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Werner Winkler
Johann Andreas Schmeller. Heimat finden in der Sprache
Regensburg 2024, Pustet, 432 Seiten mit Abbildung, ISBN 978-3-7917-3529-0
Rezensiert von Anthony Rowley
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 27.10.2025
Johann Andreas Schmeller (1785–1852), dessen Biografie hier besprochen wird, war für die Germanistik eine sehr bedeutende Figur: Sprachforscher und Bibliothekar, einer der ersten, die sich für die historischen Sprachzeugnisse des Deutschen aus dem Mittelalter interessierten und der erste, der sich ernsthaft mit Dialekten, vorwiegend Bayerns, befasste. Aber er war viel mehr als nur das, wie sein Biograf Werner Winkler hier zeigt. Was seinem Leben Bedeutung für die allgemeine Leserschaft gibt, sind die Zeugnisse über seine Zeit, die er uns hinterlassen hat. Er hat Jahrzehnte lang in seinen Tagebüchern das München der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts festgehalten, war etwa Zeuge eines Brands der Oper im Jahr 1823, erlebte als kritischer Beobachter die Lola Montez-Affäre, die Ereignisse von 1848 und den Beginn der Restaurationszeit. Er beschreibt auch seine Reisen durch Europa. Während seine späteren Jahre als Bibliothekar der Königlich Bayerischen Staats- und Hofbibliothek vom Schreibtischdienst geprägt waren, war seine Jugendzeit sehr bewegt. Er diente mit einem Schweizer Regiment als Soldat in Spanien und war dann in verschiedenen Lehranstalten in der Schweiz tätig, bevor er sich zum Oberleutnant des Bayerischen Heers ernennen ließ und 1815 an einem Frankreichfeldzug teilnahm. Winkler gelingt es in eingängiger Weise, die Leser spüren zu lassen, was Schmeller dabei gefühlt und gedacht hat. Der Autor, Herausgeber auch von Schmellers Briefen, kennt sein Sujet wie wohl kein Zweiter. Und er hat das Hintergrundwissen über die geistigen Strömungen der Zeit, um Schmellers Leben in seiner Zeit zu verorten.
Die Biografie umfasst 16 Kapitel, die zum größten Teil chronologisch nach dem zeitlichen Verlauf von Schmellers Leben gereiht sind, wo nötig aber einen Bereich thematisch außerhalb der Chronologie zusammenfassen – etwa in Kapitel XIV Schmellers Beschäftigung mit der Sprache der altertümlichen zimbrischen Sprachinsel in Oberitalien, die er zweimal – 1833 und 1844 – besuchte. Im Vorwort stellt Winkler sein Projekt und seine Quellen vor; vor allem kommt Schmeller in Zitaten aus seinen Briefen und seinen Tagebüchern ausgiebig selber zu Wort. Winkler ist bestrebt, neben der Beschreibung des umfangreichen wissenschaftlichen Werks auch eine Darstellung „seiner komplexen Persönlichkeit sowie seines privaten, sozialen und politischen Umfelds“ zu leisten (16). Der Leser wird übersichtlich in das jeweilige Themengebiet eingeführt – so erfährt man etwa die Hintergründe der Aufklärung (48) oder die Geschichte und Situation der Universitäten (218).
