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Marika Pierdicca
Integrationsregime in der Arbeitswelt. Eine Ethnographie migrantischer Praktiken der Selbstständigkeit in Norditalien
Marburg 2022, Büchner-Verlag, 452 Seiten, ISBN 978-3-96317-278-6
Rezensiert von Manuel Liebig
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 23.10.2025
Marika Pierdiccas Studie ist die überarbeitete Fassung ihrer 2021 an der Humboldt-Universität zu Berlin eingereichten Dissertation. Sie bietet einen ausgesprochen dichten, analytisch präzisen und theoretisch fundierten Beitrag zur kritischen Migrations- und Arbeitsforschung aus kulturwissenschaftlicher Perspektive. Im Zentrum steht eine ethnografische Untersuchung rumänischer migrantischer Selbstständiger im Baugewerbe Norditaliens, eingebettet in eine genealogische Analyse der italienischen Migrations- und Integrationspolitik seit den 1980er Jahren.
Bereits die Einleitung markiert den theoretischen Anspruch des Buches deutlich: Pierdicca versteht Integration nicht als Zielgröße, sondern als Untersuchungsgegenstand. Sie analysiert Integration als einen machtvollen Diskurs, der Subjekte adressiert, normiert und zugleich Handlungsspielräume eröffnet – ein „Subjektivierungsregime“ (24), das auf neoliberalen Rationalitäten ebenso wie auf rassifizierenden Differenzlogiken beruht. Integration wird dabei nicht als positiv aufgeladener Prozess gedacht, sondern als ein Herrschaftszusammenhang, der Migrierende selektiv ein- und ausschließt, auf ihre Verwertbarkeit hin taxiert und sie gleichzeitig zur Anpassung auffordert. Es geht der Autorin nicht um die Frage, ob Integration gelingt, sondern welche epistemischen und politischen Effekte der Integrationsdiskurs selbst hervorbringt.
Im ersten Teil des Buches (Kap. I–III) entwickelt Pierdicca auf der Grundlage von Michel Foucaults Gouvernementalitätskonzept, Theorien der Autonomie der Migration, postoperaistischer Arbeitskritik und rassismuskritischer Perspektiven ein differenziertes Instrumentarium zur Analyse von Integrationspolitiken als Regierungstechnologien. Dabei führt sie nicht nur zentrale Konzepte wie „differentielle Inklusion“, „unternehmerisches Selbst“ und „Neosubjekt“ ein, sondern zeigt auch, wie sie sich konkret im italienischen Kontext materialisieren. Ihre genealogische Analyse der Migrationspolitik Italiens – von den frühen 1980er Jahren bis zu den sicherheits- und integrationspolitischen Verschiebungen der 2010er Jahre – macht eindrücklich deutlich, dass Migration seit jeher vor allem unter arbeitsmarktpolitischen Vorzeichen diskutiert wurde: als Arbeitskraftreservoir und Legitimationsfolie für flexible, prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Die Autorin zeigt, wie sich in dieser Gemengelage Integration zunehmend als Belohnung für ökonomische Verwertbarkeit darstellt – und gleichzeitig zur moralischen Norm erhoben wird.
Besondere Aufmerksamkeit verdient dabei das von Pierdicca entwickelte Konzept des „Integrationsregimes“. Dieses erlaubt es, Integration nicht als singuläre Maßnahme oder klar abgrenzbares Politikfeld zu denken, sondern als gesellschaftliches Gefüge von Diskursen, Institutionen, Wissensordnungen und Alltagspraxen. Es umfasst sowohl staatliche Programme als auch mediale Narrative, ökonomische Strukturen und affektive Anrufungen. In diesem Sinne erscheint die neoliberale Figur des erfolgreichen migrantischen Unternehmers – etwa im Kontext des „MoneyGram Award“, der „integrierte“ Personen mit Migrationsgeschichte für unternehmerische Leistungen auszeichnet – nicht als Ausnahme, sondern als paradigmatische Subjektform: flexibel, leistungsbereit, selbstverantwortlich. Doch diese Figur ist ambivalent: „Die Merkmale eines neoliberalen unternehmerischen Selbst werden hier als Integrationseigenschaften übersetzt“ (14), zugleich bleibt die Anerkennung fragil und jederzeit widerrufbar.
Im zweiten Teil der Arbeit (Kap. IV–VII) entfaltet Pierdicca auf Basis einer ethnografischen Feldforschung in Mailand, Bergamo, Brescia und Pavia zwischen 2012 und 2014 ein eindrucksvolles Bild migrantischer Lebensrealitäten im italienischen Bausektor. Sie begreift migrantische Selbstständigkeit nicht als Ausdruck individueller Aufstiegsgeschichten, sondern als situierte Praxis in einem ökonomisch prekären, rechtlich unsicheren und gesellschaftlich normierten Umfeld. Ihre Forschungspartner – überwiegend rumänische Männer – navigieren zwischen formeller Selbstständigkeit, informeller Beschäftigung, institutionellen Anforderungen und eigenen Vorstellungen von Arbeit, Anerkennung und Zugehörigkeit.
