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Claudia Selheim (Hg.)

Mikrowelten Zinnfiguren. Die Sammlung Alfred R. Sulzer. Begleitband zur Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum vom 9. Mai 2024 bis 26. Januar 2025

Nürnberg 2024, Germanisches Nationalmuseum, 287 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-946217-38-1


Rezensiert von Sybe Wartena
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 28.10.2025

Das Germanische Nationalmuseum (GNM) in Nürnberg würdigte 2024 mit einer sehr erfolgreichen kleinen Ausstellung und dem vorliegenden Begleitband die bedeutende Zinnfigurensammlung des Schweizer Industriellen und Kulturmäzens Alfred R. Sulzer (*1948), die 2019 als Schenkung an das Museum gelangt war. Das Thema Zinnfiguren liegt sicherlich nicht von vorneherein im größten Fokus des öffentlichen Interesses und so war das Autoren- und Kuratorenteam herausgefordert, seine aktuelle Relevanz herauszustellen – welches ausgezeichnet geglückt ist. Der Wert der Zinnfiguren als Quelle für und ihre Konnotationen mit einer ganzen Reihe aktueller Themen wird gezeigt (darunter Industrie-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Geschichte der Pädagogik, Militarismus, Kolonialismus). So wird der Band wissenschaftlichen Ansprüchen genauso gerecht wie denen von Sammlern. Die hohe Wertschätzung, die letztere den empfindlichen Figuren entgegenbringen, scheint sich auch in der Ausstattung des Buchs widerzuspiegeln, denn diese ist mit einem dezent perlmuttschimmernden Einband, hervorragenden Fotos und großformatigen Abbildungen eine gehobene.

Die Kuratorin und Herausgeberin Claudia Selheim widmet das erste Kapitel, „Ortswechsel. Die Zinnfigurensammlung Alfred R. Sulzer auf dem Weg ins Germanische Nationalmuseum“ der Persönlichkeit des Sammlers, dem Werden seiner Sammlung und seiner Bedeutung für die Erforschung und Ausstellungen zum Thema – nicht ohne eingangs auf die Rolle des GNM in der musealen Geschichte der Zinnfigur einzugehen, die 1875 mit den ersten Exemplaren in der Sammlung begann, und 1924 mit einem ersten Standardwerk zu Zinnfiguren vom zweiten Direktor Theodor Hampe einen wichtigen Stand erreicht hatte. Hampe, sein Werk und besonders dessen Entstehungsgeschichte stellt Selheim im dritten Kapitel, „Theodor Hampe und ‚Der Zinnsoldat‘. Ein Museumsdirektor und sein Standardwerk“ vor, und entfernt sich damit von der eigentlichen Sammlung. Dargelegt wird die Prägung des Germanisten und Kunsthistorikers Hampe, von Interesse besonders sein intensiver Kontakt zu einem bedeutenden Leipziger Zinnfigurensammler. Schon Hampe stellte eine Zweiteilung der Welt der Sammler fest: die Freunde der historischen oder „museologischen“ Zinnfigur, deren Interesse den Figuren als historisches Dokument und den Herstellern gilt, gegenüber den Sammlern der „kulturhistorischen“ Figur, die sich mehr dem Bau von Dioramen und Nachstellen historischer Begebenheiten widmen und dafür auch neue Figuren nutzen oder solche, die sie, historisch getreu zum Beispiel nach Uniformkunden, selbst bemalen. Letztere fühlten sich von Hampe als unseriös verunglimpft.

Doch zurück zu Alfred R. Sulzer. Der 1948 Geborene lernte schon als kleiner Junge in beiden Großelternhäusern historische Zinnfiguren kennen, wobei er im einen das Phänomen erfuhr, dass die kleinen Kostbarkeiten nur unter Aufsicht und mit größter Vorsicht angeschaut und aufgestellt werden durften, während die anderen Großeltern alles frei gaben. Mit zwölf Jahren schon dezidiert für Zinnfiguren begeistert, begann er mit 14 aktiv im Antiquitätenhandel Figuren zu kaufen, ab dem Alter von 16 Jahren auf bedeutenden Auktionen, wo er schon bald einer der wichtigsten Akteure wurde. Schon früh war seine Sammelstrategie auf Qualität der Figuren, gute Bemalung im Originalzustand, originale Verpackungsschachteln und das Optimieren und Vervollständigen seiner Bestände ausgerichtet, welches implizierte, dass bei Doubletten die schlechtere verkauft oder getauscht werden konnte. Inhaltlich galt sein Interesse den Herstellern, den Abhängigkeiten von Figurenserien verschiedener Offizinen (wie die herstellenden Betriebe genannt werden) untereinander, Zuschreibungen und den dargestellten historischen Begebenheiten. Diese Ausrichtung schlägt sich in seinen Publikationen ab 1971 nieder, die oft begleitend zu Ausstellungen entstanden, zu denen Sulzer immer wieder Teile der Sammlung zur Verfügung stellte. Zugleich war er eine der Stützen des von 1985 bis 2005 bestehenden Schweizerischen Zinnfigurenmuseums in Zürich und des Vereins Figurina Helvetica. Nach dessen Auflösung 2005 und dem Scheitern der Versuche einer neuen Museumsgründung mit einem anderen schweizerischen Sammlerehepaar wurde die Schenkung an das GNM 2019 besiegelt. Die weiterführende wissenschaftliche Erforschung der über 145.000 (!) Figuren und die Ausstellung wurden durch eine 2023 erfolgte Erbschaft zu Gunsten der „Stiftung Zinnfigurensammlung Alfred R. Sulzer“ möglich.

