Aktuelle Rezensionen
Edith Hessenberger/Veronika Raich (Hg.)
Ötztaler Gletscher. Katastrophen, Klimawandel, Kunst
(Ötztaler Museen, Schriften 9), Innsbruck 2023, Studienverlag, 187 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-7065-6314-7
Rezensiert von Oliwia Murawska
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 24.10.2025
Wir befinden uns in einer Zeit, in der der Mensch zum geologischen Faktor avanciert, Gletscher zum Schmelzen bringt, Ressourcen übernutzt, sich tief in die Erdkruste einschreibt, ein Artensterben gigantischen Ausmaßes verursacht und sich damit nicht zuletzt seiner eigenen Lebensgrundlage beraubt. Diese ihrer offiziellen Ausrufung freilich noch harrende Epoche wird in natur- und geisteswissenschaftlichen Diskursen unter dem Begriff des Anthropozäns verhandelt. Auch wenn dieser Name im Sammelband „Ötztaler Gletscher. Katastrophen, Klimawandel, Kunst“, herausgegeben von Edith Hessenberger und Veronika Raich, nicht explizit aufgegriffen wird, so wurde das Buch doch offenkundig unter dem Eindruck massiver umweltlicher Transformationen und ihrer konkreten Erscheinungsweisen in der Ötztaler Gletscherlandschaft verfasst.
Der Sammelband, der auch die Grundlage zur gleichnamigen, vom Juni 2023 bis Oktober 2024 in den Ötztaler Museen gezeigten Ausstellung bildet, nimmt die Ötztaler Gletscher aus einer inter- und transdisziplinären Perspektive in Augenschein. Das Ansinnen der Herausgeberinnen sei es, künstlerische Arbeiten aus den Sammlungen des Alpenverein-Museums sowie des Turmmuseums gerade auch im Lichte des anthropogenen Klimawandels und des damit einhergehenden Verschwindens von Eislandschaften vor dem Hintergrund der Frage zu betrachten, wie sich der menschliche Blick auf die Ötztaler Gletscher im Laufe der Zeit verändert habe. Von der Faszination der Gletscher kann sich wohl keine der Autorinnen und Autoren freimachen, mithin ist die allen Beiträgen innewohnende Begeisterung für die Spezifik der alpinen Eislandschaft ansteckend. Die insgesamt sieben Beiträge ergeben eine bunte Mélange aus glaziologischen, geografischen, volkskundlichen, kunst- und kulturwissenschaftlichen, aber auch heimatkundlichen Beiträgen. Der ansprechend gestaltete Band setzt dabei auf die Macht der Bilder und Farben: Bereits den Umschlag, der von einem türkisen Leinenrücken gesäumt wird, ziert ein dekoratives Detail aus Josef Preyers Gemälde „Wildspitze“. Ein im Band wiederkehrendes Element ist zudem die wohl älteste Darstellung eines Gletschers von 1601, ein Aquarell des Vernagtferners nach Abraham Jäger, die einige Autorinnen und Autoren zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen wählen. Bedauerlicherweise werden diese Kunstwerke in einigen Fällen beschnitten abgedruckt, vermutlich, um sich in das Layout des Buches zu fügen.
Eröffnet wird der Band mit einem auf die Aktualität und Dringlichkeit des Themas einstimmenden Beitrag der Glaziologin Andrea Fischer, die sich der Rolle der Ötztaler Gletscher in der naturwissenschaftlichen Forschung zuwendet. Diese erfreuen sich gerade im Lichte des anthropogenen Klimawandels einer traurigen Berühmtheit, insofern sie zu den am schnellsten abschmelzenden Gletschern der Welt zählen. Der Beitrag bietet einen guten Einblick in die Geschichte naturwissenschaftlicher Gletscherforschung seit dem 18. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung der jeweils vorherrschenden Methoden, Erkenntnisinteressen sowie visuellen Darstellungsmöglichkeiten.
Aus geografischer und kunsthistorischer Perspektive werden im zweiten Beitrag künstlerische Darstellungen der Ötztaler Gletscher seit dem 17. Jahrhundert betrachtet. Die grundsätzlich informative Zusammenschau von Werken, an denen die Transformationen von Gletschern abgelesen werden, wird leider von subjektiven Geschmacksurteilen irritiert. So erscheint der Zugriff, die kunsthistorische Bedeutung von Kunstwerken aus ihrem dokumentarischen Charakter abzuleiten, methodisch fraglich. Dezidiert kunstwissenschaftlich argumentiert demgegenüber Sibylle Moser-Ernst, die die Interdependenz von ästhetischen Erfahrungen in Alltag und Kunst diskutiert und dabei zeigt, wie bei der Erschaffung von Kunstwerken und ihrer Betrachtung „ästhetisches Begehren und Lebenswelt ineinandergreifen“ (70). Die Autorin stellt heraus, dass die Künstlerinnen und Künstler, die sich Gletschern zuwandten, vielfach „kein Porträt einer Landschaft“ anstrebten, „sondern eine überhöhende Steigerung und Komprimierung“ (65) ihrer Natureindrücke ins Allgemeine. Neben der Reflexion des Erhabenen, das als eine Form von Bewusstsein verstanden wird, erfolgt eine kunsthistorische Einordnung von Gletscherbildern seit der bereits erwähnten, frühesten Darstellung von 1601, bis in die 1990er Jahre hinein; es ist schade, dass zeitgenössische Positionen wie etwa jene von Walter Niedermayr, Gregor Sailer oder Thomas Wrede, hier keine Erwähnung finden, da sie zur kritischen Auseinandersetzung mit den menschengemachten Transformationen im alpinen Raum einladen würden.
