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Peter Schäfer

Die Schlange war klug. Antike Schöpfungsmythen und die Grundlagen des westlichen Denkens

(Edition der Carl Friedrich von Siemens Stiftung), München 2022, Beck,  447 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-406-79042-3


Rezensiert von Wolfgang Brückner
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 29.10.2025

Der Autor Peter Schäfer war an der Freien Universität Berlin und an der Princeton University in den USA Professor für Judaistik, vor allem aber war er von 2014 bis 2019 Direktor des Jüdischen Museums in Berlin. Das Inhaltsverzeichnis verrät in seinen Hauptüberschriften den Gang seiner Argumentationen über die Entstehung von Schöpfungsmythen: 1. Die Hebräische Bibel: Zwei Urgeschichten. 2. Altorientalische Epen: Grausame und gleichgültige Götter. 3. Platon: Die Vergöttlichung des Kosmos. 4. Aristoteles: Die Entgöttlichung des Kosmos. 5. Philon: Der jüdische Platon. 6. Von Demokrit zu Lukrez: Natur ohne Götter. 7. Das Rabbinische Judentum: Vom Mythos zur Geschichte. 8. O Felix Culpa: Fluch und Segen der Vertreibung aus dem Paradies. 9. Epilog.

In diesem Nachwort referiert er nochmals kurz die Christentumsgeschichte der Erbsündelehre und deren Folgen für das „westliche“ Denken. Im Haupttext geht es um Theorien der Entstehung der Welt und des Menschen. Der Sündenfall im Paradies erscheint dadurch als eine christliche Erfindung, während die jüdische Tradition sagt: Die Schlange war klug. Der Mensch ist frei.

Deshalb beginnen die Hauptuntersuchungen mit der Hebräischen Bibel, der Torah, oder christlich formuliert den Büchern des Mose im Alten Testament. Das erste Kapitel referiert ausführlich den Forschungsstand der einschlägigen Fachleute aller Konfessionen. Diese halten den zweiten Schöpfungsbericht des „Jahwisten“ für älter als den ersten des sogenannten Weisheitslehrers, weil die altorientalischen Erzähldetails Mesopotamiens immer wieder durchschlagen, voran die Kenntnis des Gilgamesch-Epos, auch im weiteren Verlauf der Genesis mit dem Bericht über eine Sintflut und den Bau einer Arche. Die göttliche Erschaffung der Welt war offenbar nicht so gut, wie im ersten Bericht belobigt. Der Schöpfer musste sozusagen umsteuern, um einen neuen Beginn für eine neue Menschheit zu schaffen. Er hatte zunächst mit dem ersten Menschenpaar in einem eigens geschaffenen Garten Eden als darüber schwebender Ruach (Atem) zusammengelebt, wo er Bäume mit Früchten wachsen ließ wie bei altorientalischen Herrschern in deren Luxusgärten. Im Legendarischen ist daraus das Paradies geworden, doch der zentrale Baum der Erkenntnis und des Lebens stammt erst aus späteren Redaktionen. Der dort präsente Mensch, Adam, wird nicht „vertrieben“ oder strafversetzt, sondern ins reale Leben zwischen Himmel und Erde, in Raum und Zeit entlassen. Seine „Gottesebenbildlichkeit“ entspricht den Götterstatuen in den besagten Gärten. Sie lässt ihn frei sein für gut und böse, für richtig und falsch. Die Schlange hatte die Wahrheit gesagt. Die patriarchalische Familienordnung ist erst eine Folge der neuen gesellschaftlichen Wirklichkeit.

