Aktuelle Rezensionen
Sabine Wienker-Piepho/Adrian Pollak (Hg.)
Politisches Erzählen. Narrative, Genres, Strategien. 11. Tagung der Erzählforschung innerhalb der DGEKW
Freiburg 2024, Gesellschaft für Europäische Ethnologie in Freiburg, e.V., 329 Seiten, ISBN 978-3-947637-04-1
Rezensiert von Lena Möller
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 29.10.2025
Vom 11. bis 13. August 2021 richtete die Kommission für Erzählforschung der Deutschen Gesellschaft für Empirische Kulturwissenschaft (DGEKW) ihre 11. Tagung unter dem Titel „Politisches Erzählen. Narrative, Genres, Strategien“ aus, die pandemiebedingt in den virtuellen Raum verlegt wurde. Für die Organisation und anschließende redaktionelle Aufbereitung zeigten sich die Kommissionsvorsitzende und -mitbegründerin Sabine Wienker-Piepho und Adrian Pollak verantwortlich. Im Herbst 2024 erschien der zugehörige Tagungsband im Eigenverlag der Gesellschaft für Europäische Ethnologie in Freiburg i. Br. mit insgesamt elf Tagungsbeiträgen. Da Sabine Wienker-Piepho am 21. Mai 2025 leider unerwartet verstorben ist, verdienen ihr unermüdlicher Einsatz und ihre große Leidenschaft für die Erzählforschung über den Fachkontext hinaus an dieser Stelle eine besondere Würdigung. Das Vorwort führt noch einmal vor Augen, dass es ihr ein besonderes Anliegen war, die Stärken einer international vernetzten Erzählforschung hervorzuheben, die sowohl historisch-vergleichend als auch gegenwartsorientiert ein breites theoretisches und methodisches Instrumentarium aufweist und offen für neue Argumentationsmuster, Diskurse und Denkanstöße bleibt. Der Tagungstitel wurde entsprechend mehrdeutig gewählt, um sich nicht nur auf das Erzählte im Sinne eines Narrativs oder auf das politische Erzählen als kulturell kodierte Praxis zu beschränken, sondern auch eine Fülle weiterer Themen und Zugänge einzuschließen – darunter das Verhältnis von Fiktionalisierungen und Faktizität, das Zustandekommen politischer Entscheidungsfindungen, die Auslotung neuer methodischer Zugänge und die angestrebte Intensivierung des Dialogs zwischen der Erzählforschung und einer Anthropology of Policy.
Wie der Dreiklang im Untertitel des Tagungsbandes deutlich macht, zielt ein wesentlicher Schwerpunkt auf Fragen danach, welche Motive und Genres des Erzählens in politischen Narrativen Verarbeitung finden und welche Veränderungen und Anpassungen sie im Zuge gesellschaftlicher Transformationsprozesse durchlaufen. Daran knüpft sich auch ein übergeordnetes Erkenntnisinteresse daran, welchen kulturellen Logiken das politische Erzählen und die Erzählungen des Politischen folgen.
Malte Völk richtet sein analytisches Augenmerk auf das „Politische Erzählen im Modus des Humors“ und zieht dafür das Buch „Herr Sonneborn geht nach Brüssel“ (2019) des Vorsitzenden der Satirepartei Die PARTEI Martin Sonneborn heran, der 2014 als Mitglied in das Europäische Parlament einzog. Dafür setzt sich der Autor zunächst diskursiv mit der politischen Dimension des Humors auseinander und stellt heraus, dass die Erzählforschung „das Spiel mit der Umkehr (und der eventuellen Wiederherstellung) von Machtverhältnissen als Grundzug des komischen Erzählens“ (71) bereits ausführlich herausgearbeitet hat. Jenes Spiel lasse sich auch fruchtbar auf jene Felder anwenden, wo der Humor auf die Sphäre des Politischen trifft. So sei es zum Beispiel nicht sinnvoll, humoristisches Parodieren etablierter politischer Narrative ausschließlich auf Akte des Entlarvens zu beschränken. Als Beispiel führt Völk aus, wie Martin Sonneborn über eine humoristische Kritik an den Institutionen der Europäischen Union die Botschaft transportiere, dass Bürgerinnen und Bürger von ihrem Recht auf demokratische Einflussnahme Gebrauch machen sollen.
