Aktuelle Rezensionen
Franziska Beck/Michaela Eigmüller/Beate Partheymüller/Markus Rodenberg (Hg.)
Zweite Heimat Franken. Migrationsgeschichten in Bad Windsheim und im ländlichen Mittelfranken 1960–1990
Bad Windsheim 2023, Fränkisches Freilandmuseum, 339 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-946457-21-3
Rezensiert von Franziska Mair
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 24.10.2025
Der 2023 erschienene Band flankiert zwei Ausstellungen zur Migration im ländlichen Mittelfranken und in Bad Windsheim von 1960 bis 1990. Im Fränkischen Freilandmuseum des Bezirks Mittelfranken in Bad Windsheim fand von 7. Oktober 2023 bis 15. Dezember 2024 die Ausstellung „‚Heimat ist da, wo man satt wird‘. Migration im ländlichen Mittelfranken 1960–1990“ statt. Die Schau „‚Im Großen und Ganzen ist man eigentlich gut ausgekommen‘. Migration in Bad Windsheim nach 1960“ war parallel vom 7. Oktober 2023 bis 6. Januar 2025 im Reichsstadtmuseum des Historischen Vereins Bad Windsheim zu sehen.
Den Auftakt des Bandes bilden Vorwort und Einführung des Direktors des Fränkischen Freilandmuseums, Herbert May. Im Anschluss beleuchten zehn Beiträge unterschiedlicher Länge Zuwanderung im ländlichen Westmittelfranken nach 1960. Neben einem Text der Zeitzeugin Şerife Fidanli, die ihre Erlebnisse im Zuge ihrer Auswanderung 1971 von der Türkei nach Deutschland schildert, finden sich – rahmend am Anfang und Ende des Bandes – Essays und Aufsätze von Expertinnen und Experten aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, etwa der Kultur- und Islamwissenschaftlerin Fatma Sagir, des Historikers Wolfgang Bosswick sowie des Soziologen Friedrich Heckmann.
Den Hauptteil bilden fünf Kapitel, die dem Katalogteil der beiden Ausstellungen entsprechen. Das erste dieser dichten, mit vielen Fotos und Abbildungen von Exponaten gespickten Texten ist das Kapitel „‚Heimat ist da, wo man satt wird‘. Migration im ländlichen Mittelfranken 1960–1990“ von Franziska Beck, Michaela Eigmüller und Markus Rodenberg. Dieses bildet mit rund 150 Seiten das umfangreichste des Bandes. Schwerpunkte sind nach einer kurzen Schilderung des „Zeitzeugenprojekt[s] zur ländlichen Migrationsgeschichte“ (34) rund zwei Dutzend Abschnitte zum Alltag während und nach der Auswanderung. Die ersten Abschnitte widmen sich den Motiven für die Migration, den Familienverhältnissen und der Herkunft der Befragten. Zudem geht es um „Ankommen – am Bahnhof, in Stadt und Dorf, im Lebensumfeld“ (60).
Dann geht es um die neuen Alltagskulturen der Zugewanderten in Mittelfranken: Neben dem Arbeitsalltag als Angestellte und Selbständige werden Wohnkultur sowie Lebensmittel und Konsum thematisiert. Unter dem anschaulichen Titel „Auto und Arbeitsamt – von Behörden und Freiräumen“ (93) wird die Gleichzeitigkeit des Bewältigens der Bürokratie einerseits und der sozial-kulturellen Freiräume am neuen Wohnort andererseits beleuchtet.
Freizeit- und Sozialleben, etwa in Vereinen, sowie Religion und Bräuche werden danach in den Blick gerückt; ebenso das Thema des Erwerbs der deutschen Sprache und auch die Rolle von „Kinder[n] als Dolmetscher[n]“ (126). Daran anschließend geht es um den ideellen und materiellen „Kontakt zur alten Heimat“ (132) mittels Post oder Telefonaten sowie das Konsumieren von Nachrichten aus dem Herkunftsland via „Zeitung, Radio und TV“ (134). Der Tausch materieller Güter mit den Verwandten im Ursprungsland wird mit dem griffigen Titel „Keine Melonen in Deutschland“ (139) überschrieben. Es folgen Fragen nach dem „Bleiben oder Zurückgehen?“ (142), „Deutscher Pass – Ja oder nein“ (151) und über das eigene Lebensende.