Das erste Kapitel heißt „Die Herkunft“. Schmeller wird zunächst in seiner Geburtsheimat, dem Stiftland und der Oberpfalz verortet, „Im Grenzland“, wie der erste Abschnitt betitelt wird, und das Thema Schmeller als Grenzgänger durchzieht Winklers Darstellung bis zur letzten Seite – auch als Bauernsohn in Münchner Gelehrtenkreisen, als einer, der hinauszog ins Unbekannte und ins wissenschaftliche Neuland (344). Als Zusammenfassung dieser These muss man Winklers genaue literarische Analyse von Schmellers Gedicht „Er bleibt des Kürbenzäuners Sohn / Er tische nun mit Hochgebornen […]“ (336–337) sehen; Winklers Fazit: „Im Gedicht spiegelt sich poetisch verschlüsselt das Dilemma von Schmellers Leben als das eines Heimatlosen zwischen zwei Welten.“ (337)
Die beiden folgenden Kapitel (II „Eine glückliche Kindheit (1787–1799)“ und III „Im Licht der Münchner Aufklärung (1799–1804)“) berichten von Schmellers Aufwachsen im Dörfchen Rimberg und von seinem Schulbesuch, der durch die Wirren der Napoleonischen Kriege mehrfach unterbrochen wurde, dann von der prägenden Zeit am heutigen Wilhelmsgymnasium in München. Was Winkler hier nicht erwähnt, ist, dass Schmeller die Schule letztlich ohne Abschluss verließ – eine Protestaktion wegen der Behandlung von Mitschülern (so Paul Ruf in seiner Einleitung zur Ausgabe von Schmellers Tagebüchern1). Wiederholt stellt Winkler anschaulich da, wie die Sprache – gerade die Mundart des „einfachen Volkes“ – für Schmeller identitätsprägend wurde; in der Ferne lebend wurde es „das einzige, was ihn mit der Heimat verband“ (36). Begleitet werden die Ausführungen wie immer von einer präzisen Darstellung der Zeitumstände, so hier insbesondere das Bildungswesen und die Strömungen der Aufklärung. Schmeller begeisterte sich als Gymnasiast für die Ideen des Schweizer Volkspädagogen Heinrich Pestalozzi (1746–1827), dessen Schriften im Unterricht behandelt wurden. Auch hier trifft die Betonung des muttersprachlichen Unterrichts bei Schmeller „auf offene Ohren. Er begriff, dass Sprache zu einem sozialpolitischen Sprengstoff instrumentalisiert werden konnte“ (54). Winkler stellt dann vier Leitbegriffe der Aufklärung vor, die Schmellers weiteres Leben prägen sollten: Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Gerechtigkeit (69–70).
Sein Leben lang wichtig waren für Schmeller auch die engen Freundschaften, die er als Schüler in München schloss – diese werden in Kapitel IV („Eigene Wege zwischen Wunsch und Wirklichkeit (1803–1804)“) vorgestellt. Auch im späteren Leben machte er gute Freunde – dazu gehören der Engländer Richard Cleasby, der Botaniker Carl Friedrich Philipp von Martius, und andere bekannte Gestalten Münchens in seiner Zeit ( 206–212, 272–275); Martius schreibt nach Schmellers Tod, Schmeller sei „von einer seltenen, ja staunenswerthen Vortrefflichkeit … Er war mein bester, mein redlichster Freund“ (338). Ein weiteres Thema des IV. Kapitels ist Schmellers pädagogische Erstlingsschrift „Über Schrift und Schriftunterricht“, mit deren Hilfe er sich eine Anstellung bei Heinrich Pestalozzi in der Schweiz erwünscht. Nach der Zerschlagung dieser Hoffnung berichtet Kapitel IV („Spanisches Abenteuer (1804–1808)“) vom Militärdienst in Tarragona, dem Heimweh und dem „trostlosen Soldatenalltag“, dann von der „Befreiung“, als er zuerst in einer Regimentsschule, dann am Real Instituto Militar Pestalozziano in Madrid schließlich doch als Lehrer arbeiten kann. Hier wie bei seiner pädagogischen Tätigkeit an verschiedenen Instituten in der Schweiz, einem der Themen von Kapitel VI („Orientierungssuche in der Schweiz (1808–1813)“) wird ihm die Kluft zwischen aufgeklärter Pädagogiktheorie und dem oft harten Schulalltag immer stärker zur Last. Doch nach dem überlieferten Bericht eines Schülers, den Winkler zitiert, muss er ein inspirierender Lehrer gewesen sein (113). In der Schweiz fand er bei August Hopf, seinem Partner an einer Schule in Basel, und dessen Frau Maria, auch Familienanschluss. Zu Maria, so erfahren wir, aber erst auf Seite 278, hatte Schmeller eine starke Zuneigung.2 In seiner Schweizer Zeit versuchte sich Schmeller auch als Dramatiker. Winkler unterzieht Schmellers Dramen einer kritischen Analyse (126–127). Sein Fazit: „Obwohl er dramatisch fruchtbare Motive bemühte […] gelang es ihm nicht, diese wirkungsvoll dramaturgisch umzusetzen. […] Man sollte Schmellers dramatische Arbeiten weniger unter dem Aspekt des poetischen Kunstwerks beurteilen, vielmehr als Akte einer inneren Befreiung und Selbsttherapie.“ (127) Vor allem aber beginnt Schmeller in der Schweiz ernsthaft mit dem Studium von Sprache und Sprachen, für die er sich bald begeistert: „Die Worte sind mein Grund und Boden.“ (ebd.) Zurückgekehrt nach Bayern diente Schmeller im Heer (Kapitel VII „Oberlieutenant in bayerischen Diensten (1814–1815)“); typisch für Schmeller, trieb er auch während des Feldzugs in Frankreich Sprachforschungen (152).
