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Aktuelle Rezensionen


Anja Dreschke

Kölner Stämme. Eine Medienethnografie

Berlin 2024, Reimer, 479 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-496-01689-2, E-Book, ISBN 978-3-496-03080-5


Rezensiert von Torsten Näser
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 24.10.2025

Alle paar Jahre erscheinen auf dem deutschsprachigen Markt Bücher, die aus Forschungsprojekten, in denen auch Filme realisiert wurden, hervorgegangen sind und die, wenn auch nicht immer schwerpunktmäßig, das Verhältnis von Ethnografie und Film in den ethnologischen Kulturwissenschaften ausloten. In der Regel liegen solchen Publikationen die entstandenen Filme bei: Wie im Fall des Bandes „Lebensbilder – Bilderwandel“ von Marius Risi und Lisa Röösli (2010), der ihre filmischen Re-Studies zu zwei Filmen der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde behandelt, physisch als DVD oder, wie im Fall von Frauke Paechs Arbeit über die Hamburger Sturmflut von 1962 (2020) in Form eines QR-Code unterstützten Screeninglinks. Im Fall des Buchs von Anja Dreschke ist das anders. Der dazugehörige Film „Die Stämme von Köln“ (2011) ist zwar als DVD erhältlich, aber nicht Teil der Buchpublikation. Auch wenn nicht zweifelsfrei ersichtlich, liegt die Vermutung nahe, dass der knapp 90-minütige Film, der mit einer Produktionsfirma und in Kooperation mit dem Westdeutschen Rundfunk (WDR) realisiert, im Fernsehen ausgestrahlt sowie im Kino gezeigt wurde, aus (lizenz)rechtlichen Gründen nicht zusammen mit dem Buch vertrieben werden darf. Dies ist bedauerlich, aber kein Malus. Denn die Autorin ist diesem Umstand mit einem außergewöhnlichen Buch begegnet, das – um es vorwegzunehmen – überzeugt. Doch der Reihe nach.

Der vorliegende Band behandelt die sogenannten „Kölner Stämme“, einen Zusammenschluss von Vereinen beziehungsweise Interessengemeinschaften aus Köln und der Region, der sich Anfang der 1990er Jahre vollzog. Die in ihm organisierten Gruppen, deren Gründung bis in die 1950er Jahre hineinreicht, eint, dass sie das Leben – ihrem eigenen Verständnis nach – historischer sozialer Entitäten, wie beispielsweise „der Ritter“, „Mongolen“, „Wikinger“, vor allem aber „der Hunnen“, nachstellen und öffentlich darbieten, unter anderem auf ihren jährlich stattfindenden sogenannten Sommerlagern, die für Besucherinnen und Besucher zugänglich sind. Die Mitglieder der „Kölner Stämme“ präsentieren sich oft in vermeintlich „typischer“ Kleidung sowie in oder vor ihren, den jeweiligen Gruppen, die sie darstellen, zugeschriebenen Wohnobjekten, vorzugsweise Zelten und Jurten. Letztere, aber auch die Kleidung, stellen sie in aufwendiger Arbeit selbst her. Besonderen Wert legen die Mitglieder dieser Gruppen auf die (historische) Fundierung ihrer teilhabenden Rekonstruktionen.

Die aus diesem Forschungsfeld entstandene Publikation liegt schwer in der Hand. Das Papierformat beträgt 26 x 20,5 cm, die Rückenstärke 3,5 cm – allein materiell eine gewichtige Erscheinung. Das auch haptisch sehr angenehme Papier verhilft dem durchgängig zweispaltigen Text, vor allem aber den unzähligen Abbildungen, viele davon Farb- und Schwarz-Weiß-Fotografien, zu gelungenem Ansehen. Konzeptuell hat Anja Dreschke den Band an filmische Strukturierungsprozesse angelehnt. Dies zeigt sich in der Makrostruktur des Buchs, dessen drei Hauptkapitel durch einen auch sogenannten Vor- beziehungsweise Abspann gerahmt werden. Einen weiteren Verweis auf das Medium Film liefert die Mikrostruktur. Jedes der vierzig Unterkapitel, die die Autorin in kinematischer Analogie als „Szenen“ bezeichnet, beginnt mit einem Intro, das sich aus Filmstills und mal kürzeren, mal längeren Dialogen zusammensetzt, die so auch im Film enthalten sind, was die angegebenen Timecodes indizieren. Das Kapitel „Vorspann“ beinhaltet neben einer ersten Annäherung an den Forschungsgegenstand, wozu auch demografische Angaben sowie Einblicke in die Sozialstruktur der Gruppen gehören, die fachgeschichtliche sowie methodische Verortung des Forschungsprojekts und der daraus hervorgegangenen filmischen wie bild-textlichen Ergebnisse. Erkenntnisreiche Einblicke in Dreschkes filmisches Tun durchziehen – neben der gegenstandsbezogenen Fokussierung – als zweiter roter Faden erfreulicherweise den ganzen Band, sind aber im „Vorspann“ gehäuft zu finden. Sie erstrecken sich von Beschreibungen zu den Anfängen Dreschkes filmischer Feldforschung bis hin zu methodologischen Überlegungen etwa zur teilnehmenden Kamera oder zum Schneideraum als Ort der Wissensproduktion. Hierbei überzeugt auch die mediale Expertise der Autorin, weil sie ihre Arbeit nicht nur an visuell anthropologische, sondern auch an filmwissenschaftliche Diskurse anschließt.