Unter der Überschrift „Was ist Heimat?“ (155) werden Reflexionen der zugewanderten Befragten zu ihrem Heimatbegriff präsentiert. Die Spezifika von Migration in ländlichen Räumen abseits von urbanen Ballungsgebieten werden im selben Abschnitt dargestellt.
Schlussbetrachtungen runden das Kapitel ab. Die Autorinnen und Autoren fassen zusammen: „Migrationsgeschichte [ist] als Summe individueller Geschichten zu betrachten, mit allen Gemeinsamkeiten, Unterschieden und auch Widersprüchen“ (165), gleichzeitig gilt: Obwohl Migration nicht auf der Ebene des Individuums die Norm darstellt, bildet sie doch den „historische[n] Normalfall“ (165).
Das zweite größere, ausstellungsbezogene Kapitel lautet „Migrationsgeschichten“ und enthält „Portraits unserer Gesprächspartnerinnen und -partner“ (184). 18 Paare, Familien oder Einzelpersonen werden hier mit Fotos und biografischen Schilderungen aus der Zeit ihrer Einreise und ihres Ankommens im ländlichen Mittelfranken vorgestellt. Die Personen kommen unter anderem aus dem ehemaligen Jugoslawien, der Türkei, Italien, Vietnam, Griechenland oder Ungarn. Es kommt vorwiegend die erste Generation der Zugewanderten zu Wort. Die Ausnahme bildet der Abschnitt „Vier Generationen [der] Familie Tatar in Markt Erlbach“ (218), wo die Kinder und Enkelkinder des Portraitierten Lütfi Tatar vorgestellt werden.
Das dritte ausstellungsbezogene Kapitel unter dem Titel „Anwerbung, Arbeit, Aufenthalt Asyl“ (222) von Michaela Eigmüller beleuchtet politisch-formale Themen der Zuwanderung aus Behördensicht des Ausländeramts des Landkreises Ansbach.
In den nächsten beiden Kapiteln rückt Migration in Bad Windsheim ins Zentrum. Beate Partheymüller und Herbert May beleuchten in „Bad Windsheim und seine ‚Gastarbeiter‘“ die Sicht der städtischen Mehrheitsbevölkerung auf die neuen Nachbarinnen und Nachbarn. Vor allem Arbeitsalltage, Wohnsituationen sowie Begegnungen und Relationales zwischen „Distanz und Nähe“ (252) aus der Zeit der 1960er bis in die 1980er Jahre werden gezeigt. Neben Fotografien und historischen Zeitungsartikeln sind hier Zitate von Bad Windsheimer Gewährspersonen im Fokus.
Das nächste Kapitel, verfasst von Beate Partheymüller, fokussiert auf die internationale Gastronomie. Migrantinnen und Migranten aus dem mediterranen Raum hatten ab den 1960er Jahren in Bad Windsheim für „neue Geschmackserlebnisse“ (272) gesorgt. Neben der ersten Eisdiele, der ersten Pizzeria und dem ersten Döner-Imbiss in der Kleinstadt werden die Auswirkungen der neuen Einwohnerinnen und Einwohner auf den lokalen Lebensmitteleinzelhandel gezeigt. Der 1969 eingewanderte Halil Özdil stellte fest: „keine Wassermelone, keine Orangen, keine Mandeln, keine anderen südlichen Waren, gar nichts – nur Lauch, Gurken, Salat […] Karotten“ (296, Auslassung im Original) gab es in Windsheimer Gemüseläden. Der Ladeninhaber Werner Berr erinnert sich an einige der neuen Produkte, die er aufgrund der veränderten Nachfrage ins Sortiment aufnahm: „Des eine ist Bulgur, des andere ist Rindswurst und dann noch Schafskäse in Salzlake.“ (301)
Abgerundet wird der Band mit dem Beitrag zu Migration aus soziologischer Perspektive von Friedrich Heckmann, der Begriffsklärungen zu Integration, ländlichen Räumen und zu den Charakteristika von Migration und Integration in ländlichen Räumen vornimmt.