Die weiteren zwölf Kapitel lassen sich ganz grob drei verschiedenen Bereichen zuordnen. Am nächsten an der einleitenden Darstellung des Sammlers und der Sammlungsgeschichte sind zwei Kapitel, die die früheren Eigentumsverhältnisse von Teilen der Sammlung, also deren Provenienz, beleuchten. Dass dieses Feld zur Zeit im Fokus der Museumsarbeit steht und das Interesse hier viel tiefer geht als bei den meisten Sammlern, kann nicht verwundern. So werden in Kapitel 2 „Wiedervereint. Die Sammlung Körting in der Sammlung Sulzer“ von Martin Schabenstiel wesentliche Erkenntnisse zu einem wichtigen geschlossenen Teilbestand der Sammlung dargelegt: Über 15.500 Figuren Hannoverisches Militär mit Mitgliedern des Hannoverischen Fürstenhauses in Uniform, von denen 550 Hauptfiguren 1949 aus dem Besitz des von dort stammenden Industriellen Johannes Körting an Prinz Ernst August IV. von Hannover ging, der Rest 1985 an Sulzer, der schließlich 2005 auf einer Auktion auch die 550 Figuren aus dem Fürstenhaus erwerben konnte. Erkannt wurde die Zusammengehörigkeit erst im Rahmen der Erforschung im GNM. Neben der bloßen Eigentumsfrage sind die sozialgeschichtlichen Konnotationen hier eine Bereicherung. In Kapitel 6, „Spiel-Zeugen. Sachlich und lebendig“, untersucht Claudia Selheim die Objekt-Biografie einer anderen Serie (Festsaal im Leineschloss) aus dem Besitz des Fürstenhauses Hannover, die schon im 20. Jahrhundert Teil des Hannoverschen Hausmuseums gewesen war und von Sulzer 2005 auf derselben Auktion wie das Militär erworben wurde. Daneben verfolgt sie einen zweiten Teil der Sammlung Sulzer, den Zinnfigurenbestand einer wohlhabenden Zürcher Patrizierfamilie über Generationen. Ferner werden literarische Quellen zum Kinderspiel mit Zinnfiguren ausgewertet.

Der zweite Bereich, dem mehrere Kapitel gewidmet werden, sind Technik- und Wirtschaftsgeschichte (Kapitel 4: Sabine Tiedtke: „Vom Rohmetall zur Figur. Technik und soziales“; Kapitel 5: Marion Faber: „Nürnberg und Fürth. Zentren des weltweiten Zinnfigurenhandels“). Dargestellt werden: die Herausbildung der Zinnfigurenproduktion von einem Nebenprodukt der Zinngeschirrgießerei zu einem eigenen Gewerbe im 19. Jahrhundert, der Jahresbedarf der größeren Nürnberger Offizinen an Zinn von 30 Tonnen für vier Millionen Figuren, die Herstellung der Formen, bis hin zur zeitgenössischen Kritik an den Arbeits- und Lebensbedingungen der schwächsten Glieder in der Wertschöpfungskette, nämlich Zuchthäuslern oder Frauen und Kindern, die in Heimarbeit die Figuren bemalten, welche für ihre Schicht unerschwinglich waren. Voraussetzung für die besondere Rolle der Nürnberger Region in der Produktion und im Handel mit Zinnfiguren war deren Rang als Zentrum von Handel und Gewerbe. Nürnbergs Metallindustrie war schon im Mittelalter führend. Im 17. Jahrhundert wurden Spielzeug, „Nürnberger Waren“ und „Nürnberger Tand“ weltweit exportiert. In Fürth erlebte das Zinnfigurengewerbe dank liberaler Wirtschaftspolitik und geringem Einfluss der Zünfte Ende des 18. Jahrhunderts einen Aufschwung. Fürth produzierte die Figuren, deren Popularität in genau dieser Zeit einen Aufstieg erlebte, noch billiger als Nürnberg. Zunächst lief der Absatz über die Nachbarstadt, doch entwickelte sich im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts in Fürth selbst der Großhandel, meist in Händen jüdischer Kaufleute. Neben den wichtigen Offizinen Hilpert in Nürnberg und Lorenz in Fürth werden Handelsfirmen mit interessanten Strukturen vorgestellt: „Nürnberger Läden“, wie der in Berlin, der um 1790 mit teilillustrierten (Bestell-)Katalogen arbeitete, oder das Unternehmen des Nürnbergers Georg Hieronymus Bestelmeier (1764–1829), das von 1793 bis 1829 einen voll-illustrierten Bestellkatalog mit zuletzt 1350 Artikeln betrieb, darunter ab 1797 Nürnberger und Fürther Zinnfigurenserien. Die Gesamtgröße des Wirtschaftszweigs wird deutlich in der Zahl von 25 Händlern in Fürth, 100 in Nürnberg bei Ende der Napoleonischen Kriege. Erläutert werden unterschiedliche Modelle, wie einerseits Fabrikanten mit eigenem Absatznetz, andererseits Großhändler, die zugleich als Verleger auftraten, kleine Betriebe beschäftigten und international Bestellungen aufnahmen. Dies begünstigte Plagiate nach beliebten Serien der bedeutenden Offizinen.

