Aktuelle Rezensionen
Hannah Ahlheim/Franziska Rehlinghaus (Hg.)
Abgrenzen, Entgrenzen, Begrenzen. Zur Geschichte des Liminalen in der Moderne
(1800 ǀ 2000 Kulturgeschichten der Moderne 16), Bielefeld 2024, transcript, 285 Seiten ISBN 978-3-8376-7151-3
Rezensiert von Maria Klessmann
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 29.10.2025
Die Historikerinnen Hannah Ahlheim und Franziska Rehlinghaus beschäftigen sich in ihrem 2024 im transcript Verlag herausgegebenen Sammelband mit der „Geschichte des Liminalen in der Moderne“ – womit auch bereits der Untertitel des Buches „Abgrenzen, Entgrenzen, Begrenzen“ benannt ist und eine zentrale konzeptuelle Relation des Bandes gleich mit: das Liminale kommt ohne die Grenze nicht aus.
In ihrer Einführung begeben sich die Herausgeberinnen auf die Spuren historisch bedeutsamer Grenzgänge und führen die Lesenden anhand sprechender Beispiele in die Zusammenhänge von Grenzziehungsprozessen und liminalen Zuständen und Orten. Sie blicken auf das Ritual des Biedenkopfer Grenzgangs, welches dazu diente, Grenzmarkierungen zu aktualisieren, bevor es Kataster und offizielle Vermessungen gab, die sich in festgesetzten Grenzsteinen manifestierten. Die ritualisierte Begehung von Grenzen wurde dabei interessanterweise auch nach der öffentlichen Katastereintragung beibehalten und im 19. Jahrhundert bemühte sich ein eigens gegründetes Komitee um dessen regelmäßige Durchführung (12). Die Herausgeberinnen nutzen den Biedenkopfer Grenzgang als Ausgangspunkt, „um über grundlegende Strukturen und Prozesse in modernen Gesellschaften seit dem späten 19. Jahrhundert nachzudenken“ (12). Einleitend werden wichtige begriffstheoretische Setzungen geklärt und verdeutlicht, dass sich dem Liminalen vor allem von der Grenze her genähert wird.
Die 14 Beiträge des Sammelbands sind nach drei zentralen Prozessen untergliedert, die sich im Zusammenhang mit Grenzen feststellen lassen: Grenzziehungsprozesse, Grenzüberschreitungen und Grenzaushandlungen. So geht es bei Martina Kessel um die „ultimative Grenzziehung“ (47) zwischen Leben und Tod im Zweiten Weltkrieg, die aufgrund von zugeschriebener Nichtzugehörigkeit gezogen wurde und damit der Etablierung des eigenen „Deutschseins“ diente. Grenzgängerinnen und Grenzgänger werden in ihrer Funktion des Überschreitens und Herausforderns etablierter Grenzziehungen betrachtet, wenn beispielsweise „Seiteneinsteiger“ in den Politikbetrieb gehen (Kristoffer Klammer) oder Wirtschaftskriminelle auf das Justizsystem treffen (Hartmut Berghoff). Grenzüberschreitungen finden statt zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Sphären, wie der Politik und Satire bei Jörg Requate, zwischen Täter- und Opferrollen (Petra Terhoeven) sowie zwischen Recht und Unrecht (Hartmut Berghoff). Auch der Blick auf die Aushandlung von Grenzen zwischen Sphären, wie sie Tobias Weidner anhand der Debatte um die „Grenzen des Politischen“ als eigentlich sozialem Raum aufzeigt oder die Aushandlungen zwischen Genres wie der Geschichtsschreibung und dem fiktionalen Erzählen (Martin Baumeister) lassen interessante Beobachtungen zu. So führt Martin Baumeister an, dass die Aushandlung über Genre-Grenzen unter anderem zur „Aufwertung des Erzählerischen“ (260) durch Methoden der Oral History oder auch der Mikrogeschichte geführt hat. Die Herausgeberinnen bieten in ihrer Einführung „übergreifende Interpretationslinien“ für die versammelten Beiträge an, die sich quasi quer zu der dreiteiligen Gliederung lesen lassen. Die identifizierten Querschnittsthemen Raumstrukturen, Identitätsstiftung und Wissensordnungen machen jeweils zentrale analytische Fluchtpunkte der einzelnen Beiträge deutlich. Auffällig