Nach München zurückgekehrt, beginnt die prekäre Phase von Schmellers Leben, aber auch die Arbeit an seinem Meisterstück, dem „Bayerischen Wörterbuch“ (in erster Auflage 1827–1837)3; wie er zu dem Auftrag kam, erzählt Kapitel VIII „Das ‚Bayerische Wörterbuch‘: dem einfachen Volk seine Würde zurückgeben“). Das Projekt war an der Akademie der Wissenschaften angesiedelt, Schmeller selber vom Militärdienst nur vorübergehend zurückgestellt. Winkler unterzieht das Wörterbuch einer (angemessen positiven) kritischen Würdigung und stellt Schmellers soziale und pädagogische Zielsetzungen gebührend in den Vordergrund. Prägend waren diese bei allen seinen Mundartstudien. Das folgende Kapitel (IX „Schicksalhafte Jahre (1816–1830)“) ist eher seinem Privatleben gewidmet, dem Vaterdasein, seinen Freunden und engen Kollegen, seinen finanziellen Nöten. In Kapitel X („Unter Philologen (1821–1852)“) werden seine Beziehungen zu den Fachkollegen erläutert, insbesondere zu Jakob Grimm. Trotz aller Achtung, die er sich in der Fachwelt erworben hatte, trotz einer Honorarprofessur (Schmeller war der erste Dr. phil. und der erste Professor für Germanistik an der neu nach München verlegten Ludwig-Maximilians-Universität) war seine wirtschaftliche Existenz prekär; immer wieder drohte die Rückversetzung in den aktiven Dienst. Die Erlösung aus der Not bietet dem 43-Jährigen die Anstellung als Bibliothekar (Kapitel XI „Der Bibliothekar (1829–1852)“). Die Aufstellung und Katalogisierung der vielen Handschriften, die nach der Säkularisation aus den Klosterbibliotheken nach München gekommen waren, ist eine seiner größten wissenschaftlichen Leistungen. Gerade die Katalogarbeit kostete Schmeller, wie Winkler anschaulich zeigt, nicht geringe Mühe.
Kapitel XII „Sein Dasein rechtfertigen (1830–1847)“ blendet die Zeitläufte wieder ein – König Ottos Aufbruch nach Griechenland, Schmellers Familienpflichten, den Kollegenkreis und Schmellers Reisen, seine Tätigkeiten an der Akademie der Wissenschaften, die neben der Bibliothek zu seiner eigentlichen wissenschaftlichen Heimat geworden war, und der Universität. Seine sprachliche Kreativität leitet Winkler zum Teil aus der Beschäftigung mit der Volkssprache ab; es „bereitete […] ihm regelrecht Lust, die trockene Gelehrten- und Wissenschaftssprache anschaulich zu beleben, Gedankliches mit Bildlichem kreativ zu verbinden und dem Leser etwas Überraschendes, Neues, vor Augen zu stellen“ (284). Ein ganzes Kapitel ist Schmellers Herausgebertätigkeit gewidmet (XIII „Die großen Editionen“). Hier könnte man auch auf seine Glossensammlungen hinweisen, die nach der Darstellung Franz Xaver Scheurers4 für Elias von Steinmeyer und Eduard Sievers, die schließlich eine Edition herausbrachten5, eine wesentliche, nicht gebührend dargestellte Vorarbeit waren.