Der Hauptteil des Buchs ist in drei große Kapitel gegliedert: „Reenactment“, „Karneval“ und „Schamanismus“, die jeweils rund einhundert Seiten umfassen und die wiederum in etwa zehn Unterkapitel aufgeteilt sind. Die Kapitel und die darunter liegende Argumentationslinie zielen auf die Frage nach den begrifflich unter anderem von Walter Benjamin und Michael Taussig abgeleiteten mimetischen Praktiken der „Kölner Stämme“ mit besonderer Berücksichtigung der angewendeten Strategien „der Appropriation, Affirmation, Transformation und [der] Unterwanderung stereotyper Darstellungsweisen in ihren Reenactments“ (25) und darauf, wie diese unter den Mitgliedern ausgehandelt werden.

Das Kapitel „Reenactment“ stellt die „Kölner Stämme“ als Akteurinnen und Akteure der Inszenierung vergangener Lebenswelt vor. Dabei lotet Dreschke deren Praktiken bewusst breit unter anderem vor dem Hintergrund von Forschungen zu Hobbyismus, Spieltheorie, Living History, aber auch zu sogenannten Praktiken des Sekundären, die auf Momente der Wiederholung, des Zitats oder der Paraphrase rekurrieren, aus. Eine weitere wichtige Perspektive dieser theoretischen Einordnung bildet die Darstellung des vermeintlich „Fremden“ unter postkolonialen Gesichtspunkten. Dem zweiten Kapitel dient der „Karneval“ als analytischer Betrachtungs-, aber auch Vergleichsrahmen. Unter Rückgriff auf Forschungsliteratur, großteils aus dem Bereich der Brauch- und Fastnachtsforschung, entwirft Dreschke ein kulturwissenschaftliches Bild des Karnevals und der mit ihm einhergehenden Bedeutungsfacetten unter anderem von Struktur und Antistruktur, von Exklusion und Inklusion sowie von Religiosität. Im weiteren Verlauf des Kapitels macht die Autorin deutlich, dass aus der lokalen und sozialen Nähe zu den Kölner Karnevalsvereinen ein spezifisches und dabei durchaus spannungsgeladenes Verhältnis der „Kölner Stämme“ zum Karneval resultiert. Auf der Ebene der einzelnen Gruppenmitglieder changiert es zwischen biografiebedingter Nähe und einer – nicht nur seitens der Stämme, sondern durchaus auch seitens des etablierten Karnevals forcierten – gegenseitigen Abneigung. Darin unterscheiden sich die in und um Köln ansässigen Gruppen deutlich von vergleichbaren, geografisch aber anders lokalisierten Reenactors, so Dreschke. Auch die Sommerlager der „Kölner Stämme“ werden in diesem Kapitel als, im ethnografischen Sinn, verdichtetes Phänomen herausgearbeitet, um an ihnen die mimetischen Praktiken der Akteurinnen und Akteure in ihren zum Teil sehr brüchigen Identitätsempfindungen zum Beispiel gegenüber eben jenen karnevalistischen Gruppen erfahrungsnah zu verdeutlichen. Das Kapitel „Schamanismus“ schließlich fokussiert weitere Alteritätserfahrungen, die unter anderem im Zuge einer lokal spezifischen Adaption des Schamanismus in ihren Aneignungsbemühungen und -praktiken zu Tage treten und sich, so die These der Autorin, von neoschamanistischen Praktiken anderer Gruppen, die lokal weniger eng an den Karneval gebunden sind, unterscheiden. Hier greift Dreschke vor allem auf ritualtheoretische Überlegungen zurück, um die Frage zu beantworten, wie die Reenactments im Allgemeinen sowie die spirituellen Praktiken im Besonderen kulturtheoretisch gefasst werden können.