für einen Sammelband, der sich mit Grenzen und Liminalität beschäftigt, ist, dass sich das Gros der Beiträge mit sozio-symbolischen, imaginierten und diskursiven Grenzziehungen befasst. Diese wirken sich zwar meist räumlich aus, stehen aber in den überwiegenden Fällen nur am Rande mit territorialen oder nationalstaatlichen Grenzen im engeren Sinne in Zusammenhang. Und hierin liegt bereits ein besonderer Reiz des Bandes: Die Auseinandersetzung mit sozio-symbolischen Prozessen der Grenzziehung, -überschreitung und -aushandlung wird theoretisch fundiert und bietet die Möglichkeit trotz oder gerade wegen unterschiedlicher Grenzbegriffe verschiedenste Themen zu versammeln. Die sonst häufig strenge Teilung zwischen Forschungen zu territorialen Grenzen und sozio-symbolischen, mentalen oder metaphorischen Grenzen wird verwischt. Diese Breite des Begriffs und gewisse Unschärfe des Gegenstands Grenze, wird produktiv genutzt, um eine Vielzahl verschiedener Grenzphänomene zu betrachten. So finden sich mehrere Abhandlungen, die sich mit Raum und Gewalt auseinandersetzen, wie etwa in Adelheid von Salderns Beitrag zur sozialräumlichen Segregation im Chicago der 1910er Jahre, Wolfgang Schieders Blick auf die Allmachtsphantasien und Vorstellungen Hitlers eines „grenzenlosen Raums“ (63) oder Franka Maubachs Analyse von „Gewalträumen“ (96) in der Zeit der sogenannten Baseballschlägerjahre. Ein weiterer zentraler Fluchtpunkt sind Grenzziehungen im Zusammenhang mit Krisen und Katastrophen, wie sie Alexander Müller im Hinblick auf das Aufeinandertreffen von Systemgrenzen und Fragen medizinischer Versorgung aufzeigt. Die Betrachtung von Krankheiten wie Polio zeigt, dass Grenzen in diesem Kontext nicht nur physischer, sondern auch politischer Natur sind, da die Behandlung von Krankheiten, die Reaktion auf Pandemien, die Verbreitung von Impfstoffen maßgeblich durch politische Grenzen eingeschränkt wurde. Eva Klay analysiert die Grenzen von Expertinnen- und Experten-Wissen in der juristischen Auseinandersetzung mit der Zugkatastrophe von Eschede und zeichnet dabei die begünstigte Produktion von Uneindeutigkeit durch die Grenzaushandlungen nach. Martin H. Geyer nutzt den Ausnahmezustand in Alfred Hitchcocks Film „Lifeboat“, um über die Grenzen des Rechts nachzudenken. Auf einer handlungspraktischen Ebene geht es um begrenzte Handlungsräume und Fragen von Agency Jugendlicher in der Heimerziehung in Anne Kirchbergs Beitrag und immer wieder um die Feststellung der Wirkmächtigkeit sozialer, vermeintlich unsichtbarer Grenzen. Wie auch für liminale Phasen beschrieben, liegt in der Grenzüberschreitung eine Gefährdung der geltenden Ordnung.
Die abwechslungsreichen Auseinandersetzungen mit Grenzen und der Produktion des Liminalen machen deutlich, dass die Grenzperspektive analytisch ernst genommen wird – und keine Worthülse bleibt. Die Autorinnen und Autoren des Sammelbands nutzen die jeweils gewählte Perspektive auf Grenzen und das Liminale, um auch ihren Gegenstand zu begrenzen und sich verschiedene Dimensionen von Grenzaushandlungen zu vergegenwärtigen. Auch wenn die Unterschiede zwischen Ziehen, Überschreiten und Aushandeln fließend sind, so überzeugt die Komposition des Sammelbands mit theoretisch fundierten und empirisch aufschlussreichen Beiträgen. Die breite Palette an methodischen Zugängen (bspw. diskursanalytisch, praxistheoretisch, ideen- und emotionsgeschichtlich, filmanalytisch und wissenssoziologisch), ebenso wie die unterschiedlichen zeitlichen Zusammenhänge zeigen die vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten verschiedener Grenzbegriffe und -bedeutungen und die Möglichkeiten diese gelungen zusammenzubinden.