Alle weiteren Kapitel widmen sich der Seite der Konsumenten, und hier besonders der Rolle der Zinnfiguren in der Erziehung der Kinder.

Kapitel 7, „Anschauen und (be)greifen. Zinnfiguren als Erziehungs- und Lehrmittel“ (Claudia Selheim) stellt etliche Serien mit konkretem pädagogischem Ziel vor, die meist mit Begleitheftchen versehen waren aus denen Eltern oder ältere Geschwister vorlesen, größere Kinder selbst lesen konnten. Hier wurden Märchen, Kinder- und Jugendliteratur, Kurzfassungen literarischer Klassiker, Inhalte des Geschichtsunterrichts, wie das Römische Heer, Kreuzzüge, Expeditionen oder die alltägliche Lebenswelt von der Feuerwehr bis zu Haushaltstätigkeiten angeboten, teilweise mit szenografisch dekorierten Verpackungen.

Um spielerisches Erlernen gesellschaftlich-kultureller Kompetenzen geht es in Kapitel 8, „Vergnügungen aus der Schachtel. Bürgerliche Unterhaltungs- und Festkultur im Kleinformat“ (Christin Fleige). Angeboten wurden Serien, mit denen die Kinder des wohlhabenden Bürgertums an klassenspezifische Freizeitbeschäftigungen herangeführt werden konnten, wie der Parkspaziergang, Wintervergnügen und Eisbahn, Jahrmarkt und Schaustellerei oder der Badetourismus. Andere Serien griffen die aufkommende Kultur von Denkmälern auf, „historische“ Festumzüge, patriotisch interpretierte historische Themen wie die „Geschichte der Volksbewaffnung in lebenden Bildern“ (168) und zielten auf die Förderung einer staatsbürgerlichen Erziehung.

Kapitel 9, „Die Zinnfigur im Eisenkleid. Ritterliches zwischen Romantik und Historismus“ (Martin Schabenstiel) lenkt den Blick verstärkt auf das romantisch und nationalistisch verklärte Mittelalter. Das Besondere forscherische Interesse Sulzers, die Händescheidung, wird mit Analysen von Original und Kopie bei erfolgreichen Ritterserien konkurrierender Offizinen vertieft. Ein Schlaglicht fällt zudem auf den Werdegang des für Ritterfiguren wichtigen Graveurs und später Offizin-Inhabers Ernst Heinrichsen, der 1826 aus Schlesien in Nürnberg zuwanderte und zunächst in der dortigen Offizin Ammon arbeitete.

Im 10. Kapitel, „‚Ein fürchterliches Morden‘. Zur Rezeption des Spiels mit Zinnsoldaten“ (Susanne Thürigen) wird der Blick auf zeitgenössische militärische Belange gerichtet. Verstärkt wurde das Interesse an Zinnsoldaten durch Praktiken wie das Heldengedenken, das spezielle Interesse für bestimmte Schlachten oder Operationen oder bestimmte Kriege. So ließ der Krimkrieg 1853–1856 die Konjunktur der Zinnsoldaten erstmals bedeutend ansteigen, während in der Biedermeierzeit nicht-militärische Themen dominiert hatten. Der deutsch-französische Krieg 1870/71 beförderte das Interesse weiter, mit dem Ersten Weltkrieg hingegen war die Hochzeit der Zinnsoldaten an ihr Ende gekommen: Triumphe reizten zum Nachspielen, nicht aber ein verlorener Krieg. Ebenso wichtig war der Wegfall der vorwiegend angelsächsischen, nun feindlichen Exportmärkte, und auch Details wie der Attraktivitätsschwund durch das Ende der bunten Uniformen oder Materialmangel trugen zum Niedergang bei.

