Aktuelle Rezensionen
Jessica Ullrich/Mieke Roscher (Hg.)
Tiere und Geschlecht
(Tierstudien 24), Berlin 2023, Neofelis, 198 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-95808-424-7
Rezensiert von Ingrid Bennewitz
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 28.10.2025
Mit dem nunmehr schon 24. Band der von ihr herausgegebenen Reihe „Tierstudien“ legt Jessica Ullrich, hier in Zusammenarbeit mit Mieke Roscher, eine Sammlung von Untersuchungen zum Thema „Tiere und Geschlecht“ vor. Auch wenn sich die (Human) Animal Studies seit geraumer Zeit im methodischen Repertoire der Kulturwissenschaften einen festen Platz erobert haben, ist man gespannt auf die vorgelegten Untersuchungen zur „Performativität von Geschlecht in tierlichen und tierbezogenen Praktiken“ (8) und die Frage nach den „vergeschlechtlichten Beziehungen von Menschen zu anderen Tieren, aber auch anderer Tiere untereinander“ (ebd.) und deren spezifischer Dynamik, die zweifellos wesentliche Aspekte der aktuellen Debatte widerspiegeln. Dass auch der Übertragung von Gender- und Intersektionalitätsdiskursen der Gegenwart auf die Tierwelt letztlich das Defizit einer „Rückprojektion menschlicher Vorstellungen auf die Tierwelt anhaftet“ (ebd.), ist letztlich unvermeidbar, ebenso wie das Bewusstsein für die Gefahr der Essentialisierung von Geschlecht bei der Beschreibung von Tieren (11).
Die durchgehend interessanten aber teils auch etwas disparat wirkenden Einzelstudien ordnen die Herausgeberinnen dankenswerterweise vier Themenfeldern zu, was deren Rezeption jedenfalls erleichtert. Thematisch zentriert sind sie um die Kategorie Geschlecht: „Geschlecht als Transformation“ (23–60), „Geschlecht als Sozialisation“ (61–84), „Geschlecht als Anpassung“ (85–122) und „Geschlecht existenzialistisch“ (123–152).
Das erste Kapitel gilt „historischen Konstellationen“ und versammelt Beiträge zu „männlichen und weiblichen Zibetkatzen und andere[n] Spezies im 17. Jahrhundert“ (Sarah-Maria Schober), zu „Geschlechterkonstellationen in der höfischen Falknerei“ (Nadir Weber) und zu Christine de Pizan als „Dichterin mit Hund“ (Philine Helas). Hier hätte man sich etwas mehr historische Tiefenschärfe gewünscht, zumal die Animal Studies gerade von mediävistischer Seite intensiv rezipiert wurden. Ein wenigstens partieller historischer Rückbezug hätte sich etwa im Bereich der höfischen Falknerei angeboten, dem in Literatur, Kunst und im höfischen Alltag schon des Mittelalters eine zentrale Rolle zukommt: Erinnert sei nur etwa an die Gattung der Falkenlieder, die Bilddarstellungen im Codex Manesse oder Kaiser Friedrichs II. Manuale zur Falkenzucht. Dass ausgerechnet der berühmteste und zugleich fatalste Beleg zur Aktivität adeliger Frauen im Rahmen der höfischen Falkenjagd fehlt – der tödliche Jagdunfall Marias von Burgund, der ersten Gemahlin Kaiser Maximilians I. –, erstaunt ein wenig. Auch für die Darstellung von (großen und kleinen) Hunden und den Bildtypus „Dichter bzw. (ritterlicher) Sänger, Dame und Hund“ liefert zum Beispiel der Codex Manesse umfangreiches Belegmaterial, und nichts zeigt die Intensität der Beziehung von Frauen und Hunden deutlicher als ihre Diskreditierung als moralisch verwerflich schon in der didaktischen Literatur des 14. und 15. Jahrhunderts.
Im zweiten Kapitel („Von Tieren lernen. Geschlecht als Sozialisation“) stehen Fragen der Historizität von Geschlecht auch bei Tieren im Mittelpunkt (z. B fragt Aline Vogt: „Haben Tiere ein Geschlecht, und wenn ja, wieviele“, 62–70), daneben aber auch spezielle Tier-Mensch-Beziehungen wie „Mädchen und Pferde“ (Annette Schnabel u. Alexandra König, 71–84), basierend auf einer Untersuchung der Zeitschrift „Wendy“ mit Blick auf Donna Haraways Konzeption des „companion animal“, wobei sich zumindest Zweifel hinsichtlich der Verallgemeinerbarkeit der Aussagen aufgrund des schmalen Untersuchungskorpus aufdrängen.
Das dritte Kapitel widmet sich – möglicherweise so unerwartet – Fragen von „Queering, Queerness, Mimikry“ (85–122), konkret „Queering Bulldogs“ (Christiane Keim u. Astrid Silvia Schönhagen), „Hysterische(n) Hühner(n)“ (Max Böhner) und dem „Wachstum von Fischen im Klimawandel“ (Johannes Müller). Hinter den etwas „schrägen“ Titeln verbergen sich Studien zur „queeren Performance“ von Mensch und Hund im Berlin der 1920er und 1930er Jahre, zum Huhn in Kunst und Film zwischen Stereotypen und Queerness sowie ein Plädoyer zur Anerkennung der „Verschiedenartigkeit“ und der „Plastizität phänotypischer Geschlechterunterschiede und Fortpflanzungsstrategien“ (120), insbesondere mit Blick auf den Klimawandel.
Der vierte Abschnitt geht unter der altbekannten Frage „Gegen die Natur?“ der Existenz von homosexuellen Kontakten unter Tieren nach (Volker Sommer, 123–132), ebenso wie dem derzeitigen „Diskurs um Zoosexualität“ (Julia Kaiser, 133–142) und der „speziesübergreifende(n) Homosexualität“ im 2004 erschienenen Roman „Doppler“ des norwegischen Autors Erlend Loe (Maja Martha Ploch, 143–152).
Künstlerische Positionen zum Thema „Tiere und Geschlecht“ bilden den Schluss des Bandes und bieten nicht zuletzt mit zahlreichen Abbildungen einen Einblick in die aktuellen Diskurse der Kunst.
Fazit: Der vorliegende Band bietet eine Fülle von anregenden Einzelstudien, die auch jenen interessante und teilweise neue Einblicke jenen erlauben, die sich bestens mit der Materie auskennen, gerade weil eine Vielzahl ganz unterschiedlicher Aspekte angesprochen wird. Aus dem gleichen Grund eignet er sich weniger für einführende Lektüren zu den Human Animal Studies.