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Kommission für bayerische Landesgeschichte

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Aktuelle Rezensionen


Susanne Fischer/Karl Borromäus Murr/Michaela Breil/Hilke Langhammer

Kleider, Geschichten. Der textile Nachlass von Arno und Alice Schmidt. Ausstellungskatalog 22.3.2024–13.10.2024

Augsburg 2024, Staatliches Textil- und Industriemuseum (tim), 103 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-9821727-4-3


Rezensiert von Esther Gajek
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 29.10.2025

Was für ein Schatz! Über 1000 Kleidungsstücke eines Paares aus der Zeit circa von 1935 bis 1980 haben sich erhalten, wurden restauriert und in einer Ausstellung aufbereitet: vom mehrfach geflickten Pullover bis zur Nerzstola, Hosen, Hemden, Kleider, Selbstgenähtes und Erworbenes, darunter auch an die 100 Paar Schuhe, Strümpfe, nicht zu vergessen Accessoires wie Brillenetuis, Handschuhe, Krawatten, Taschentücher, Kopfbedeckungen und vieles mehr. Der Bestand wird ergänzt durch Versandhauskataloge, Rechnungen und die erstaunlich große Menge inzwischen bereits publizierter Fotografien, auf denen die Stücke identifizierbar sind: in welchen Situationen und Kombinationen sie wer wann wie getragen hat. Und weil es sich um den Kleiderbestand des Schriftstellers Arno Schmidt (1914–1979) und dessen Frau Alice (1916–1983) handelt, schlagen sich manche Textilien auch in seinem literarischen Werk und ihren Tagebucheinträgen nieder, was den Wert der Objekte noch steigert und sicher auch ein Motiv für die Entscheidung des doppelt zu lesenden Katalogtitels war. In Arno Schmidts Texten existieren sehr dezidierte Stoffbezeichnungen, Schilderungen von Kleidung, ein „großes Wissen um Herkunft, Technik und Haptik des Materials“ (50), kurz: ein tiefes Bewusstsein für „Text und Textil“ (9), wohl auch wegen seiner Beschäftigung in einer schlesischen Textilfabrik zu Beginn seiner beruflichen Laufbahn.

Welche Geschichten erzählen die erhaltenen, ausgestellten und im Katalog großformatig abgebildeten Kleider und Fotos? Susanne Fischer, Geschäftsführerin der Arno Schmidt Stiftung, die den textilen Bestand verwaltet, lässt in ihrem Einleitungskapitel die vielen Themen anklingen, die exemplarisch für Kleidungsgebrauch in der Nachkriegszeit und im Wirtschaftswunder gelesen werden können. Da ist von Erinnerungsstücken die Rede (die gemusterte Bluse, die Alice noch in Lauban / Schlesien getragen, mit in den Westen genommen, wohl aber dort nicht mehr angezogen hat), von Rohstoffmangel (selbstgefertigte Holzsandalen: aus einem Block Weichholz gefertigt, mit Lederriemen benagelt), von Armut (Arno Schmidt ohne Oberhemd bei der Preisverleihung 1951, das auffällige Jackett aus den 1920er Jahren auf dem Unterhemd tragend), vom Umnutzen (der umgefärbte Uniformmantel, erst getragen, dann in den sechziger Jahren als Schutz gegen das Einfrieren der Wasserpumpe verwendet), vom Improvisieren (Alices Bluse, aus einem Zuckersack selbst genäht), von existentieller Not (ein aus Wolldecken genähter Morgenmangel, um die eiskalten Nächte zu überstehen), von Materialwertigkeit und dem für die Nachkriegszeit typischen Flicken (die Armeehose, mehrfach von Alice ausgebessert worden), von Geschenken der wohlhabenden Schwester aus den USA (eine Nerzstola, selten von Alice getragen, und vielen anderen Stücken, die gegen Lebensmittel eingetauscht wurden), vom Schonen der kostbaren Kleidung (die von Alice für Arno genähten Ärmelschoner) und dann von einem ersten Wohlstand (der teure Wollmantel, mehr als ein Monatsgehalt kostend) und letztlich von einem habitualisierten Aufheben, Ausbessern, Umarbeiten oder Auftragen. Die Textilien zeigen auch, dass sich das Ehepaar nach der finanziellen Konsolidierung Wünsche erfüllen konnte: Sie erwarben im Versandhandel elegante Kleidung, und Alice ließ sich sogar einen Pelzmantel maßschneidern – und das, obwohl man seit 1958 mitten auf dem Land sehr zurückgezogen lebte und sich dort keine rechte Gelegenheit zum Tragen bot.

