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Isabella Hesse
Finding, Losing, Maintaining Grip. Eine Analyse der Erzählungen von Stripper:innen über ihre Berufsalltage
(Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Ethnologie 53), Wien 2024, Institut für Europäische Ethnologie, 139 Seiten, ISBN 978-3-902029-39-0
Rezensiert von Mateja Marsel
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 24.10.2025
Zwischen Februar 2022 und September 2023 erforschte Isabella Hesse den Berufsalltag von Stripperinnen und Strippern eines Londoner Clubs und schloss damit ihr Masterstudium der Europäischen Ethnologie in Wien ab. Sie zeichnet eindrücklich nach, wie diese Beziehungen zu Kundinnen und Kunden, Kolleginnen und Kollegen und ihrem privaten Umfeld aushandeln, dabei Prekarität und Stereotypisierung begegnen und wie sie „Grip“ und dadurch auch längerfristig Zufriedenheit in ihrem Berufsalltag finden. Im Zentrum von Hesses Analyse stehen die Erfahrungen ihrer langjährigen Freundin Olivia, die wir beginnend von der Entscheidung, ihren verhassten Job in einem Restaurant aufzugeben, über ihre Anfänge im Stripclub „Sultriers“, bis hin zu den verschiedenen Höhen und Tiefen ihres neuen Alltags durch das gesamte Buch begleiten dürfen. Das Forschungsmaterial ist dabei ein flexibler Mix aus direkten Gesprächen, Zoom-Calls und vor allem Text- und Sprachnachrichten, die Olivia meist gleich auf ihrem Heimweg vom Club an Isabella schickte. Diese ermöglichten den beiden trotz räumlicher Distanz und asynchronen Tagesabläufen einen intensiven Austausch, den Olivia frei in ihren Alltag integrieren konnte. Zugleich bot ihr dies die Möglichkeit, assoziative Schwerpunkte in der Erzählung zu setzen, wodurch sich immer wieder neue Fragen und Themen für die Forscherin ergaben, nach denen sie so in einem klassischen Interview nicht gefragt hätte. Hesse zeigt hier die Vorteile, die sich ergeben, wenn Forscherinnen und Forscher sich flexibel und empathisch auf Menschen und ihre Alltage einlassen sowie mit dem Unerwarteten aus dem Feld konstruktiv umgehen. Kontrastiert wurden diese „Olivia Diaries“(33) durch ein leitfadengestütztes Interview mit einer von Olivias Kolleginnen sowie Beobachtungsnotizen nach Hesses Besuch eines Wiener Stripclubs und ihrer eigenen Teilnahme an Poledance-Kursen.
In Bezug auf die Sexarbeitsforscherin Helga Amesberger spricht die Autorin von den „Scheinbaren Gewissheiten“ (9), von denen gesellschaftliche Diskurse über Sexarbeit dominiert werden und denen sie versucht mit ihrer Forschung entgegenzutreten. Als Sexarbeit versteht Hesse verschiedene „[…] sexualisierte Dienstleitungen (z. B. sexuelle Handlungen in Bordellen, Escort Services, Produktionen von erotischen Videos […] und Striptease-Performances)“ (ebd.). Die erwähnten „Scheinbaren Gewissheiten“ sind die Annahmen, die Personen gegenüber der Arbeit von Stripperinnen und Strippern haben, und denen meist moralische Haltungen und Weltbilder zugrunde liegen, die wenig mit den realen Alltagswelten zu tun haben. Dabei sieht Hesse diese Stellvertreterdiskussionen, die sich meist um die Frage der Freiwilligkeit drehen, als nicht zielführend und will stattdessen zu einer Entmystifizierung des Berufes beitragen, indem sie die Erzählungen und Erfahrungen von Stripperinnen und Strippern ins Zentrum stellt und die Art der Erzählung einer kulturwissenschaftlichen Analyse unterzieht. Sie fragt danach, „Welche anderen Erzählungen referieren sie? Welche Begriffe wählen sie? Welche Möglichkeiten des Erzählens erhalten und nutzen sie? Wie tritt der Berufsalltag einer Stripperin und eines Strippers in diesen Erzählungen zutage?“ (9) Die Autorin stellt außerdem dar, dass es in den dominierenden Diskursen zu Sexarbeit meistens nur zwei gegensätzliche Extrempositionen gibt, die sie mit Bezug auf Sabrina Stranzl auf die Figuren „happy hooker“ und „Opfer“ zusammenfasst und in denen entweder von purer Ermächtigung oder purer Ausbeutung die Rede ist (14). Isabella Hesse lädt uns jedoch dazu ein, über konkrete Arbeitsbedingungen nachzudenken und dabei die Stärke der Europäischen Ethnologie, nämlich die Hinwendung zum Spezifischen und Alltäglichen zu nutzen. Mit ihrem Buch strebt, sie, formuliert sie in der Einleitung, keine verallgemeinernde Darstellung von Stripperinnen und Strippern oder gar Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern an, sondern versteht es vielmehr als Anregung, Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter als Individuen und nicht als homogene Gruppe zu betrachten und vor allem mit ihnen zu sprechen, anstatt über sie – was ihr durchweg gelingt.
