Aktuelle Rezensionen
Corina Caduff/Bitten Stetter/Minou Afzali/Francis Müller/Eva Soom Amann (Hg.)
Sterben gestalten. Möglichkeitsräume am Lebensende
Zürich 2024, Scheidegger & Spiess, 291 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-03942-190-9
Rezensiert von Jana Paulina Lobe
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 23.10.2025
Sterben gestalten – der Titel mag zunächst irritieren. Macht die gesellschaftliche Ästhetisierung1 auch vor Sterbeprozessen nicht halt? Nachdem durch den medizinischen Fortschritt das Sterben vermehrt als eine eigene Lebensphase anerkannt wird, wächst auch deren Gestaltungsbedarf. Sterben kann, will und soll in materieller, symbolischer wie sozialer Hinsicht gestaltet werden, so die Prämisse des Buches, denn es „ist nicht nur ein körperlich-biologischer Prozess in materiell ausgestatteten Räumen, es ist auch eingebettet in soziale Praktiken, […] gebunden an Rituale und Regularien, […] verwoben mit gesellschaftlichen Wertvorstellungen und religiösen Konzepten“ (7). Die Individualität eines jeden Sterbevorgangs, der sich in einem komplexen Spannungsfeld zwischen Akteurinnen und Akteuren unterschiedlicher Bedürfnisse und institutioneller Rahmungen vollzieht, erfordere, so die Herausgebenden in ihrer Einleitung, „Reflexion und Gestaltung […] durch eine in der Praxis verankerte[n] Forschung“ (7).
Dessen nahm sich das Forschungsprojekt „Sterbesettings – eine interdisziplinäre Perspektive“ an, das 2020 bis 2023 an der Berner Fachhochschule in Zusammenarbeit mit der Zürcher Hochschule der Künste und dem Zentrum für Palliative Care des Stadtspitals Zürich Waid als Praxispartner durchgeführt wurde. Bei letztgenanntem handelt es sich um ein solches „Sterbesetting“, im Projekt verstanden als ein „Umfeld, in dem unheilbar Erkrankte ihre letzte Lebenszeit verbringen, die sie gemeinsam mit An- und Zugehörigen, mit Gesundheitsfachpersonen, Seelsorgenden und weiteren Personen zu gestalten suchen“ (8). In der Veröffentlichung der Ergebnisse flankiert diese Abschlusspublikation eine internationale Tagung sowie eine Ausstellung, die vom 30.3. bis 29.4.2023 in Bern gezeigt wurde. Während die Herausgebenden im ersten aus dem Projekt hervorgegangenen Band „Kontext Sterben“2 Sterbesettings entlang der disziplinären Trennlinien der Projektbeteiligten beleuchteten, stehen hier ihre interdisziplinären Verflechtungen im Vordergrund. Dies äußert sich darin, dass alle Beiträge gemeinschaftlich von mehreren Forschenden verfasst wurden, die sich so in immer neuen Verbünden formieren. Dadurch treten die vier Dimensionen „Design“, „Sprache“, „Religion“ und „Pflege“ in einer kontinuierlichen Gestaltwandlung in den Dialog. Neben den acht wissenschaftlichen Aufsätzen erwarten die Lesenden drei Bildstrecken künstlerischer Projekte, wobei Farbfotografien die im Projekt entstandenen designstrategischen Interventionen und Prototypen von Objekten abbilden.
Der erste Beitrag „Nichtstun“ der Sozialanthropologin Julia Rehsmann und der Designerin Bitten Stetter verdeutlicht die Ambivalenzen der Untätigkeit in der Palliativpflege, die die Autorinnen als symptomatisch für eine durch ein Produktivitätsdiktum geprägte Leistungsgesellschaft ansehen. Im Gesundheitswesen träten diese insbesondere in den bisweilen diametral verstandenen therapeutischen Ansätzen der kurativ-„aktiven“ Medizin und der spezialisierten Palliative Care zutage. Aufgesucht als pflegerische Parallelwelt dann, wenn nichts mehr getan werden könne, führt die Aussicht, nicht handelnd zu intervenieren, sowohl bei medizinischem Personal als auch bei Patientinnen und Patienten und Zugehörigen zu Verunsicherungen. In dem erfrischend (gesundheits-)systemkritischen Beitrag tritt dabei vor Augen, dass ein Hochleistungsparadigma auch vor dem Sterbebett nicht Halt macht. Die „Einladung zum gezielten Nichtstun“ (34) beinhaltet die Vorstellung von für den pflegerischen Versorgungsalltag entworfenen Objekten, die das „Tun im Nichtstun“ in der Palliative Care greifbar machen sollen.
