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Matthias Möller (Hg.)

Aufbrüche und Abgründe. Freiburg-Dietenbach und die Stadt von morgen

(Freiburger Studien zur Kulturanthropologie, Sonderband 8) Münster/New York 2023, Waxmann, 197 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-8309-4832-2


Rezensiert von Ana Rogojanu
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 29.10.2025

„Aufbrüche und Abgründe. Freiburg-Dietenbach und die Stadt von morgen“ lautet der Titel des quadratischen Buches, das mit einem ästhetischen Layout und vielen Farbabbildungen einen ansprechenden Eindruck macht und Neugier weckt. Der in der Reihe „Freiburger Studien zur Kulturanthropologie“ im Waxmann Verlag erschienene und von Matthias Möller herausgegebene Sammelband ist das Resultat eines forschungsorientierten Master-Studienprojekts am Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Universität Freiburg, das sich von Herbst 2022 bis Sommer 2023 aus kulturwissenschaftlicher Perspektive mit dem in der Bevölkerung umstrittenen Stadterweiterungsprojekt Freiburg-Dietenbach beschäftigte. Er beinhaltet also die Ergebnisse studentischer Forschungen, die zusätzlich in Form einer Ausstellung präsentiert wurden. Dieser Umstand spiegelt sich in der Publikation wider, die nicht nur ein wissenschaftliches Publikum im Sinn hat, sondern „alle, die sich für die komplexe Beziehung zwischen Kultur und urbanem Raum interessieren“ (14), und dementsprechend mittels zahlreicher visueller Quellen auf eine hohe Anschaulichkeit abzielt.

Inhaltlich widmet sich der Band dem Stadterweiterungsprojekt Dietenbach, das im Westen Freiburgs die Schaffung eines ökologischen, sozial durchmischten Stadtteils für 16.000 Menschen vorsieht. Zwölf Studierende spüren auf Basis von historischen Recherchen, Interviews und Analysen von Planungsdokumenten den kulturellen und sozialen Dynamiken der Planung ebenso nach wie den Normen und Idealen, die dieser eingeschrieben sind. Sie beschäftigen sich mit den Perspektiven und den Akteurinnen und Akteuren der Politik und der Stadtplanung, mit deren Verhältnis zur Bevölkerung und mit den Protesten und Kontroversen, die sich um dieses Projekt entspinnen. Damit schließt der Band an eine Reihe von Forschungen an, die in den letzten Jahren kulturwissenschaftliche Aspekte von Planungspraktiken und Städtebildern, aber auch von Recht-auf-Stadt- und anderen Protestbewegungen in den Blick genommen haben.

Einleitend steckt Matthias Möller den thematischen Rahmen ab, indem er die Geschichte der Stadtentwicklung und des Stadtwachstums von Freiburg in ihren ökonomischen, demografischen und sozialen Dynamiken skizziert und zugleich auch auf die Protestgeschichte der Stadt in Hinblick auf bereits realisierte Stadtweiterungsprojekte hinweist. Damit verdeutlicht er den Ausgangspunkt der Planungen für den Stadtteil Freiburg-Dietenbach und verweist auf relevante Themen, die in vielen anderen gegenwärtigen Planungsprojekten auch andernorts von Relevanz sind: die Schaffung von leistbarem Wohnraum und die soziale Zusammensetzung von Stadtteilen, die Verfügbarkeit von Flächen für die Aneignung durch die dort lebenden Menschen, den Umgang mit Mobilität, Naturschutz etc. Im Anschluss daran entwickeln die Studierenden in zwölf Beiträgen unterschiedliche Blicke auf die Planung von Freiburg-Dietenbach, die in drei thematische Blöcke unterteilt sind.

Im ersten Abschnitt, „Raumperspektiven“, gehen drei Beiträge auf unterschiedlichen Ebenen und mit unterschiedlichen Methoden der Frage nach, wie der neue Stadtteil als Raum konzipiert wird. Linda Förster untersucht Vorab-Visualisierungen als Versprechen eines neuen Lebens in dem neuen Stadtteil und arbeitet sowohl zentrale Inhalte und Merkmale – Nahbarkeit, Attraktivität, Seriosität – heraus als auch die Funktion der Visualisierungen im kontroversen Diskurs rund um den Stadtteil. Lea Lünne widmet sich auf Basis von Interviews mit Planerinnen und Planern der Rolle von Ästhetik in der Stadtteilplanung und identifiziert unterschiedliche Konzeptualisierungen des Ästhetischen in der Planung von Dietenbach, die zum Teil auch Möglichkeiten der Aneignung durch zukünftige Bewohnerinnen und Bewohner berücksichtigen. Stephanie Lehmann wiederum analysiert in einem historischen Rückblick, wie sich unterschiedliche Ideale des Wohnens in den Grundrissen verschiedener Stadterweiterungsprojekte in Freiburg niederschlagen und wodurch sich die Planung von Dietenbach auszeichnet.