Aus volkskundlicher Perspektive und anhand schriftlicher Quellen (wie Chroniken, Berichten, Zeitungsartikel, Sagen) zeigt Franz Jäger, wie die in den Ötztaler Alpen lebenden Menschen seit der kleinen Eiszeit mit den Gletschervorstößen des Gurglers und Vernagtfressern und den damit einhergehenden massiven Eisbarrieren und Wasserschäden umgingen. Den Gletschern, die als Verkörperung des Dämonischen betrachtet wurden, begegnete man, dem Autor zufolge, mit Aberglauben oder religiösen Praktiken (Gelöbnissen, Bittprozessionen oder Wallfahrten), insbesondere dann, wenn Maßnahmen der staatlichen Verwaltung nicht verfingen. Die These des Autors, dass das Verhalten der Menschen im Lichte existenzieller Bedrohungen durch Naturgewalten auch in der Gegenwart ähnliche Strukturen aufweise, ist interessant, jedoch ohne Belege schwerlich haltbar: Im Unterschied zu den historischen Beispielen haben wir es doch heute mit anthropozänen, menschengemachten Prozessen von planetarem Ausmaß zu tun. Der Landwirt und Heimatforscher Franz Josef Gstrein gibt eine von ihm erhobene Erzählung älterer Menschen im Ötztal von 1929 wieder. Es handelt sich um einen Bericht aus dem Jahr 1845, in dem die Auswirkungen des Vernagtfernersee-Ausbruchs auf die in Sölden lebenden Menschen thematisiert werden. Insofern der Text idealtypische Bilder von Ländlichkeit und Bäuerlichkeit entwirft, hätte er einer wissenschaftlichen Rahmung in Gestalt einer Analyse und Quellenkritik bedurft – gerade, weil sich der Band vor allem an ein Laienpublikum richtet. Denn als Quelle ist der Text nicht uninteressant; weniger aufgrund der Auskünfte, die er über reale Verhältnisse gibt, als vielmehr wir ihm entnehmen können, wie Geschichten über Naturgefahren erzählt werden.
Der Beitrag von Veronika Raich zeigt, wie seit dem 19. Jahrhundert das Naturphänomen Gletscher die Neugier von Städterinnen und Städtern, namentlich von Forschenden, Künstlerinnen und Künstlern oder Touristinnen und Touristen weckte. Die Zusammenstellung des verwendeten Quellenmaterials in Gestalt von „Fremdenbüchern“ und Kunstwerken hätte dabei von einer kritischen Analyse und Einordnung profitiert. Der den Band abrundende und überzeugende Beitrag von Edith Hessenberger widmet sich aus kulturwissenschaftlicher Perspektive der Wahrnehmung und Interpretation der Gletscher seit dem Beginn der Moderne. Die Autorin ordnet die Wahrnehmungsweisen alpiner Berglandschaften sowie ihrer künstlerischen Repräsentationsweisen historisch ein und veranschaulicht ihre Aussagen am Œuvre konkreter Landschaftsmalerinnen und Landschaftsmaler des alpinen Raumes. Neben der romantischen Ästhetik werden der Konnex zwischen Bergmalerei und Tourismus beziehungsweise Bergsteigen sowie die politische und ideologische Dimension des künstlerischen Blicks auf Bergwelten kritisch diskutiert.
Bei der Bewertung des Bandes sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass er sich vordringlich an ein Laienpublikum im Allgemeinen, und an die Besucherinnen und Besucher der Ötztaler Museen im Besonderen richtet. Freilich ist gerade das Laienpublikum auf eine wissenschaftlich zuverlässige Einordnung des zweifellos attraktiven wie aktuellen Themas angewiesen: Einige der Beiträge hätten einer analytischen Vertiefung sowie quellenkritischen Auseinandersetzung bedurft. Bei der Lektüre drängt sich die Frage auf, ob nicht gerade ein so ansprechend gestalteter Band der geeignete Ort gewesen wäre, um das Museumspublikum mit den Begriffen „Anthropozän“ oder „NaturenKulturen“ zu konfrontieren, um es für die Interdependenzen von Mensch und Umwelt zu sensibilisieren. Böte er nicht auch die passende Gelegenheit, sich kritisch mit dem alpinen Tourismus und den Schneemanagement-Maßnahmen auseinanderzusetzen? Der Balanceakt zwischen wissenschaftlichem Anspruch und Niederschwelligkeit ist kein leichtes Unterfangen. Diese Überlegungen und Fragen sollten dabei keineswegs den Wert des Bandes „Ötztaler Gletscher. Katastrophen, Klimawandel, Kunst“ schmälern: Indem er uns an den Sammlungen regionaler Museen und Archive teilhaben lässt und unser Auge mit schönen Bildern erfreut, lädt er dazu ein, über die Transformationen der Wahrnehmung und der künstlerischen Repräsentationsweisen der Ötztaler Gletscher nachzudenken.