Mit einem Fokus auf politische Narrative im Märchen untersucht Barbara Gobrecht in ihrem Beitrag „Hier spricht der König!“ mittels einer narratologischen Analyse die wörtliche Rede Grimmscher Märchenkönige – auch vor dem angeführten Hintergrund, dass das Märchen in Bezug auf die politische Funktion von Erzählungen bislang unzureichende Beachtung gefunden habe. Anhand der unterschiedlichen Fassungen ausgewählter KHM-Märchen wird herausgearbeitet, wie das Bild der Grimmschen Königsfigur als politischer oder auch familiärer Akteur immer wieder zeitlich bedingte Bedeutungsverschiebungen erfahren hat.
Zwei weitere Beiträge widmen sich mythischen Erzählungen in politischen Kontexten und deren identitätsstiftender Funktion für das kollektive Bewusstsein einer Region oder Nation. Unter dem Titel „So geht sächsisch“ beschäftigt sich Dieter Herz mit dem sogenannten „Sachsen-Mythos“ (116), der in den 1990er Jahren durch den regierenden CDU-Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf als Identitätsanker konstruiert wurde, um auf das kollektive Identitätsbewusstsein der Bevölkerung Sachsens nach der Wiedervereinigung einzuwirken. Meret Fehlmann widmet sich hingegen in ihrem Beitrag „Heimelige Pfahlbaudörfer auf paradiesischer Höhe“ dem im Zuge der Nationalbewegungen überaus wirkmächtigen „Schweizer Herkunftsmythos rund um die neolithischen und bronzezeitlichen Pfahlbauer als imaginierte Vorfahren [des Schweizer Volkes]“ (287). Beide Beiträge führen die Wichtigkeit vor Augen, sich mit den historischen und soziokulturellen Entstehungshintergründen mythischer Erzählungen auseinanderzusetzen und ihre anlassbezogene Implementierung, Variation, Anreicherung und Anpassung nachzuvollziehen, in deren Zuge tradierte Selbstbilder mit bestimmten Funktionen angereichert werden.
Dass die Frage nach Fakt und Fiktion im Kontext des politischen Erzählens nicht nur gegenwartsbezogen gestellt werden sollte, unterstreicht auch Christine Shojaei-Kawan, wenn sie in ihrem Aufsatz über „Revolutionäre Narrative um Marie-Antoinette“ eine historisch belegte Königin des 18. Jahrhunderts in den Fokus rückt, um die sich schon zu Lebzeiten eine ganze Fülle an Narrativen mit falschen Behauptungen und verdrehten Fakten entfaltete. Beispielhaft zieht sie etwa Auszüge aus Spott- und Schmähschriften über ihre vermeintliche Verschwendungssucht, sexuelle Exzesse, die Bezeichnung als „ewige Österreicherin“ (243) oder auch die posthum verbreitete und bis heute populäre Anekdote heran, dass Marie-Antoinette einmal ihrem hungernden Volk nahegelegt habe, statt Brot doch Kuchen zu essen.
Wer sich mit den Funktionen des politischen Erzählens auseinandersetzt, stößt unweigerlich auf eine Fülle anknüpfender Fragen, die auf die Kontextgebundenheit von Erzählungen zielen – etwa zur Rolle und Selbstverortung der Erzählenden und ihren konkreten erzählerischen Strategien sowie zu den spezifischen Erzähl- und Rezeptionssituationen.
Eine diskursive Rahmung schafft Stefan Groths Beitrag „Kontext und politisches Erzählen“ mit dem Erkenntnisinteresse, wie sich der Kontext politischer Erzählungen überhaupt analytisch fassen lässt, der in früheren Debatten zwar vielfach in seiner Wichtigkeit hervorgehoben, in der Tiefe aber zumeist nicht ausreichend reflektiert wurde. Groth fragt unter anderem danach, wie eindeutig oder kontingenzbehaftet die Kontexte politischen Erzählens überhaupt sind, wie sie sich räumlich-zeitlich analysieren lassen, wie eindimensional oder vielschichtig ein Kontext für eine Äußerung ausfällt oder in welchen Zusammenhängen Kontexte von Äußerungen und Kontexte der Interpretation stehen. Anschließend folgt eine Verortung des Kontextbegriffs anhand vierer Verschiebungen (shifts), die interdisziplinäre Debattenverläufe und Fokussierungen abbilden. Insgesamt bietet der Beitrag eine Neuperspektivierung, die im Hinblick auf die rasanten Prozesse der Adaption, Um- und Neuformung von Erzählungen auf Social Media, das mediale Ringen um politische Deutungshoheiten in den Online-Newstickern und der bereits nahezu omnipräsenten Rolle, die KI-generierte Text- und Bildwelten im Alltag spielen, viel Potenzial aufweist.