So schließt sich eine von Stetten initiierte Serie von Grußkarten an, die mit von der Schriftstellerin Ruth Schweikert verfassten Aussagen eine diagnostizierte kommunikative Leerstelle rund um das Lebensende schließen sollen. Anders als die auch an Sterbende oft versandten Genesungswunschkarten negieren diese die Endlichkeit nicht, sondern visualisieren die entstehende Sprachlosigkeit.
In „Sterbesettings beforschen – Methodologisch-methodische Herangehensweise“ beschreiben der Religions- und Kultursoziologe Francis Müller, die Medizinanthropologin Eva Soom Ammann und die Designforscherin Minou Afzali, wie die Absicht, bestehende Praktiken, Dinge und Narrative in Sterbesettings multimethodisch zu untersuchen, in den vier im Forschungsteam vertretenen Perspektiven umgesetzt wurde. Im Einblick in die epistemologischen, praktischen und ethischen Herausforderungen interdisziplinärer Sterbeforschung tritt das Potential multimodaler, ethnografischer Feldforschung besonders hervor. Für die Vorstellung der Teilprojekte und ihrer jeweiligen Erkenntnisinteressen hätte sich durch die aufschlussreichen Hintergrundinformationen auch die Anfangsposition im Inhaltsverzeichnis angeboten.
Autobiografische Sterbeliteratur, Werke also, in denen sich Autorinnen und Autoren mit dem eigenen nahenden Tod auseinandersetzen, nehmen die Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Corina Caduff und Francis Müller in „Sterben ohne Gott“ als Ausgangspunkt, subjektivierte Formen von Spiritualität in einer säkularisierten Gesellschaft nachzuzeichnen. Die „Grenzen der Säkularisierung in Todesnähe“ bestehen, so ihr Befund, darin, dass die betrachteten Schriftstellerinnen und Schriftsteller trotz der mehrheitlich mangelnden Anbindung an institutionalisierte Religion angesichts der transzendenten Natur des Todes häufig religiöse Symboliken und Deutungsmuster referenzieren. Dabei sei die Binarität von Zuschreibungen wie „religiös“ oder „nichtreligiös“ angesichts eines existenziellen Sinnvakuums tendenziell nicht haltbar.
Als „Last Flowers“ überreichte Blumensträuße aus den Zimmern von Verstorbenen bildeten das Rohmaterial für die Werkreihe der Artist in Residence Eva Wandeler. Als Inspirationsquelle für ihre auf einer Videoinstallation basierende Bildserie diente ihr eine vor allem im 19. Jahrhundert verbreitete Konservierungs- und Memorialtechnik. Indem sie die Blumenbouquets wiederholt in Wachs tauchte, vereint sie nicht nur zwei mit Vergänglichkeit assoziierte Materialien, sondern eröffnet auch vielfältige kulturelle Konnotationen von barocken Vanitas-Stillleben bis zu wächsernen Totenmasken.
In ihrem innovativen Forschungsdesign trugen der Religionswissenschaftler Gaudenz Metzger und die Kommunikationsdesignerin Tina Braun im Aufsatz „Imaginierte Sterbewelten. Die visuelle Rhetorik von Stockbildern zum Thema ‚Palliative Care‘“ dem Pictorial Turn in der Sterbeforschung Rechnung. Sie analysierten die für kommerzielle Nutzung produzierten und von Bildagenturen vertriebenen Stockfotografien dahingehend, welche kulturellen Norm- und Wertvorstellungen eines gut begleiteten Sterbens sich darin artikulieren. Wenngleich die Ausführungen zu den in Visual Grounded Theory identifizierten Bildthemen „Dasein“, „Gelassenheit“, „Empathie“, „Transzendenz“ erhellend sind, verbleibt das Fazit, es handele sich dabei stets um idealisierende, werbetaugliche Darstellungen eines „gezähmten Todes“ wenig überraschend. Wie im Vorgang ausgeführt, sind die Charakteristika der unspezifischen Überindividualität und Standardisierung dem beforschten Genre doch inhärent.
