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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Sina Fabian/Mareen Heying/Tobias Winnerling (Hg.)

Gefährlicher Genuss? Getränke und Trinkpraktiken seit der Frühen Neuzeit

Frankfurt am Main/New York 2024, Campus, 359 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-593-51878-7


Rezensiert von Gunther Hirschfelder
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 23.10.2025

Die Erforschung der alkoholischen Getränke und ihres Konsums hat sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts zunehmend aus der Tradition der älteren Kultur- und Sittengeschichte emanzipiert. Sie gilt inzwischen sowohl in den Geschichts- als auch Kulturwissenschaften als etabliert – die Indikatorfunktion für die Analyse kultureller Prozesse ist mittlerweile unbestritten. Kein Wunder, hat der Alkoholkonsum doch aus ordnungspolitischen wie auch fiskalischen Gründen stets besonderes Augenmerk der Obrigkeiten erfahren. Zudem kam ihm lange große kulturelle Wertigkeit zu, auch wenn er durch die Temperenzbewegungen des 19. Jahrhunderts zunehmend in die Kritik geriet. Gleichwohl: Die Suche nach dem Rausch ist eine anthropologische Konstante. Aus heutiger Perspektive ist die Thematik schließlich wieder besonders aktuell, hat sich doch eine neue und eher gesundheitsorientierte Sensibilität für die Gefahren des Alkohols gebildet.

Diese Ausgangslage nahmen die Historikerinnen Sina Fabian und Mareen Heying sowie ihr Kollege Tobias Winnerling zum Anlass, 2022 an der FernUniversität Hagen eine Tagung zu organisieren, die den Titel der nun vorliegenden Publikation trägt und deren Beiträge hier größtenteils publiziert sind; hinzu kommen wenige sinnvolle Ergänzungen. Diese Tagung verfolgte das Ziel, die Fragen, wer, was, wo und wie trinken durfte, zu diskutieren, aus den Antworten Rückschlüsse auf soziale Ordnungsvorstellungen und kulturelle Aushandlungsprozesse zu ziehen und zudem die drinking studies stärker in den deutschsprachigen Diskurs zu lancieren. Um es vorweg zu sagen: Die Ziele sind erreicht worden, was nicht zuletzt am vielfältigen und internationalen Reigen der Beiträgerinnen und Beiträger liegt, denen es gelungen ist, innovative und originelle Schlaglichter auf das Sujet zu werfen. Zwar werden auch nichtalkoholische Getränke ins Visier genommen, aber der Schwerpunkt liegt eindeutig auf den berauschenden Wirkungen.

Den Auftakt machen die Herausgeberinnen und der Herausgeber mit einer akzentuierten Einleitung, die das Themenfeld umreißt und auch den Forschungsstand diskutiert, wobei rasch deutlich wird, dass die Problemzentrierung im Fokus steht. Dabei wäre es dienlich gewesen, stärker zu berücksichtigen, dass Alkohol (ebenso wie Tee oder Kaffee) eine kulturelle Tatsache ist, die man nicht zwingend normativ bewerten muss. Konsumentinnen und Konsumenten haben immer auch strukturelle und meist gute Gründe, sich dafür zu entscheiden.

Der chronologisch aufgebaute Band beschäftigt sich in einem ersten Schwerpunkt mit der zentralen Frage, wie sich die Trinkkultur in der Frühneuzeit und am Beginn der Moderne wandelte. Zunächst beschäftigt sich der Historiker Adriaan Duiveman von der Katholischen Universität Löwen mit zu geselligen Trinkspielen gebrauchten „mill cups“, am ehesten zu übersetzen mit „Trinkmühlen“. Über diese Artefakte gibt es nur wenige Schriftquellen, obgleich sie auch über den niederländischen Raum hinaus verbreitet waren. Ebenso unpraktisch wie wertvoll dienten sie dazu, Trunkenheit zu beschleunigen, vornehmlich im gehobenen Bürgertum. Duiveman identifiziert an diesem Paradigma Alkoholkonsum als Katalysator für die Geselligkeit in der Frühneuzeit und zeigt zugleich, auf welche Weise die Ritualisierung gemeinsamen Trinkens religiöse Kritiker auf den Plan rief. Dabei liest sich dieser gelungene Beitrag auch als Plädoyer für die Objektforschung.