Dem Themenkomplex Kolonialismus sind gleich zwei Aufsätze gewidmet: „Ferne Kriege. Kolonialpolitik im Spiegel der Zinnfigur“ (Martin Schabenstiel) und „Empire spielen mit Zinnfiguren: Kolonialpropaganda im Miniaturformat“ (Jeff Bowersox u. Joachim Zeller), wobei der erste (Kapitel 11) eine nüchterne Bestandsaufnahme ist und die Abbildung der Kolonialisierungen im 19. Jahrhundert aber auch die weit zurückliegende Eroberung Mexikos in Zinnfiguren beschreibt. Deutlich wird, dass neben dem Reiz an Abenteuer, Pioniertaten und Exotismus die Sympathien in Deutschland bis zur eigenen Rolle als Kolonialmacht oft auf Seiten der vom gemeinsamen Feind Frankreich – oder auch Großbritannien – unterjochten „Edlen Wilden“ lagen und erst mit der in Besitznahme Kameruns 1884 eine rassistische Perspektive sich durchsetzte. Der zweite Beitrag betrachtet den Kolonialismus aus der Perspektive des Jahres 2024 und aktueller Diskurse. Dabei werden Parallelen zwischen Zinnfiguren und Gattungen wie Sammelbildchen oder Buchillustrationen gezogen: dargelegt werden die Phänomene der Erziehung zu einem Weltbild weißer Überlegenheit, welche die Kolonien zivilisiert und fruchtbar macht und nötigenfalls Widerstand von „Eingeborenen“ zerschlagen muss, zugleich die latente Angst vor den physisch und zahlenmäßig stärkeren „Wilden“ oder deren Lächerlichmachung. Mit einem bisweilen anklagenden Ton setzt das Kapitel innerhalb des Buches einen deutlichen Akzent, der vermutlich die Erwartungen überraschen dürfte, wenn der Tenor früherer einschlägiger Literatur als Maßstab gilt. Doch ist es unbedingt zu begrüßen, dass diese Sichtweise einbezogen wurde, zumal bei einem Buch zu einer Ausstellung, die ein breites und modernes Publikum ansprechen will.

Kapitel 13, „Majestäten in Zinn und Blei. Zur Darstellung königlicher Großereignisse“ (Thomas Aufleger), ist den Zinnfigurenserien gewidmet, welche die im 19. Jahrhundert neu entstandenen öffentlichen, auf die Untertanen gerichteten Auftritte darstellen: In erster Linie Krönungsmessen, Hochzeiten, Militärparaden, die Eröffnung des Englischen Parlaments, die Londoner Weltausstellung von 1851, die Ausfahrt Kaiser Wilhelms I. oder ein Britisch-Indisches „Krönungsdurbar“: solche Szenen werden ihren historischen Vorlagen teils auf den Tag genau zugeordnet.

Der letzte Abschnitt, „Das Spiel mit dem Ruhm. Der Mythos Napoleon in Papier und Papiermaché“ (Martin Schabenstiel), verlässt das Material Zinn und wendet sich billigeren Soldatenfiguren zu. Silhouettenfiguren aus Papier oder dünner Pappe wurden ab den 1830er Jahren in Straßburg produziert und stehen für die Rehabilitation Napoleons im öffentlichen Geschichtsbild Frankreichs. Sie bilden zusammen mit Papiermaché-Figuren aus dem thüringischen Sonneberg einen Nebenschauplatz in der Sammlung Sulzer. Es geht wieder ausschließlich um militärisches, vorwiegend aus den Napoleonischen Kriegen. In der Entstehungszeit sind zwischen Produkten für den französischen wie für den deutschen Markt unterschiedliche Zielrichtungen fest zu stellen: während in Frankreich die napoleonischen Armeen verherrlicht wurden, galten in Deutschland die Sympathien deren Gegnern. Einen wichtigen Aufschwung hierfür löste das 50-jährige Gedenken der Leipziger Völkerschlacht von 1813 aus.

Publikationen zu Zinnfiguren haben einen Schwerpunkt in den 1970er und 1980er Jahren. Seitdem gab es wenige, dann aber meist profunde Neuerscheinungen. Hier ragt das Werk des Germanischen Nationalmuseums zur Sammlung Sulzer in Qualität und Aufmachung besonders hervor.