Die Autorin analysiert Arbeitsnarrative, Zeit-Raum-Erfahrungen, Affektstrukturen und Differenzmarkierungen und zeigt, wie sich Integration als Anrufung in den alltäglichen Lebensvollzug einschreibt. Besonders aufschlussreich ist ihre Analyse jener Momente, in denen Migrierende sich von „den anderen“ abgrenzen – beispielsweise von als „nicht integrierbar“ markierten Community-Mitgliedern oder als „unprofessionell“ geltenden Kolleginnen und Kollegen. Solche Strategien der Distinktion machen deutlich, dass Integration auch innerhalb migrantischer Kontexte als normativer Maßstab fungiert, über den Zugehörigkeit, Respekt und Moral verhandelt werden. „Ich bin ein Integrierter, ich könnte sogar Rassist sein“ (344) – diese irritierende Aussage eines Interviewten offenbart die paradoxe Verstrickung von Anerkennung und Ausschluss, von Integration und Komplizenschaft mit rassifizierenden Ordnungen.
Pierdiccas Analyse geht dabei weit über die Beschreibung sozialer Ungleichheiten hinaus. Sie dekonstruiert die zugrunde liegenden Herrschaftslogiken und verdeutlicht, wie tief neoliberale Subjektivierungsformen in Alltagspraktiken und Selbstdeutungen eingelassen sind. Zugleich zeigt sie aber auch die Brüchigkeit, Ambivalenz und Handlungsfähigkeit innerhalb dieser Kontexte: Die Entscheidung für Selbstständigkeit wird nicht nur als ökonomische Notwendigkeit, sondern auch als Versuch der Selbstermächtigung, der Distanz zur Wohlfahrtslogik und der Aneignung sozialer Anerkennung gedeutet. Hier entfaltet sich das von der Autorin skizzierte Spannungsverhältnis zwischen „Handlungsmacht und Komplizenschaft“ (272), zwischen Widerständigkeit und Reproduktion von Normen.
Aus der Perspektive einer kulturwissenschaftlich informierten Kritischen Migrationsforschung, die sich mit der Verflechtung von Arbeit, Migration, Raum und Subjektivität beschäftigt, stellt Pierdiccas Arbeit einen bedeutenden Beitrag dar. Ihr Ansatz verbindet ethnografische Tiefe mit theoretischer Reflexivität und politischer Analyse. Sie steht damit in der Tradition einer empirisch fundierten Gesellschaftskritik, wie sie im deutschsprachigen Raum etwa von Sabine Hess, Manuela Bojadžijev, Regina Römhild oder Irene Götz vertreten wird. Auch im Kontext der Arbeitskulturenforschung, wie sie innerhalb der Europäischen Ethnologie und der volkskundlich-kulturwissenschaftlichen Forschungslinien verankert ist, bietet Pierdiccas Arbeit Anschlussfähigkeit: Sie zeigt eindrücklich, wie Arbeit als kulturell gerahmte, politisch regulierte und subjektiv angeeignete Praxis verstanden werden kann – insbesondere im Kontext von Migration, Prekarisierung und neoliberalen Umbrüchen.
Kritisch lässt sich allenfalls anmerken, dass der theoretische Apparat – insbesondere in den ersten Kapiteln – voraussetzungsreich ist. Begriffe wie Gouvernementalität, Biopolitik oder Subjektivierung werden mit großer Selbstverständlichkeit verwendet und setzen ein tiefes Vorwissen in kritischer Theorie und Migrationsforschung voraus. Eine etwas zugänglichere Darstellung oder stärker erläuternde Rahmung hätte insbesondere für disziplinübergreifend Forschende hilfreich sein können. Ebenso wäre eine noch deutlichere Verankerung der eigenen Positionierung als Forschende – insbesondere im Hinblick auf Differenzachsen wie Klasse, Race oder Sprache – wünschenswert gewesen, um die Beziehung zum Feld weiter zu explizieren.
Nichtsdestotrotz ist „Integrationsregime in der Arbeitswelt“ ein herausragendes Beispiel dafür, wie sich ethnografische, machtanalytische und kritisch-politische Perspektiven produktiv miteinander verschränken lassen. Für die Volkskunde, Europäische Ethnologie und die interdisziplinäre Migrationsforschung bietet sie eine theoretisch wie methodisch herausfordernde und zugleich inspirierende Lektüre. Pierdicca gelingt es, die politischen und subjektiven Dimensionen von Integration nicht nur zu dekonstruieren, sondern auch in ihrer produktiven Ambivalenz zu zeigen. Damit liefert sie wichtige Impulse für eine Europäische Ethnologie, die sich ihrer Verantwortung in der (Re-)Produktion von Wissensordnungen bewusst ist – und diese reflektiert. Das Buch ist nicht nur eine Einladung zur Auseinandersetzung mit Migration, Arbeit und Integration, sondern auch ein Plädoyer für eine politische Ethnografie. Die Studie fordert dazu auf, Integration nicht länger als Ziel, sondern als Machtform zu verstehen – und sie fordert dazu auf, genau hinzusehen: auf die Geschichten, Praktiken und Widersprüche des migrantischen Alltags, jenseits affirmativer Narrative und funktionalistischer Vereinfachung verkürzter Integrationserzählungen.
Für alle, die sich mit Migration, Arbeit, neoliberaler Gouvernementalität und europäischer Gesellschaftskritik beschäftigen, ist dieses Buch eine unbedingt empfehlenswerte Lektüre.