Der zweite inhaltliche Beitrag stammt aus der Feder der Oldenburger Historikerin Gabrielle Robilliard-Witt, die anhand breiter Literatur und archivalischer Quellen nachweist, dass es bei der Etablierung der neuen Heißgetränke Schokolade, Tee und Kaffee nicht nur um Geschmack und Wirkung ging, sondern um neue Symbole ritualisierten Alleinseins wie auch innovativer Formen der Interaktion in Kaffeehäusern oder im Rahmen von Empfängen.

Henning Bovenkerk wendet den Blick anschließend auf den westfälischen Raum und untersucht vornehmlich an Nachlassinventaren, inwieweit sich die materielle Kultur in Verbindung zu den kolonialen Heißgetränken veränderte. Diese seien mit deutlicher Verzögerung zum niederländischen Raum eingeführt worden. Und erst nachdem sie sich auf breiter Front etabliert hatten, kam es auch zur Genese repräsentativer Zubereitungs- und Trinkutensilien, ein Trend, der parallel auch auf die Gefäße für die alten Getränke Bier und Branntwein übergriff.

Der folgende Abschnitt des Sammelbandes trägt die Überschrift „Distinktion und Identität“ und klammert zwei Beiträge: Zunächst weitet Anne Hultsch die geografische Perspektive und skizziert die Rolle des Alkohol- und besonders des Vodkakonsums seit der Vormoderne im Spiegel der russischen Literatur; ein spannendes Panoptikum, das zeigt, wie sehr das Trinken instrumentalisiert und zugleich als nationales Identitätsmerkmal stilisiert wurde. Dabei hätte die Diskrepanz zum alltäglichen Konsum aber intensiver diskutiert werden dürfen.

Franziska Meifort diskutiert dann die Funktion ritualisierter Trinkpraktiken, die strukturell gewiss eine Schnittmenge mit den zuvor beschriebenen russischen Mustern aufweisen, für die Struktur soziokultureller Bindungen in den bürgerlichen Eliten, und zwar am Beispiel der Bremer Schaffermahlzeit, einem rituellem Trinkgelage, das sich in der Mitte des 16. Jahrhunderts etablierte und seitdem stets wandelte. Es symbolisiert die Verbindung zwischen der bremischen Schifffahrt und den Kaufleuten; dabei erkennt Meifort sowohl die inkludierenden als auch die exkludierenden Elemente und macht deutlich, wie sehr kulturell normiertes Trinken bis heute Eliten konstituiert.

Die globale Perspektive wird mit dem Abschnitt „Alkohol (post)kolonial“ eröffnet. Martin Gabriels auf breiter Literaturbasis fußender Beitrag macht deutlich, dass Alkoholika nicht nur in Europa instrumentalisiert wurden, um Einnahmen zu generieren oder Herrschaft auszuüben. Am Beispiel von Pulque, einem aus Agaven gewonnenen, bereits präkolumbianischen, vergorenen Getränks, arbeitet er heraus, dass Pulque zunächst stark limitiert, religiös konnotiert und dabei gruppenstabilisierend und magisch-spirituell konsumiert wurde, während die spanischen Kolonialherren rasch die ökonomische Bedeutung in den Fokus nahmen; Steuereinnahmen waren für sie attraktiver als die Gesundheit der Bevölkerung.

Anschließend wendet sich der Bamberger Historiker Michael Rösser Afrika zu. Er nimmt den Bau der Eisenbahn in Deutsch-Ostafrika unter die Lupe, ordnet seine Untersuchung dabei in das Konzept der neueren drinking studies ein und verknüpft sie auf besonders gewinnbringende Weise mit der Postkolonialismusforschung. Deutlich wird, dass Alkoholkonsum hohen Stellenwert genoss, zunächst bei den einheimischen Arbeitenden, dann aber auch bei den europäischen Bediensteten der Eisenbahngesellschaft sowie beim Militär. Gemeinsamer und nicht selten exzessiver Konsum gehörte auf beiden Seiten zu den zentralen Freizeitbeschäftigungen, wurde aber bei der kolonisierten Bevölkerung negativ bewertet und sanktioniert, bei den Europäern dagegen nicht selten heroisiert und, so Rösser, als „soziales Schmiermittel“ (227) eingesetzt.

Die Schweizer Historikerin Nina S. Studer stellt dann in ihrem Beitrag die Frage, wie französische Mediziner den Konsum von Kaffee, Tee und Alkohol im nördlichen Afrika bewerteten und kommt zum Schluss, dass die Bevölkerung des Maghreb, gerade auch ihren Teekonsum betreffend, als maßlos und damit deviant beschrieben wurde. Insofern erscheint die Bewertung des Teekonsums geradezu als Metapher für das Nicht-Verständnis und die Verachtung der indigenen Bevölkerung durch die Kolonialisten.