Diese „Rückkehr der altorientalischen Mythen“ in Forschung und Allgemeinwissen führte in Deutschland unter dem Stichwort „Babel gegen Bibel“ zu großen intellektuellen Verwerfungen. Der Autor verweist auf deren Details (77–81) und schließt an mit „2. Altorientalische Epen: Grausame und gleichgültige Götter“. Die im 19. Jahrhundert aus Keilschriftüberlieferungen Mesopotamiens bekannt gewordenen Texte der Weltliteratur wie das „Gilgamesch-Epos“ werden ausführlich erörtert und die Beziehungen zur Hebräischen Bibel benannt, vornehmlich die Sintfluterzählung als ältestes Überlieferungsmotiv. „Das Babylonische Exil, der Dreh- und Angelpunkt der Bibel, war eine Folge der aggressiven Eroberungspolitik der Babylonier und brachte die nach Babylon und andere Teile des neubabylonischen Reiches exilierten Juden in engen Kontakt mit der Kultur der Eroberer.“ (83) Die Entstehung der Götter (Theogonie) und die Erschaffung der Welt (Kosmogonie) und des Menschen (zum Beispiel aus Lehm) werden in verschiedenen Epen erklärt, weil die Götter bislang das Joch der Ernährung selbst tragen mussten. Dieser Mensch war zunächst androgyn und wurde dann erst in Mann und Frau aufgeteilt. Eine Götterversammlung beschloss, die gesamte Menschheit durch eine große Flut zu vernichten. Durch Verrat konnte sich eine Sippe retten in einem großen quadratischen Schiff mit zwei Stockwerken für Menschen, Tiere und Samen der Pflanzen. Die Bibel hat dieses Wissen getreulich übernommen.

Der große „Sumerische Schöpfungsmythos“ geht dem Welterbe-Epos des Königs „Gilgamesch“ von Uruk und seinen Abenteuern voraus (91–102).

Das Weltschöpfungs-Epos „Enuma Elisch“, das 1849 in den Ruinen der Keilschriftbibliothek von Assurbanipal in Ninive entdeckt wurde, führte 1886/87 in Deutschland zu dem oben zitierten Streit um „Babel gegen Bibel“. Es geht um den Aufstieg des Stadtgottes von Babylon Marduk zum König der Götter. Marduk brachte es schließlich zum Erschaffer des Menschen im Kosmos zwischen zwei Himmeln und der erst noch zu kreierenden Erde. Der Mensch soll den Göttern die Mühsal der Kultivierung des Landes abnehmen und ihnen damit Ruhe für ihre Gastmähler beim geliebten Bier geben (106). Der vermutlich älteste akkadische Schöpfungsmythos, benannt nach dem Helden Atrachasis, stammt aus der Zeit um 1800 vor Christus. Der „Sumerische Schöpfungsmythos“, dem wohl eine ältere Fassung vorausgeht, wird um 1600 v. Chr. datiert, während das Epos über König Gilgamesch und seine Abenteuer um 1200 v. Chr. entstanden sein dürfte. Enuma Elisch mit Marduk im Mittelpunkt könnte um 1100 v. Chr. anzusetzen sein.

Der Autor wagt dann einen Vergleich der Epen mit der Bibel und wartet hier mit seiner These von den zwei Bäumen in der spät ergänzten Paradieserzählung auf. „Der in der Bibel erwähnte Baum des Lebens spielt als Suche nach dem Geheimnis des ewigen Lebens im Gilgamesch die zentrale Rolle. Dagegen fehlt der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse.[...] Nicht der Sex und auch nicht die mit eigenen Händen hergestellte Nahrung machen Adam und Eva zu wirklichen Menschen, sondern der auf einer Gebotsübertretung gegründete Akt der freien Willensentscheidung. Dieser Unterschied gilt auch für die Schlange. [...] Diese Übertretung ist als Sündenfall und Urkatastrophe der menschlichen Geschichte in das kollektive Bewusstsein eingegangen. Aber die biblische Erzählung ist komplexer. Vor allem die Begriffe ‚Sünde‘ oder gar ‚Erbsünde‘ zwingen dem Text eine christliche Perspektive auf, die spätestens mit Augustinus die vorherrschende werden sollte, die aber der Hebräischen Bibel völlig fremd ist.“ (109–116)