Den größten Raum nimmt der zweite Abschnitt ein, der sich „Diskursperspektiven“ widmet und einen besonderen Schwerpunkt auf die Konflikte rund um die geplante Stadterweiterung legt. Katharina Glander vergleicht auf Basis von Interviews mit einer Aktivistin einer Protestgruppe und einer Mitarbeiterin der Stadtplanung, wie diese die auftretenden Konflikte jeweils interpretieren und sich darin positionieren. Auch Nina Bäurle konzentriert sich in ihrem Beitrag auf Proteste, weitet den Blick aber auf ähnliche Bürgerinitiativen in München und Hamburg aus und arbeitet das Verhältnis zwischen lokal spezifischen Aspekten und übergreifenden Themen heraus, die sich in den Protesten konkretisieren. Helena Hiss nutzt die vielfältigen Krisen, die in Zusammenhang mit den Bewegungen für und gegen die Umsetzung des Stadtteils Dietenbach als solche artikuliert werden – Wohnungskrise, Klimakrise etc. – für eine kulturwissenschaftliche Reflexion des Krisenbegriffs und seines diskursiven Einsatzes in Konfliktsituationen. Lena Deinaß analysiert die von den Gegnerinnen und Gegnern des Projekts Freiburg-Dietenbach hervorgebrachten Verlusterzählungen, beispielsweise von Natur und Raum, stellt diese in den historischen Kontext anderer bereits realisierter Stadterweiterungsprojekte in Freiburg und geht schließlich auf die kommunikative und kulturelle Funktion der Verlusterzählungen ein. Während diese vier Beiträge unterschiedliche Facetten des Protests gegen das Projekt aufgreifen, weist der Text von Pia Weßling zur Rolle der Emotionalität in der Planungspraxis in eine andere Richtung. Seine Positionierung in diesem Abschnitt ist auf den ersten Blick überraschend, aber dennoch nachvollziehbar, geht er doch vor allem darauf ein, wie Personen, die in unterschiedlichen Funktionen an der Planung von Dietenbach beteiligt waren, im Interview mit diesem Thema umgehen und dadurch ihr berufliches Selbstverständnis artikulieren.

Der letzte Abschnitt, „Zukunftsperspektiven“, vereint Beiträge, die sich damit beschäftigen, wie das zukünftige Leben im neuen Stadtteil imaginiert und antizipiert wird, wobei sie von den Betrachtungsebenen her große Überschneidungen zu den anderen Teilen des Bandes aufweisen. Ferdinand Wallis untersucht das der Planung implizit zugrundeliegende Menschenbild, das er analytisch in der Figur des „Dietenbach-Menschen“ (141) zusammenführt. Er zeigt dabei ein Spannungsfeld auf zwischen der Vorstellung eines diversen Stadtteils, der Menschen mit unterschiedlichen soziokulturellen Hintergründen zusammenbringen soll, und bestimmten normativen Setzungen, die durch die Gestaltung des Stadtteils im Verhalten und in den Einstellungen der Bewohnerinnen und Bewohner ihren Niederschlag finden sollen, etwa eine Förderung ökologischer Lebensstile und aktiver Beteilung am nachbarschaftlichen Zusammenleben. Einen Teilaspekt dieser Orientierungen greift Adrian Weis auf, indem er das Verkehrskonzept von Freiburg-Dietenbach dahingehend untersucht, welche Verkehrspraktiken es hervorbringen soll. Die Frage der sozialen Orientierung des Stadtteils wiederum vertieft Gynna Lüschow mit Überlegungen, wie die Leistbarkeit des sozialen Wohnbaus dauerhaft gesichert werden kann. Den Abschluss bildet der Beitrag von Maximiliane Peringer, der unter Rückgriff auf das Konzept der Eigenlogik der Stadt untersucht, wie sich die Charakteristika des geplanten neuen Stadtteils in das bisherige Stadtimage einfügen. Gedanklich ist in diesem letzten Beitrag also Dietenbach in Freiburg angekommen – ein schönes Bild für den Abschluss.

Der Band „Aufbrüche und Abgründe“ bietet ein anregendes Spektrum an Perspektiven auf den neu entstehenden Stadtteil Freiburg-Dietenbach. Nach der Lektüre wirkt die Gestaltung des Covers mit einer Reihe einander überlagernder Plakatreste auf einer Betonwand, die Wiesen und Felder, Planausschnitte und Protestplakate erkennen lassen, durchaus stimmig. Etwas weniger mag das auf den Titel zutreffen, der insbesondere mit dem starken Begriff „Abgründe“ die Vielfalt an Deutungen und die Prozessualität des umkämpften Weges hin zur Entscheidung für die Umsetzung des Projekts nicht wirklich anzudeuten vermag.

Unabhängig davon ist der Projektgruppe und dem Leiter des Studienprojekts eine große Leistung gelungen. Die einzelnen Beiträge sind mit sehr wenigen Ausnahmen von hoher analytischer Qualität, klar im Aufbau und anregend gestaltet. Das ist umso bemerkenswerter, als den Studierenden lediglich zwei Semester für Themenfindung, Forschung, Analyse und Aufbereitung der Ergebnisse zur Verfügung standen. Insgesamt gelingt der intendierte Bogen, ein wissenschaftliches Buch zu verfassen, das auch für eine interessierte Öffentlichkeit lesbar ist, außerordentlich gut. Der Band bietet viele anregende Facetten für ein wissenschaftliches Publikum, das sich für Fragen der Stadtplanung und des Protestes interessiert. Zugleich bleiben die theoretischen Bezüge auch für nicht-wissenschaftliche Leserinnen und Leser angenehm zugänglich. Für die kulturwissenschaftliche Debatte hätte eine zusammenfassende analytische Bündelung der einzelnen Beiträge dem Band vielleicht noch mehr Gewicht geben können – die Beiträge hätten, meiner Einschätzung nach, das Potenzial dafür –, aber auch so bleibt „Aufbrüche und Abgründe. Freiburg-Dietenbach und die Stadt von morgen“ eine wertvolle Dokumentation der Ideale, Vorstellungen und Debatten rund um die Entstehung eines neuen Stadtteils, deren Lektüre nicht nur aufschlussreich ist, sondern auch Freude bereitet. Dafür kann man der Projektgruppe nur herzlich gratulieren.