In der folgenden Einheit, die nur zwei Beiträge umfasst, wird die neue Thematisierungskonjunktur der Nüchternheit um die Wende zum 20. Jahrhundert behandelt. Vanessa Höving wählt hierzu einen literaturwissenschaftlichen Ansatz, der das Werk Franziska zu Reventlows (1871–1918) in den Mittelpunkt rückt, vor allem die 1897 erschienene Erzählung Das gräfliche Milchgeschäft, wobei das Bemühen, die Münchner Bohème als Gegenpol zur bürgerlichen Abstinenzbewegung zu skizzieren, etwas im Vagen bleibt. Konkreter wird der anschließende Beitrag, in dem Mette Bartels nachweist, wie sehr Haushaltslehrerinnen dieser Zeit das Narrativ der Abstinenz instrumentalisierten, um ihren sozialen Status zu verbessern – die bigotte Propagierung der Enthaltsamkeit als bürgerliches Statussymbol.

Eine letzte inhaltliche Einheit widmet sich der Neubewertung des Alkoholkonsums im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts. Einen wirtschaftshistorischen Ansatz wählt die Münchner Historikerin Lisbeth Matzer, die das Bemühen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, der Vorläuferorganisation der EU, nachzeichnet, Wein zum homogenen europäischen Gut zu machen, was darin mündete, dass gerade Wein auf die Besonderheit der Herkunftsregion rekurrierte – zumindest diesbezüglich ließ sich ein supranationales Europa nicht konstruieren. Auf der europäischen Ebene bleibt schließlich Melanie Foik, die am Beispiel Polens zeigt, wie ambivalent das Verhältnis des realen Sozialismus zum Alkohol war: Während es hier eigentlich keine sozialen Probleme hätte geben dürfen, konnte man im Polen der 1960er Jahre ein schwerwiegendes Alkoholproblem ausmachen und vor allem eine Welle gravierender Straftaten, die unter Alkoholeinfluss verübt worden waren; der Staat reagierte nicht, indem er die gesellschaftlichen Verhältnisse änderte, sondern indem er eine Anti-Alkohol-Kampagne startete.

Am Ende des Tagungsbandes stehen die Überlegungen des Hagener Juraprofessors Osman Isfen zum Alkohol in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. Dabei konstatiert er jene als ambivalent, oszillierend zwischen der Einsicht in die Tatsache, dass Alkoholkonsum einerseits gefährlich sein kann – und damit von strafrechtlicher Relevanz – und andererseits der Konsum bisweilen auch strafmindernd ausgelegt wird. Diese Zwiespältigkeit ist letztendlich symptomatisch für den abendländischen kulturellen Umgang mit dem Phänomen Alkohol.

Was bleibt als Fazit? Wir haben es mit einer thematisch wie auch disziplinär breit angelegten Gesamtschau zu tun, die ganz neue und ungewohnte Perspektiven auf die Globalgeschichte des Alkohols wirft. Gerade die Tatsache, dass junge und innovative Forscherinnen und Forscher zu Wort kommen, macht das Projekt so wertvoll. Dass hie und da nicht alle neueren Forschungsergebnisse berücksichtigt wurden, ist verschmerzbar, denn Innovation und Originalität sind hier stärker zu gewichten. Etwas bedauerlich ist, dass die Beiträge größtenteils eher unvermittelt nebeneinanderstehen. Schließlich fällt auch auf, dass der Konsum von Alkohol primär als Problem interpretiert wird. Die alltägliche Funktion als in Maßen konsumiert anregendes, soziokulturell verankertes und nicht zuletzt durch die zentrale Funktion des Weins in der Eucharistie strukturell akzeptiertes Genussmittel bleibt schwach ausgeleuchtet. Zudem: Eine stärkere Fokussierung auf einen verbindenden Kanon an Forschungsfragen hätte dem Band gutgetan, vor allem auch eine abschließende Erkenntnislese.

Gleichwohl: Die historisch-kulturwissenschaftliche Alkoholforschung wird durch diesen hochinnovativen Tagungsband ganz maßgeblich bereichert, und auch in meinen Lehrveranstaltungen zu den verschiedensten Fragen der Ernährungsgeschichte und -kultur einen festen Platz finden.