Die folgenden Kapitel 3 und 4 behandeln detailreich die Philosophien des Platon und des Aristoteles, die in der europäischen Geistesgeschichte eine wichtige Rolle gespielt haben. Es handelt sich um ausführliche Darstellungen ihrer Denksysteme mit je einem kritischen Abschluss über den Grad der Bedeutung für die Hebräische Bibel, deren Wissen die Voraussetzung bildet für das Verstehen der beiden Kapitel. Die zentrale Aussage der Ideenlehre Platons spricht von der Existenz des „Seienden“ und des „Werdenden“, getragen vom Denken der Vernunft und der Wahrnehmung durch die Sinne: das „Denkbare“ und das „Sichtbare“. Grundlage ist die „Verhältnisbestimmung von Vorbild und Abbild“, dem „Schatten der Ideen“ (126–127), bekannt als das „Höhlengleichnis“. Chaotische Materie wird beseelt durch Vernunft. So entsteht ein Dualismus von Leib und Seele. Der Weltkörper korrespondiert mit der Weltseele am Himmel. Das ist „gegen die philosophischen Atomisten gesagt, die eine lebenserhaltende Kraft des Kosmos in den Naturkräften der Elemente“ sahen (129). Der Demiurg Platons erscheint „ganz unverblümt als Gott“. Ontologische und mythische Aussagen gehören danach mit den aus Feuer gewordenen Planeten samt Sonne und Mond zu den „sichtbaren und entstandenen Göttern“ (131, 135). Dort stammen auch die Menschen her und kehren nach gelungenem Leben wieder zurück. „Die notwendig vorhandene Materie“ und das „aus Vernunft und Notwendigkeit zusammen Erzeugte: der Körper“ sind „Zielpunkt der Schöpfung“. Die „unsterbliche Seele“ wird im Kopf lokalisiert (140, 147). Vergleichendes Fazit aus biblischem Schöpfungsbericht und platonischer Kosmologie: „Es fallen einige Gemeinsamkeiten und Unterschiede ins Auge.“ „Die Weisheitstheologie der späteren Schriften der Hebräischen Bibel, die den Menschen als Teil einer umfassenden und sinnvoll strukturierten kosmischen Ordnung versteht (Proverbien, Jesus Sirach, Weisheit Salomos), ist ohne den Einfluss Platons nicht zu verstehen.“ Doch der Demiurg entspricht nicht der „Allmacht und Einzigartigkeit“ des jüdischen Schöpfergottes (156–157).

Das kurze Kapitel über Aristoteles konzentriert sich auf seine Schöpfungslehre. Aristoteles „hat Platons Kosmotheologie dekonstruiert“. Sie beherrschte seit dem 13. Jahrhundert die Scholastik in Paris und Oxford. Wichtigster Vertreter im Judentum war Moses Maimonides (1235/38–1304) (163). Über den „Unbewegten Beweger in Aristoteles Kosmophilosophie“ heißt es: „Mit der zentralen Aussage von Buch Lambda seiner Metaphysik, dass der Unbewegte Beweger immer und ewig sich selber denkt und Subjekt und Objekt seines Denkens somit zusammenfallen – eine Erkenntnis, die der menschlichen Vernunft eben nicht zukommt, denn sie ist endlich und unterscheidet zwischen Subjekt und Objekt des Denkens – hat Aristoteles letztlich eine leere Aussage gemacht.“ (173)

Philon, dem das fünfte Kapitel gewidmet ist, lebte von ca. 20/10 v. Chr. bis 49/50 n. Chr. in Alexandria und lehrte die Methode der Allegorese, das heißt die Erschließung des eigentlichen Sinns der Bibel, und zwar aufgrund der griechischen Übersetzung der christlichen Septuaginta nach den hebräischen Quellen. Er stammte aus einer assimilierten jüdischen Familie, deren Mitglieder den führenden Geschlechtern angehörten, so dass ihn spätere christliche Leser für einen der ihren hielten, ja zu einem Bischof stilisierten, wohl wegen der Logostheologie des Johannes. „Philons Traktat über die Weltschöpfung“ (180–208) „De aeternitate mundi“ handelt gegen Aristoteles und zum Teil auch Platon von der Harmonie des Kosmos und der Ewigkeit der Welt. Er spricht von der Weisheit des Moses und seiner göttlichen Offenbarung und ist dort mit Platon einig über das reine „Sein“ des Schöpfergottes. „Der erste Schöpfungstag [von sechs]: Die Erschaffung der intelligenten Welt der Ideen“ (185–189) bringt schließlich den „Menschen als Ebenbild Gottes“ hervor (204–205). Schäfer konstatiert: „Philon und Platon: Die Bibel gegen den Strich gebürstet“ (209–215).