An diese Bestandsaufnahme fügt sich der Beitrag „Gestaltete Vorstellungen vom Lebensende. Über die Neukonzeption von Palliative-Care-Bildwelten“ von Braun nahtlos an. Darin befasst sie sich damit, wie die durch die generischen Sujets suggerierten illusorischen Ansichten des Sterbens näher an die Lebensrealität geführt werden könnten. Basierend auf der Auswertung von Kommunikationsmaterialien von Palliative Care-Einrichtungen erarbeitete sie in einem co-kreativen Prozess mit Fotografinnen alternative Bildwelten, um die Kerninhalte der Palliativpflege nuancierter zu visualisieren.
Die exemplarische Präsentation ihrer Ergebnisse leitet über zu einer Betrachtung, wie sich Geschlechtsdifferenzen im Rahmen der Pflege von Sterbenden äußern. In ethnografischen Skizzen und anhand von Passagen aus autobiografischer Sterbeliteratur spannen Rehsmann, Stetter und Caduff in „Sterben gendern“ die vielfältigen Problemfelder auf, „[w]ie Geschlechterverhältnisse das Lebensende prägen“. In dem bestenfalls als kaleidoskopartig zu bezeichnenden, etwas disparat wirkenden Aufsatz plädieren sie dafür, patriarchale Prägungen zu hinterfragen und sich in Sterbeprozessen bewusst mit tradierten Rollenbildern auseinanderzusetzen.
Der Beitrag „Beseelte Übergangsdinge“ vereint in verschmitzter Anknüpfung an den soziologischen Begriff der „Bastelreligionen“ Produktdesign (Stetter) und die Religionsforschung (Müller). Im Fokus stehen dabei die vielgestaltigen Bedeutungszuschreibungen an Objekte, die Akteurinnen und Akteure auf der Palliativstation vorfinden, welche damit eine spirituelle Aufladung und tröstliche Qualität erhalten.
Abschließend nehmen Stetter und Caduff einen „Perspektivenwechsel zwischen Sterbeliteratur und zukunftsweisendem End-Of-Life Care Design“ vor, wobei ein Ausblick auf die Gestaltbarkeit von Atmosphären, Stimmungen und Emotionen gegeben wird. Mehr noch als in den vorherigen Beiträgen bedienen sich die Autorinnen dabei der Polyphonie aller im Projekt erhobenen Quellen, um weitere Denkräume für ganzheitliche Konzepte zur Gestaltung für Sterbesettings zu eröffnen. Ihre Ausführungen münden in den Appell „[Ä]sthetische Arbeit rund um das Sterben kann das Denken und Handeln in einer Gesellschaft verändern“ (277).
Den Herausgebenden gelingt es in ihrem facettenreichen Buch, die gegenseitige Befruchtung durch unterschiedliche Fachperspektiven und eine (Um-)Gestaltung nicht nur von Sterbe-, sondern auch von Forschungssettings anzuregen. Der inhaltliche Strang des Designs schlägt sich in der hochwertigen Aufmachung nieder. In der knallig-pinken Farbgebung des Covers und der reduzierten, modernen Ästhetik von Typografie und Layout werden konventionelle Symboliken und Bildsprachen um Tod und Trauer umschifft und gängige Assoziationen somit gelungen konterkariert. Wenngleich der Zusammenschluss aus akademischen, künstlerischen und praktischen Zugängen in den Einzelbeiträgen verschiedentlich gut glückt, tut sich für Lesende doch ein eindrucksvolles Panorama an Möglichkeitsräumen auf, wie die letzte Lebensphase (neu) gestaltet werden kann.
Anmerkungen
1 Reckwitz, Andreas: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess der gesellschaftlichen Ästhetisierung. Berlin 2012.
2 Caduff, Corina, Minou Afzali, Francis Müller u. Eva Soom Ammann (Hg): Kontext Sterben – Institutionen – Strukturen – Beteiligte. Zürich 2022.