbäcker, die mit viel Erfolg über Jahrhunderte in Venedig ihr Handwerk erlernten und sehr erfolgreich ausübten, 1766 jedoch ihre Privilegien verloren und sich dann in ganz Europa niederließen. Ein Teil des im Ausland erwirtschafteten Wohlstands kam den Daheimgebliebenen zugute, sei es in direkten Zahlungen, sei es in den nun entstehenden städtisch anmutenden Architekturen, die großzügiger und feuerfester ausfielen als die Vorgängerbauten und die Dörfer bis in die Gegenwart prägen.

Ende des 18. Jahrhunderts begann die Entdeckung des Engadins. Karsten Plöger bezeichnet William Coxe (1748–1828) „als den Urvater der Engadinbegeisterung“ (182). Als Literat und Historiker, gründlich vorbereitet, der Sprache mächtig, interessierte ihn vieles und er schwärmte von Landschaft und Menschen so eindrucksvoll, dass sein Buch 1789 ein Publikumserfolg wurde und viele schwärmende Reisende nach sich zog, die in ersten Reiseführern und 1837 in einer Monografie mehr über die berühmt gewordene Gegend erfuhren.

Das längste und letzte Kapitel ist den „Ironien der Moderne (1799–2023)“ gewidmet. Es hält die Ambivalenzen in einer „Periode des rasanten, geradezu atemlosen Wandels“ (291) fest. So zeichnet sich das Engadin als Grenz- und Transitraum aus, den es aber im (Welt-)Kriegsgeschehen immer wieder zu verteidigen beziehungsweise abzusichern galt. Dies widerspricht dem freien Warenverkehr der vorangegangenen Jahrhunderte wie auch dem großen Zustrom von Touristen bis 1914 aus allen Teilen der Welt. Austausch von Gütern und Ideen steht das temporäre Abschotten gegenüber, dem freien Verkehr die Zuzugsbestimmungen. Ein weiterer scheinbarer Widerspruch sind die Hotelpaläste für ein internationales, gehobenes Publikum mitten in Dörfern oder in deren Nähe. Hier, so die Architekturhistorikerin Isabelle Rucki, die Plöger zitiert, „imitiert der bürgerliche Mensch eine aristokratische Lebensform, die ihm im privaten Dasein versagt bleibt und die ihn […] in die Aura einer privilegierten (schein)aristokratischen Welt einhüllt“ (243). Die Natur diente für die Hotels als Art Bühnenbild, in dem die Berge für das urbane Publikum „standesgemäß aufbereitet“ (244) wurden. Es gehört zu den weiteren „Ironien“, dass sich Dörfer zu Großstädten mit Hotelpalästen, Straßenbahnen und Telegrafenämtern entwickelten, allen voran St. Moritz, das Ende des 20. Jahrhunderts bis zu 1,5 Millionen Übernachtungen pro Jahr zählte. Einst unerschlossene und als gefährlich geltende Bergregionen wurden mit Transportanlagen „gezähmt“, die stündlich tausende von Sportlerinnen und Sportlern bewegen können – und das nicht nur zu Zeiten von Großereignissen wie Olympiaden oder Ski-Marathons. Diese Modernisierungsschübe wie auch die Angliederung des Engadins an das Eisenbahnnetz 1903, die Genehmigung des Autoverkehrs ab 1925 und die Eröffnung des Flughafens 1937/38 verwandelten die Gesellschaft grundlegend und auf lange Sicht hin: Die im Dorfverband über Jahrhunderte gewachsenen Sozialstrukturen wie auch die rätoromanische Sprache wichen einer modernen, multilingualen Dienstleistungsgesellschaft.

Die „Biografie einer Landschaft“ greift zum Schluss noch einmal die großen geschichtsformenden Kräfte der Vormoderne auf: Klima und Relief. Hat sich das Engadin beziehungsweise dessen Bevölkerung von diesen emanzipieren können, fragt der Autor. „In gewisser Weise gelang dies auch: Subsistenzwirtschaft, Transithandel und Emigration, drei zentrale Strukturen der langen Dauer, hatten im 20. Jahrhundert ausgedient. Die Verlegung auf den Fremdenverkehr aber […] schuf neue Abhängigkeiten“ (292), und es ist ungewiss, welche Folgen der vom Menschen herbeigeführte Klimawandel für das Engadin haben wird.

Das große Verdienst von Karsten Plöger besteht darin, jeweils tief in die Thematik einzusteigen, breit zu argumentieren, zu pointieren und gleichzeitig die großen Kontinuitäten im Auge zu behalten. Dabei gelingt es ihm immer wieder, vorhandene Meinungen zu revidieren. Am Beispiel der Migration sei das angedeutet. Nicht nur karge Böden, Überbevölkerung oder kalte Winter seien maßgebend dafür gewesen, dass so viele Engadiner ihre Heimat verlassen hätten, sondern komplexere Zusammenhänge: „Das Ausland lockte mit Möglichkeiten, die das Heimattal schlicht und einfach nicht bieten konnte.“ (158) – oder, wie es ein Zeitgenosse, den Plöger zitiert, formulierte: Der Wunsch der Auswanderer sei es gewesen, „auf einmal Herren zu werden“ (159). Auch diese Passagen und Zitate sind es, die den Wert dieses Standardwerkes über das weltberühmte Hochtal ausmachen, sogar für Leserinnen und Leser, die bereits über einschlägiges Wissen verfügen.