Kapitel 6 führt von „Demokrit zu Lukrez: Natur ohne Götter“ und in „die Blütezeit des philosophischen Atomismus“ (217–267). „Platons Kampf gegen die Naturphilosophen und vor allem deren radikalsten Vertretern, die Atomisten, und sein Versuch, Gott wieder in die Kosmologie einzuführen, waren wenig erfolgreich.“ Demokrit steht mit seiner Vorstellung „Ewige Atome und unzählige Welten“ (218–221) am Beginn. Es gibt „keine Entstehung des Kosmos und schon gar keinen Schöpfergott“. „Die Atome sind also klein und unveränderlich, haben aber unterschiedliche Gestalten und Formen, die es ihnen gestatten, sich an andere, passende Atome anzudocken und dadurch neue Atomverbindungen zu bilden – eine geradezu unheimliche Vorahnung der modernen Virustheorie.“ Sie suchen Feuchtigkeit. Die Überschrift zu Epikur heißt „Seelenfriede durch Naturphilosophie“ (222–233). Seine Gegner waren das aufkommende Christentum mit dessen Lehre von der unsterblichen Seele etc. Epikurs „Körper“, wegen ihrer Unteilbarkeit Atome genannt, „sind von absolut fester Beschaffenheit und, was hier nicht ausdrücklich gesagt wird, unsichtbar“ (224). „Tiefverwurzelte Unkenntnis über die wahren Ursachen des Seins und der Strukturen und Mechanismen der Natur sind die eigentlichen Gründe für den permanenten Angstzustand, in dem sich das menschliche Gemüt befindet.“ (229) „Die Befriedigung des Lustempfindens oder sogar seine unbegrenzte Steigerung ist also keineswegs, wie oft unterstellt wird, Ziel der epikureischen Ethik.“ Ein großes Gut ist „Selbstgenügsamkeit“ (231).

Es folgt „Lukrez“ mit seiner „materialistischen Welterklärung“ im Lehrgedicht „De rerum natura“ (234–268). Auch ihn haben die frühen Christen als Antipoden empfunden. „Die positive Rezeption Epikurs und Lukrez reicht bis in die materialistische Philosophie. Karl Marx wurde 1841 mit einer Dissertation über die Differenz der demokritischen und der epikureischen Naturphilosophie promoviert, die natürlich auch Lukrez berücksichtigte.“ (237) Schäfers Fazit: „Der Epikureismus mit seinem entmythologisierten Kosmos wurde zum Antipoden jeder theologischen und teleologischen Weltsicht und damit zu einem erstaunlich modernen Wegbereiter neuzeitlicher Physik und Astronomie.“ (267)

Kapitel 7 über das „Rabbinische Judentum" verfolgt den Weg „vom Mythos zur Geschichte“ (269–326). Nach der Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch die Römer und die Auswanderung der Juden in alle Welt übernahmen die Rabbinen, die Synagogenlehrer, die maßgebliche Autorität in der Religionsgemeinschaft, denn die hohen Priester gab es nicht mehr, und auch das blutige Tempelopfer aus heidnischer Tradition hatte aufgehört. An seine Stelle trat die Torah, die Hebräische Bibel als quasi Kultobjekt, in der Gottes Wille zu finden war (270). Das erinnert den Rezensenten an die Studien des katholischen Bildwissenschaftlers Eckhard Nordhofen, dessen Publikation „Media Divina. Die Medienrevolution des Monotheismus und die Wiederkehr der Bilder“ (2022) ich im Bayerischen Jahrbuch für Volkskunde 2023 besprochen habe zusammen mit seinem vorangegangenen Werk „Corpora. Die anarchische Kraft des Monotheismus“ (3. Aufl. 2020). Er hat dort genau jene Situation des Rabbinischen Judentums beschrieben und für deren „Kult“ den Begriff der „Grapholatrie“ eingeführt, im Gegensatz zur bekämpften „Idolatrie“ aller Dekalog-Bekenntnisse. Nordhofens Wende im zweiten Buch lautet: „Religion“ braucht „Kult“ und dieser immer visuelle und performative Verweisakte, also wird die Schrift zum verehrbaren Objekt in der Torah-Rolle. Für das Problem der konkurrierenden Auslegungen der Schrift konstatiert Peter Schäfer: „Alles, was den Rabbinen in ihren unterschiedlichen Schulen und in ihren verschiedenen Generationen von Torahlehrern vortrugen, galt als ‚Lehre des Moses vom Sinai‘, in der schriftlichen Torah enthalten, ohne Rücksicht darauf, ob diese Auslegungen übereinstimmten oder ob sie sich widersprachen.“ (271) Dies nannte man die unerschöpfliche Fülle der Bibel.