Hesse schafft es mit Rückgriff auf kultur- und sozialwissenschaftliche Sexarbeitsforschung sowie feministische und kulturwissenschaftliche Theorien, etwa zu Postfeminismus und der erzählerischen Verarbeitung von Prekarität, ihre eigene Forschung sinnvoll zu rahmen und zu positionieren, ohne sich in Literaturrezeptionen zu verlieren. Dabei entwickelt sie ihren eigenen Analyse-Begriff des „Grip“ (25), der uns auch durch das gesamte Buch begleitet und dabei hilft, den gedanklichen Halt nicht zu verlieren. Mit Grip umschreibt Hesse den Prozess, den Olivia durchlebt, als sie in ihren neuen Beruf als Stripperin einsteigt und dabei fortlaufend zu entschlüsseln versucht, was dieser Beruf für sie bedeutet und wie sie ihn der Forscherin verständlich machen kann. In diesem Prozess des „Handhabbar-Machens“ zeigt sich wie sie „einen Orientierungsrahmen schafft, um ihre Erlebnisse einzuordnen, Entscheidungen zu treffen und Ereignisse und Personen bewerten kann“ (25). Die Metapher des Grip kommt direkt aus dem eigenen Poledance-Training der Forscherin, welches sie im Rahmen ihrer Feldforschung mehrere Monate besuchte und das gleich mehrere Funktionen erfüllte. Zum einen konnte Hesse damit Nähe zwischen ihrer eigenen „körperlichen Erfahrung und dem Erfahrungshorizont [ihrer] Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner“ (37) herstellen. Zum anderen zeigte sich in den Trainingseinheiten „wie Poledance-Trainerinnen und Schülerinnen Bewegungen einen sexuellen Charakter zu- oder absprechen, und wie die Figur der Stripperin mal angeeignet, mal zelebriert und mal abgewertet wird“ (37). Dabei betont Isabella Hesse, dass Grip beim Poledance durchaus auch schmerzhaft sein kann und deshalb nicht einfach mit Glücksmomenten gleichzusetzen sei. Vielmehr geht es ihr um die Frage wie die Stripperinnen und Stripper es schaffen, in ihrem Arbeitsalltag, der auch von „Belastung und Vulnerabilität, aber auch Offenheit, Ambivalenzen und dem Aushalten von Inkonsistenzen“ (26) geprägt ist, Halt und Zufriedenheit zu finden. Auch, dass sie die Metapher sprachlich einzusetzen weiß und die Leserinnen und Leser deshalb auch aus Spaß und nicht nur Interesse am Thema zum Weiterlesen animiert, zeigt sich an vielen Stellen. Etwa wenn sie die Beziehungen zwischen weiblichen Tänzerinnen und männlichen Kunden darstellt und dabei verschiedene Prozesse des Lernens beschreibt, die es Olivia ermöglichen, Sicherheit durch die Einsicht zu gewinnen, dass sie die Interaktion mit Kunden kontrollieren kann und ihnen nicht einfach ausgeliefert ist. Sowie, dass verschiedene Arten der Interaktion, im Sinne eines „unternehmerischen Selbst“ auch der Beziehungspflege dienen und damit „zu einem wichtigen Instrument werden, um die Karriere zu fördern und Prekarität zu bekämpfen“ (128). Hesse verdichtet und veranschaulicht diese Analyse nochmals metaphorisch: „Jede verfügbare Fläche nutzen, um sich festzuhalten. Unter Bedingungen der Prekarität, wenn es nicht möglich ist, fest auf beiden Beinen zu stehen, setzt sich Grip stattdessen aus Fragmenten zusammen. Rechte Kniekehle um die Stange haken, ziehen, mit der inneren Kante des linken Fußes so weit nach unten rutschen wie’s nur geht, drücken. Und dann weit nach außen lehnen, ganz weit. Bis du auf dieser schmalen Kante auf einmal stehen kannst.