Aktuelle Rezensionen
K. Lee Chichester/Priska Gisler/Kunstmuseum Bern (Hg.)
Koloniale Tiere? Tierbilder im Kontext des Kolonialismus
Berlin 2024, Neofelis, 336 Seiten mit Abbildungen, ISBN 978-3-95808-439-1
Rezensiert von Wiebke Reinert
In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde
Erschienen am 30.10.2025
Dass visuelle Kulturen bei der Gestaltung kolonialer Narrative und des colonial gaze immens wirkmächtig waren und dass Darstellungen nicht-europäischer Geschöpfe in verschiedenen Medien koloniale Narrative, rassistische Stereotypen und den breiteren Kontext der europäischen Kolonialexpansion widerspiegelten und diese stützten, ist zunächst kein überraschender Befund.
Neu sei, so die Herausgebenden K. Lee Chichester und Priska Gisler in ihrer Einleitung, jedoch das Konzept für einen Sammelband, der „sich von verschiedenen disziplinären Richtungen her kritisch mit der Geschichte und Darstellung von Tieren aus kolonialen Kontexten beschäftigt“ (21) und für deutschsprachige Veröffentlichungen dürfte das zutreffen. Neben diesem Befund gingen der Publikation eine Ausstellung, eine internationale Tagung und ein Forschungsprojekt im Naturhistorischen Museum Bern voraus.
Die zwölf Beiträge – von Forschenden aus der Kunst- und Medienwissenschaft, afrikanischen Geschichte, Umweltgeschichte, Kultur- und Filmwissenschaft und der Bildenden Kunst – widmen sich einer großen Vielfalt an künstlerischen wie auch populärkulturellen Produkten sowie Praktiken in Zoos und naturhistorischen Museen. Beeindruckend und bereichernd sind durchweg auch die vielfältigen Detailkenntnisse.
K. Lee Chichester nähert sich den „kolonialen Tieren“ als künstlerischem Motiv um 1900 ausgehend von dem Werk des Berliner Bildhauers August Gaul (1869–1921). So wie Gaul wandten sich zahlreiche Künstlerinnen und Künstler der Berliner Secession um 1900 – auf der Suche nach „neuen“ Motiven und Formen – dem als „exotisch“ wahrgenommenen Tier zu. Chichester kontextualisiert diese Bewegung im städtischen Raum der „Kolonialmetropole“ Berlin, ihren wissenschaftlichen Sammlungen und ihrer – oftmals eklektischen – vom deutschen Kolonialismus geprägten visuellen und materiellen Kultur. Einem weiteren Bildhauer und dessen Werk ist der Beitrag von Joachim Zeller gewidmet. Fritz Behn (1878–1970) war entschiedener Befürworter der Kolonialherrschaft und berühmt für seine afrikanischen Tierplastiken. Nicht erst mit seinem Entwurf für ein Bremer „Kolonial-Ehrenmal“ (Entwurf 1913/14, errichtet 1931/32; seit 1990 „Anti-Kolonial-Denk-Mal“) bewegte sich Behn auf dem „Terrain […] der politischen Plastik“ (85). Als Klammer des Texts fungiert die kritische Befragung von Plastiken und Gemälden, denen die ihnen eingeschriebene koloniale Gewalt nicht unmittelbar anzusehen sein mag. Chonja Lee analysiert die Verknüpfung von Rassismus und Sexismus und zeigt auf, wie weit verbreitete Bilder von Gorillas als Gleichsetzung von Tier und Schwarzem Mann gelesen wurden. Skulpturen setzt sie in Bezug zu Gorilla-Bildern in Unterhaltungszeitschriften, auf Film- und Propaganda-Plakaten. Einschlägig sei hier das Motiv vom Gorilla als „frauenraubender Bestie“. In jüngerer Zeit verwendete das Motiv das Künstlerinnenkollektiv Guerilla Girls, das in Gorillamasken gekleidet auf Sexismus und Diskriminierung in der Kunst aufmerksam machte. Zilla Leuteneggers Installation „ZillaGorilla“ (2021) hatte unterschiedliche Formen der Trauer weiblicher und männlicher Gorillas zum Gegenstand. Dieser Anschluss an die jüngere Kunst bildet den Abschluss und zugleich Anstoß zur Diskussion um Menschenrechte für Primaten und „überkommene Entwürfe von Rasse, Geschlecht und Tieren in der Kunst“ (118).