„Die christliche Rezeption“ war geprägt von „Polemik und Vereinnahmung“ (275–277). „Christliche Gelehrte unterstellten, der Talmud enthalte von den Juden bewusst geheimgehaltene Polemiken gegen das Christentum.“ Es kam seit 1240 zu mehreren gelehrten Disputen in Paris und Barcelona, doch auf christlicher Seite zu keiner Diskussion auf Augenhöhe, sondern nur weiteren Verunglimpfungen. Erst im 17. Jahrhundert wurde die rabbinische Literatur für die Exegese des Neuen Testaments interessant. Schäfer bespricht die „Schöpfungsgeschichte im rabbinischen Judentum“, und die „Rabbinische Schöpfungstheologie“ (322–326).

In Kapitel 8 geht es um „Fluch und Segen der Vertreibung aus dem Paradies“ (327–357). Der zweite Schöpfungsbericht der Hebräischen Bibel enthält das „Mythologumenon von der Vertreibung aus dem Paradies“. Es wurde zu „einem alttestamentlichen Gründungsdokument des Christentums“, auch wenn dies zu „einem fundamentalen Unterschied oder besser Gegensatz zwischen Christentum und Judentum generierte“. „Die ‚Ursünde‘ im nachbiblischen Judentum“ und „Jüdische Weisheit: Jesus Sirach und die Weisheit Salomos“ werden ausführlich erläutert (330 ff.). Es folgen „Apokalyptik nach der Zerstörung des Tempels“ (335–340), „Von der Sünde zur Erbsünde. Paulus: Der alte und der neue Adam“ sowie „Kirchenlehrer des Ostens: Origines und Johannes Chrysostomus“, vor allem aber „Augustinus und die Erfindung der Erbsünde“ (340–349). Danach zitiert Augustinus „das Diktum des Paulus im Römerbrief [...] mehr als 60 Mal“. Die benutzte lateinische Übersetzung des griechischen Originals ist missverständlich.

„Felix Culpa im rabbinischen Judentum“ (350–358) führt zu der Erkenntnis: „Im Christentum hat sich die pessimistische Auffassung des Paulus und des Augustinus in so gut wie allen Denominationen durchgesetzt, nicht zuletzt auch in der protestantischen Rechtfertigungslehre mit ihrer radikalen Ausrichtung auf die Erlösung vom sündigen Menschsein allein durch die Gnade Gottes (sola gratia) und durch den unbedingten Glauben (sola fide). In der katholischen Kirche wurde diese Erbsündenlehre, die Augustinus ohne wirkliche Basis in der Bibel entwickelt hatte, auf dem Konzil von Trient (1545–1563) zum Dogma erhoben.“ (357)

Über den „Epilog“ haben wir zu Anfang kurz gesprochen und ihn als verkürzte Aktualisierung charakterisiert. Wir haben eine Dekonstruktionsstudie vor uns. Derartige Untersuchungen sind einer geschichtlich arbeitenden Kulturwissenschaft wie der einstigen Volkskunde nicht fremd und in Projekten von Historikern wie „Die Erfindung der Katharer“ geläufig (vgl. BJV 2024). Man hat das früher „Wissenssoziologie“ genannt, um zu erkennen, wie sehr wir die in unserem Kopf entstehende Welt uns nicht nur vorstellen, sondern in unserem Nachdenken jene Bilder fortschreiben. Prägende geistige Überlieferungen gehören damit zu den Essentials jeglichen möglichen Verstehens. Wo also ist unser „westlich“ zu nennendes Denken geboren worden?