“ (129) Der Autorin gelingt es außerdem, nicht zuletzt durch die vielen direkten Zitate ihrer Gesprächspartnerinnen, das Feld in seiner Spezifik aber auch Komplexität darzustellen und die Akteurinnen und Akteure als Personen sichtbar und hörbar zu machen. Gleichzeitig eröffnet sich aber auch der Mehrwert für ähnliche Felder und Forschungen, besonders in ihrer Argumentation und Darstellung, dass es wenig sinnvoll ist sich in der Diskussion auf den Aspekt von Freiwilligkeit zu versteifen. Denn nur, weil sich Personen für irgendeine Form von Sexarbeit entscheiden, heißt das nicht, dass sie mit allen Aspekten der Arbeitsbedingungen immer zufrieden sein müssen. In einer kapitalistisch organisierten Gesellschaft sind die wenigsten Personen von der ökonomischen Notwendigkeit befreit, ihre Existenz durch irgendeine Form der Erwerbsarbeit zu sichern. Die Entscheidung für oder gegen eine Art der Existenzsicherung wird dabei wohl in den seltensten Fällen „ohne Abwiegen verschiedener Zwänge getroffen“ (112). In Bezugnahme auf Yen-Wen Peng, weist Hesse außerdem darauf hin, dass die „Autonomie und Agency von weißen, mitteleuropäischen Frauen […] seltener in Frage gestellt [wird] als von Women of Color und Frauen mit Migrationsgeschichte“ (112). Dies verstärkt die Objektivierung marginalisierter Gruppen zusätzlich, dadurch werden sie „zum Gegenstand von Gesetzen und Diskursen über sie, doch sind keine sprechenden Subjekte“ (112). Isabella Hesse gelingt es stattdessen Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter als entscheidungsfähige Subjekte ernst zu nehmen, was sie am Ende ihrer Arbeit nochmals betont, ohne dabei außer Acht zu lassen, dass ihre Forschung nicht alle Lebenswelten und Themen behandeln konnte: „Für konstruktiv halte ich daher weniger die Frage ob, sondern wie Sexarbeit auf ermächtigende, würdevolle Weise ausgeführt werden kann. […] Die Fragen wie Strippen Gefühle von Ermächtigung erzeugen kann, worin diese Gefühle begründet sind, wer Zugang dazu hat und wer nicht, machen auch sichtbar, dass Privilegien ungleich unter Stripperinnen und Strippern verteilt sind. Sie haben mit unterschiedlichen Herausforderungen zu kämpfen. Das Erleben des Berufsalltages von Stripperinnen und Strippern gestalten beispielsweise auch Zuschreibungen von Klasse, von race und Ethnie, auf die ich in diesem Rahmen leider kaum zu sprechen gekommen bin.“ (133) Und auch das heißt Forschung in der Europäischen Ethnologie: selbstreflektiert zu sein, zu erkennen und besonders auch darauf aufmerksam zu machen, dass Fragen immer auch offenbleiben, und trotzdem immer weitere zu stellen.