Der Band ist wissenschaftlich sehr fundiert, gut verständlich und akribisch recherchiert. Neben lebensgeschichtlichen Interviews mit den zugewanderten Gewährspersonen und Bad Windsheimer Einheimischen sind zahlreiche persönliche Fotografien, historische Zeitungsartikel, persönliche Dokumente wie Personalausweise, Arbeitsverträge und Lohnkarten sowie alltagskulturelle Objekte Grundlage.
Layout und Gestaltung wirken ansprechend, denn Qualität, Anzahl und Verteilung der Abbildungen sind vielfältig und jederzeit zum Text passend. Da es selten eine Doppelseite ohne Bilder gibt, ist der Band angenehm und interessant zu lesen. Des Weiteren sind die Zitate aus den Interviews in grüner Schriftfarbe und kursiv gedruckt, was den Lesenden verdeutlicht, wann es sich um ein Direktzitat der Befragten handelt. Die Gewährspersonen werden somit neben Fotos aus ihrer Anfangszeit in Deutschland auch auf aktuelleren Portraits ins Licht gerückt. Die einzige marginale Einschränkung des Bandes, die ich sehe, ist das Fehlen von durchlaufenden Kapitelüberschriften in der Kopfzeile. Sicher waren hier gestalterische Gründe ausschlaggebend. Zur besseren Orientierung im Buch und zum Querlesen zwischen den Kapiteln wären sie auf jeder Seite jedoch hilfreich gewesen.
Das Besondere an dem vorliegenden Band ist der spezifische Fokus auf die Alltagskultur von Zugewanderten und sogenannten „Gastarbeitern“ in Mittelfranken seit den 1960er Jahren bis etwa 1990. Vergleichbare andere Ausstellungen zu Migration in Franken waren beispielsweise die unmittelbare Vorgängerausstellung im ebenfalls in Bad Windsheim angesiedelten Museum Kirche in Franken vom 18. März 2023 bis 2. Juni 2024. Sie behandelte die Zeit der Vormoderne mit dem Fokus auf das Thema „Evangelische Migrationsgeschichte(n) – Zuwanderer in Franken im 17. Jahrhundert“. Die von der Bezirksheimatpflege Mittelfranken kuratierte Schau „Fremde in Franken“ fand im Jahr 2015 statt. Sie spannte zeitlich einen großen Bogen von der Vor- und Frühgeschichte bis zum ausgehenden 19. beziehungsweise frühen 20. Jahrhundert mit einigen Exkursen zur Nachkriegszeit. Hier lag jedoch kein spezieller Fokus auf ländlichen Räumen, wenngleich das polyzentrische Franken an sich von ländlichen Regionen geprägt ist.
Insofern ist der Band „Zweite Heimat Franken. Migrationsgeschichten in Bad Windsheim und im ländlichen Mittelfranken 1960–1990“ mit der zeitlichen Fokussierung auf die Jahrzehnte zwischen 1960 und 1990 in Kombination mit behutsamer, akteurszentriert arbeitender Ethnografie herausragend. Es gelingt den Autorinnen und Autoren, ein für den Raum Mittelfranken einzigartiges Buch zu schaffen, was Alltage und subjektive Perspektiven von hier lange ansässigen Migrantinnen und Migranten nachvollziehbar macht. Die Publikation eignet sich also nicht nur für Fachpublika aus Museumswesen, Kulturpolitik und Wissenschaft, sondern auch für Museumsbesucherinnen und -besucher. Sicherlich kann sie als ideale Grundlage für den zeithistorischen Geschichtsunterricht dienen. Gerade aktuell, wo Rechtsextreme in Deutschland, Europa und darüber hinaus in Parlamenten und Regierungen sitzen, ist dieses Buch wichtiger denn je: Denn es zeigt, dass Migration gerade in ländlichen Räumen ein Faktum unseres Alltagslebens in Vergangenheit und Gegenwart ist. Der Blick auf die Einzelpersonen zeigt ihren Beitrag zu unserer vielfältigen Gesellschaft.