Bei aller Multiperspektivität auf die „Kölner Stämme“ fällt ein analytisches Primat ins Auge: der medienanthropologische Fokus, mit dessen Hilfe Dreschke auf das im Untertitel des Bandes als Medienethnografie annoncierte Ziel zusteuert. Gelungen ist dabei vor allem die Ausrichtung der Medienanthropologie, die die Autorin als praxeologische Kulturanalyse versteht, Zugänge wie die Akteur-Network-Theory berücksichtigt und so immer bestrebt ist, Wissensordnungen zu erhellen. Dies kulminiert im Kapitel „Reenactment“, durchzieht im Grunde aber die ganze Arbeit. Vor allem den Umgang mit und die Bedeutung von visuellen Vorbildern, wie sie sich etwa in Völkerschauen, vor allem aber in populären Spielfilmen wie dem von den Akteurinnen und Akteuren immer wieder erwähnten Film „Attila, die Geissel Gottes“ (1954) finden, skizziert Dreschke vielschichtig. Praktiken der Rezeption, der Remediation und daraus resultierender filmischer Zurichtungen der Reenactments verdichten sich so immer wieder zu empirisch basierten wie theoretisch fundierten, eindrucksvollen Beschreibungen und Konversationsanalysen.

Wie bereits angedeutet, nähert sich das Buch in vielfältigen und zudem kreisenden theoretischen wie analytischen Bewegungen seinem Gegenstand, anstatt einer dominanten kulturtheoretischen Linie zu folgen. Für diese evokative Ausrichtung sind auch die vielen Abbildungen verantwortlich. Diese bestehen aus drei Gattungen: Screenshots aus Dreschkes Film sowie aus Abbildungen Dritter, vornehmlich historischen Fotografien, Gemälden, illustrierten Zeitungsausschnitten oder Filmplakaten. Die größte Bildgruppe besteht aus Fotografien, die Dreschke selbst angefertigt hat und die eine eigene Erzählebene beanspruchen. Die Bilder folgen verschiedenen Modi, sind mal beobachtend, mal in expliziter Absprache mit den Porträtierten in Szene gesetzt. Ihre eindrückliche Wirkung entfalten sie als Einzelbild, mehr aber noch in ihrer Zusammenstellung. Vor allem die fotografischen Tableaus laden die Betrachterinnen und Betrachter im Sinne der formal strengen seriellen Fotografie zu immer wieder neuen Annäherungen, vor allem zu Vergleichen ein und ziehen aus diesem Wechselspiel von Wiederholung und Variation ihr großes vermittelndes Potential. Kunstvoll ist auch die dramaturgische Funktion, die Dreschke ausgewählten Bildern zuschreibt: wie Zwischenschnitte in einem Film lösen sie im Zuge der Lektüre entstandene Bilder auf, um für weitere inhaltliche Auseinandersetzungen neue Projektionsflächen zu schaffen. Ins Auge sticht zudem, dass Dreschke auch die materielle Dimension des Bildlichen kenntlich macht, etwa altersbedingte Verfärbungen von Fotografien oder deren Anordnung in Fotoalben inklusive der für dieses Format typischen Pergamineinlagen. Der Band geht hoch sensibel mit den unterschiedlichen Dimensionen von historischen (Bild)Quellen um, woran auch das überzeugende Layout einen hohen Anteil hat. Zusammen mit dem Sprachstil, der immer leicht und dabei stets präzise ist, bildet es eine wesentliche Grundlage des Lektüregenusses.

Der Band „Kölner Stämme“ ist eine gelungene Assemblage, die – so ist es anzunehmen – nicht nur in der Scientific Community reüssieren, sondern auch in populären Diskursfeldern, vor allem unter den Akteurinnen und Akteuren selbst gut angenommen werden dürfte. Zudem ist der Band, um die eingangs geöffnete Klammer auch wieder zu schließen, ein stichhaltiges Plädoyer, die der visuellen Anthropologie über viele Jahrzehnte inhärente Dichotomie, die den Diskurs über das Visuelle und das Textliche bedenklich erstarrt hat, zugunsten einer weniger erhitzten Multimodalität aufzulösen. In seiner vielmehr verbindenden, denn trennenden Konzeption, zeigt das Buch von Anja Dreschke die Potentiale des überlappenden Hinreichens auf: in seiner Ambivalenz von Linearität und Nebeneinander, die die Rezeption leitet, aber auch zum Mäandern wie zum Vor- und Zurückblättern einlädt. Aber auch, indem es Text filmisch anlegt und Bilder in ihrer Textlichkeit betont, indem es Filmbilder erstarren lässt und Fotografien seriell in Bewegung versetzt.