Das vorletzte Kapitel trägt den Titel „Die letzten Jahre (1847–1852) Leiden am Dasein“. Im Herbst 1847 stürzte Schmeller während einer Wanderung am Jaufen und erlitt einen zu spät richtig erkannten Oberschenkelhalsbruch. Seitdem war seine Beweglichkeit eingeschränkt. Die Lola-Montez-Affäre und das Frankfurter Parlament von 1848 erlebte er nur vom Krankenbett aus. Die letzte Phase seines Lebens trägt in Winklers Darstellung den Untertitel „Resignation und Haltung“. Er resümiert (325): „Mit fortschreitendem Alter war Schmellers Glauben an eine von Vernunft geleitete humane Welt brüchig geworden.“ Schmeller starb 1852 an der Cholera.
Nach der Schilderung des Lebenslaufes fügt Winkler noch ein letztes Kapitel (XVI) hinzu: „Schmeller – eine Annäherung“. Themen hier sind zunächst die Bildnisse von Schmeller, sein autobiografisches Gedicht „Er bleibt des Kürbenzäuners Sohn“, zwei Nachrufe und die Rezeption seiner wissenschaftlichen Arbeiten. Es folgt der Versuch eines Resümees; unter der Zwischenüberschrift „Weltbegegnung“ (339–344) werden Schmellers Charakterzüge zusammengefasst; in einigen Punkten, so Winkler, erkennen wir neben der starken Prägung durch die Aufklärung auch eine Nähe zu Zeitströmungen der Romantik, zum Weltbild des Biedermeier, zum Realismus. „Doch […] lässt sich Schmeller nicht ausschließlich einer bestimmten weltanschaulichen Richtung zuordnen. Zu vielschichtig, ja ambivalent offenbart sich seine Persönlichkeit.“ (342) Es ist Winklers Verdienst, diese Vielschichtigkeit übersichtlich und nachvollziehbar dargestellt zu haben.
Im abschließenden Anhang befinden sich eine Zeittafel, ein Verzeichnis der verwendeten Quellen sowie der Schriften Schmellers und ein Personenverzeichnis.
Kritisch könnte gelegentlich eingewandt werden, dass Personen oder Vorgänge im Text erwähnt sind, die erst später ausgeführt werden – Schmeller beklagt etwa, so lesen wir auf Seite 145, „Voitels schweres Schicksal“. Welches Schicksal sein Freund aus spanischen Tagen erlitten hatte, erfahren wir aber erst auf den Seiten 277 und 279–280. Winkler stellt Schmellers Hausnamen Roun (28) zur Dialektaussprache des Worts Rain; der Rezensent war immer der festen Überzeugung, es sei eine Form von rot in mundartlicher Aussprache.
Diese kritischen kleinen Pflichtübungen des Rezensenten schmälern in keiner Weise den Wert von Winklers Biografie. Dem Rezensenten sind keine Druckfehler aufgefallen. Das Werk ist flüssig, lesbar und gut gegliedert geschrieben. Der Rezensent, der von sich glaubte, Schmeller gut zu kennen, hat aus Winklers Buch neue Einsichten gewonnen und neue Seiten von Schmeller kennengelernt.
Anmerkungen
1 Paul Ruf: Schmellers Persönlichkeit. In: ders. (Hg.): Schmeller Tagebücher. Bd 1. München 1954, S. 1*–86*, hier S. 28*–29*.
2 Vgl. Robert Hinderling: Schmeller und die Schweiz. In: Jahrbuch der Johann-Andreas-Schmeller-Gesellschaft 1981. Tirschenreuth 1982, S. 1–20, hier S. 11–12.
3 Johann Andreas Schmeller: Bayerisches Wörterbuch. 3 Bde. Augsburg 1827–1837. (2., von G. Karl Frommann bearbeitete Auflage. 2 Bde. München 1872–1877.)
4 Franz Xaver Scheurer: Zum philologischem Werk J.A. Schmellers und seiner wissenschaftlichen Rezeption. Eine Studie zur Wissenschaftsgeschichte der Germanistik. Berlin, New York 1995, S. 109–112.
5 Elias von Steinmeyer u. Eduard Sievers (Hg.): Die althochdeutschen Glossen. 5 Bde. Berlin 1879.