Gleich mehrere Aufsätze konzentrieren sich auf die Macht der Sprache, indem sie thematisieren, wie sich über Wortverwendungen ganze „Diskursräume“ (174) öffnen. Samuel Wegmann analysiert in seinem Beitrag „Zürich – Millionärin der Vielfalt“ den Begriff der „Vielfalt“, um mithilfe Stadtzüricher Publikationen aufzuzeigen, wie über jenen Begriff „Ordnung und Unordnung in politisch nützlicher Art und Weise aufeinander bezogen werden“ (173). Die Themenkreise Naturschutz und Integration erweisen sich dabei als eingängige Beispiele, um zu veranschaulichen, dass sich unter dem Begriff der Vielfalt ganz unterschiedliche Pluralitäten fassen lassen, die zumeist mit einer positiven Konnotation belegt sind und für deren Erhalt oder Förderung mobilisiert wird. An anderer Stelle richtet Wilhelm Solms in seinem Text „Reden deutscher Politiker zum Gedenken der deportierten und ermordeten Sinti und Roma“ ein auffallend kritisches Augenmerk auf den Aussagegehalt schmückender Beiwörter – etwa, wenn ein Unrecht als „unsäglich“, eine Zeit als „grausam“ und das Leid als „unfassbar“ benannt werden (110). Deutlich tritt der Appell zutage, dass die Verwendung derartiger Epitheta je nach der sozialen Rolle und Position der erzählenden Person und ihrer jeweiligen Aussageabsicht unterschiedlich gewertet werden müsse. Dennis-Marius Thieme fokussiert sich in seiner „Analyse der Debattenkultur im 19. Deutschen Bundestag“ auf die sprachlich verbalisierten Normen der gegenseitigen Achtung und institutionellen Zurückhaltung und wertet dazu die stenografierten Zwischenrufe aus dem Plenarsaal während einer Sitzung des Deutschen Bundestages aus. In Bezug auf auftretende Schimpfwörter verweist der Autor auf fließende Grenzen zwischen einer konfliktreichen Debatte und einer gezielten Attacke. Eine methodische Herausforderung sei allerdings der breite Interpretationsspielraum bei der Analyse getätigter Aussagen. Kathrin Pöge-Alder konzentriert sich wiederum auf lokale und überregionale mediale Narrative rund um Krawall, Gewalt und Sicherheit und untersucht in ihrem Beitrag zur „Oberbürgermeisterwahl in der ‚Boomtown Leipzig‘“, „wie mittels politischen Erzählens in Bild und Berichterstattung versucht wird, Stimmungen in einer Stadt zu produzieren und damit anstehende Wahlentscheidungen zu beeinflussen“ (145).
Die Beschäftigung mit erzählerischen Strategien im Kontext des politischen Erzählens umfasst nicht zuletzt Formen des alltäglichen und biografischen Erzählens. So setzt sich Claudia Willms in „Die narrative Inszenierung des religiösen Antikapitalismus“ „mit der komplexen Verbindung und Abgrenzung des religiösen und des politischen Erzählens“ (259) anhand von Interviews mit muslimischen und christlichen Akteurinnen und Akteuren auseinander, die sich selbst als religiös motiviert und antikapitalistisch verorten. Ihre Ausführungen zeigen, wie über das religiös-politische Erzählen Bedürfnisse und Strategien sichtbar werden, Zugehörigkeiten auszuhandeln und sich in öffentliche Diskurse einzubringen. Der Beitrag darf dabei auch als Plädoyer verstanden werden, „Religiosität in einem postsäkularen Sinne als eine bedeutsame Ressource nicht nur für ethisches, sondern auch für politisches und gesellschaftskritisches Handeln und für die öffentliche Debatte ernst zu nehmen“ (261–262).