Im zweiten Kapitel schildert Hilke Langhammer, Mitarbeiterin im Bomann-Museum und Kuratorin der ersten Ausstellung des Bestandes in Celle, das Entstehen der Ausstellung und deren visuelles Konzept: ein 19 Meter langer, offenen Schrank, in dem alle Objekte, nach Funktionen geordnet, in Fächern frei gezeigt werden, ergänzt durch Themeninseln, die sich auf die Wohnorte des Paares beziehen und einzelne, exemplarische Kleidungsstücke herausgreifen, die mit Texten und Fotos ergänzt werden. Sie fasst den Wert der Textilien im Nachlass des Ehepaares Schmidt wie folgt zusammen: Diese „Sammlung von Kleidung, die in Umfang wie Vielfalt und Zustand wohl einzigartig ist, [ermöglicht E.G.] in ihrer Alltäglichkeit den Besucherinnen und Besuchern der Ausstellung, in der Erinnerung nach eigenen ‚Kleider. Geschichten‘ zu suchen.“ (50)

Im Anschluss daran führt Michaela Breil, die Redakteurin des Kataloges und Vize-Direktorin des tim, in die Geschichte des deutschen Versandhandels ein. Am Beispiel von Alice und Arno Schmidt zeigt sie, bei welchen Versendern welche Stücke bestellt wurden. Kataloge von Neckermann, Quelle, Witt oder Peter Hahn dienten – wie hier auf dem Land – als „Schaufenster in die Welt des Konsums“ (55) und erfreuten sich im Wirtschaftswunder größter Beliebtheit. Besonders die Möglichkeit, in Raten bezahlen zu können, ließ Träume nach Konsumgütern in Erfüllung gehen. Im Tagebuch hielt Alice Schmidt 1966 die Lust am Bestellen fest: „Schöner warmer Tag. Mach auch Stg. [gemeint ist: Sonntag], der hauptsächlich im Liegestuhl liegen und Durchblättern von Riesenneckermannkatalog besteht. Ein intensiver Warenhausbummel. Doll!“ (68) Für Arno Schmidt dienten Fotos aus den Katalogen als Vorlage für literarische Figuren, deren Kleidung, Haltungen, Gesichtsausdrücke und Gesten.

Karl Borromäus Murr, der Direktor des tim, taucht „tief in die vitale Fülle der textilen Sprache Schmidts ein“ (92). Dessen historisches Fachwissen von Textilien schlägt sich nieder in einer gekonnt eingesetzten Bezeichnung von – inzwischen völlig unbekannten – Stoffarten und Geweben, unter anderem Bombasin oder Lündisch Tuch nennend, wie im differenzierten Benützen textiler Metaphorik: „Knoten zu schürzen“ oder „den Schleier zu lüften“, den „Faden zu verlieren“ und „leben und weben“ zu lassen, sind nur einige der hier zitierten Ausdrücke. Neologismen wie „DämmerSaum“ oder „Nebelkleid“ zeugen von einfallsreichen Sprachbildern. Der „Faden“ gilt Arno Schmidt auch als Metapher, kohärent zu erzählen, Motive müssten sich „verschlingen“ und „verflechten“ bis eine „nahtlose“ Komposition erzeugt sei, im besten Falle ein Gewebe.

Es ist das große Verdienst der Arno Schmidt Stiftung in Bargfeld wie des tim in Augsburg die Kleidungsstücke dieses Paares mit Ausstellung und Katalog der Öffentlichkeit – nach der Station in Celle – erneut zugänglich gemacht zu haben. Für die kulturwissenschaftliche Kleidungsforschung ist dieser Bestand an Alltagskleidung des 20. Jahrhunderts in Quantität wie Qualität einzigartig, noch dazu, weil sich durch die erhaltenen Bild- und Textquellen sehr präzise der Kontext herstellen lässt. So bleibt am Schluss der Wunsch, dass die Einzelaufnahmen aller Kleidungsstücke und die dazugehörigen Informationen jederzeit einsehbar gemacht würden, zum Beispiel als Datenbank auf der Homepage der Stiftung, und jederzeit für die Erforschung von Alltagskleidung zur Verfügung zu stehen.