In der Hauptsache muss dies wohl dem heiligen Aurelius Augustinus zugeschrieben werden, der in der abendländischen Ikonografie ein offizieller Kirchenlehrer war und damit optisch als eine Art barocker Prälat vor unseren Augen steht. In der Realität des 4. und 5. Jahrhunderts war er jedoch als öffentlicher Rhetorikprofessor Jahrzehnte lang ein bekennender Anhänger der orientalischen Religion des Manichäismus. Deren dualistisches Weltbild aus zwei gleichrangigen Mächten des Lichtes und der Finsternis, also Gottes und des Satans, hat nach Meinung mancher Gelehrter in seine später christlichen Überzeugungen zweier Geistesreiche nachgewirkt, weil er des Griechischen nicht mächtig war. Das betrifft seine rein lateinische Rezeption und Argumentation des biblischen Kanons, voran die 60 Mal zitierte Römerbief-Stelle 5,12:„Deshalb: Wie durch einen einzigen Menschen die Sünde in die Welt kam und durch die Sünde der Tod, auf diese Weise gelangte auch der Tod zu den Menschen, weil um dessentwegen alle sündigen.“ (349) Ich persönlich halte dafür, dass hier mit „Sünde“ allein die Unvollkommenheit der menschlichen Natur als Lebewesen gemeint sein kann. Das wäre dann ein Konstruktionsfehler der Schöpfungsmacht. Das rabbinische Judentum, das den Jerusalemer national opfernden Tempelgöttern entwachsen war, besitzt folgenden „Bauplan der Welt“ (281 ff.). Es gibt demnach im Midrasch, der jüdischen Schriftauslegung, keine „präexistente Urmaterie“ (311), und die „Ursünde“ im nachbiblischen Judentum hängt nicht an dem dort in die Welt gesetzt positiv beurteilten Adam, denn „Gott hat uns mit der Sünde erschaffen“ (338), sondern hat uns als gute Existenzen in die Welt gesetzt. Erst der Hellenist Paulus kennt für die Christen den „alten und den neuen Adam“.

Wenn in unserem heutigen Denken so oft eine identitäre Unabhängigkeit oder auch eine Unfreiheit der menschlichen Natur beschworen werden, dann rührt das vom Jahrhunderte alten Disput über die Schöpfungsgeschichte in der Genesis her. „Die Dogmatisierung der Erbsünde“ in der katholischen Kirche (359–360) und die Politisierung ähnlichen Denkens dürften erschrecken. Für Kulturwissenschaftler bleiben die Untersuchungen Peter Schäfers ein Ansporn zur Mythenforschung in all unserer eigenen Bemühungen zum Verständnis der Vergangenheit und des Lebens heute.

Zu guter Letzt sei es gestattet, eine interessante heutige Stimme zu unserem Problemkreis zu hören. Sie stammt vom Fundamentaltheologen Hermann Häring und findet sich übersetzt in der katholischen Wochenzeitschrift „Christ in der Gegenwart“ (Jg. 74, H. 49, 2022, S. 3–4): „Durch die Lehre der Erbsünde verliert die Paradiesgeschichte ihre symbolische Offenheit. Magische Vorstellungen sind nicht fern, dem Klerikalismus wird Tür und Tor geöffnet.“ Und später: „Ein Christenmensch, so Luther, ist nicht einfach ein freier Herr über alle Dinge, sondern zugleich ‚ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan‘. Doch anderen vorbehaltlos dienen kann nur, wer dies in voller Freiheit und Zuwendung und ohne Verzweiflung derer tut, die nichts als Verdammung verdienen. Die Kirchen können im Weltgespräch der Gegenwart nur bestehen, wenn sie ihr Menschenbild von allen vorausgehenden Schuldzuweisungen und vor jeder Selbsterniedrigung befreien. Die Losung von der ‚Freiheit der Kinder Gottes‘ muss zur Überwindung des Erbsündendogmas führen.“