Bis hierhin diskutieren die Beiträge nahezu ausschließlich weiße, „moderne“ Perspektiven und Praktiken. Der Beitrag von Stephanie Zehnle zu Tierdarstellungen in kolonialen Kunstsammlungen, spezifisch der „Benin-Bronzen“ und der Darstellung von Leoparden, ist nicht nur durch die ungemein bereichernde und erhellende Sichtbarmachung historischer afrikanischer Bilder und Bild-Produktionen herausragend, sondern auch hinsichtlich der Akribie. Die Exotisierung von Wildtieren in afrikanischen Gesellschaften (als gefährlich, Machtsymbol, oder ästhetisiert), ist noch viel zu wenigen Tierforschenden bekannt, zumal die Exotisierung seitens Europas auch in diesem Band (wieder) die Hauptrolle spielt. Dank Zehnles profunder Kenntnis der frühneuzeitlichen Geschichte des Königreichs Benin, seiner humanimalen, gesellschaftlichen Realitäten genauso wie seiner Materialitäten, lässt sich der Gegenstand des Bandes adäquat historisieren, ebenso wie strukturell die Perspektive jener eingebracht wird, von denen die Kolonialherren, Jäger und Händler abhängig waren: afrikanische Jäger mit ihrer Expertise im Töten, Fangen und Zähmen der Leoparden. Tiere wurden in der Werbung um 1900 für orientalistische Persiflage, Rassenideologie, Werbung für Abenteuer und Tourismus, Zoo und Modeaccessoires ge-/benutzt, was eine Bildstrecke nebst Werkkommentaren offenlegt, die im Rahmen einer Untersuchung der Sammlung Grafikdesign der Berliner Kunstbibliothek (2022/23) entstand. Die omnipräsenten, einprägsamen Bilder, so Christina Thomson und Kristina Lowis im einleitenden Abschnitt, haben stark zur Verbreitung und Verfestigung eines bis heute fortwirkenden kolonialistischen, eurozentristischen Weltbilds beigetragen. Besser nachvollziehbar wäre dies gegebenenfalls durch Darlegung der Fortentwicklung/des Fortbestands über einen längeren Zeitraum gewesen.
Eine an Quellen reiche, dichte Beschreibung bietet Oliver Hochadel mit seinem Beitrag zum Elefanten Avi, der in den 1890er Jahren an die Stadt Barcelona verkauft und geschwind der Publikumsliebling im Zoo ebenda wurde. Avis Leben im Zoo wurde zum cross-medialen Ereignis, das eine wesentliche Rolle bei der „Aneignung Avis“ (182) spielte. Einerseits war dies „das künstlerische Destillat der Präsenz von Dickhäutern im öffentlichen Raum Spaniens Ende des 19. Jahrhunderts“ (190), andererseits ließen sich in Prozessen der Orientalisierung und (Selbst-)Exotisierung gleichfalls regionalpolitische Inhalte Kataloniens verhandeln (197–198) und koloniale Tiere als Identifikationssymbol dafür gebrauchen (und vermarkten).
Dass hinter den Bildern der in diesem Band so vielfach (und bisweilen auch redundant) umkreisten Symbolik (und symbolische Gewalt) des Kolonialen allzu oft handfeste Gewaltverhältnisse standen, macht Frauke Dornberg in ihrem Beitrag deutlich, in dem sie die erschütternde Praxis des „Krankschießens“ darlegt. Zur üblichen Praxis des Großwildjägers und Fotografen Carl Georg Schilling (1865–1921) gehörte es, die Tiere zunächst zu verletzen, um sie dann (besser) fotografieren zu können und schlussendlich zu töten. Dieser Teil einer Bildpolitik sollte öffentlichkeitswirksam und glaubhaft vermeintliche Erfolge der deutschen Kolonialverwaltung des damaligen „Deutsch-Ostafrika“ vermitteln. Zentral war hierfür die Kontrolle über Territorium und Lebewesen und die Realisierung bestimmter Männlichkeitsvorstellungen, die Schillings Bilder suggerierten.
Von Tierfilmaufnahmen des späten 19. Jahrhunderts bis zum Tierschutz-Film Bernhard Grzimeks (1950er Jahre) zeichnet Wolfgang Fuhrmann die Kontinuität rassistischer Diskurse nach und unterstreicht, wie die Darstellung von Machtverhältnissen durch die Inszenierung weißer Menschen gegenüber schwarzen Menschen und Tieren gefestigt wurde. Dabei wird hervorgehoben, dass die „Formelhaftigkeit“ dieser Filme durchaus verschiedene Deutungen zuließ, eine Perspektive, die andere Beiträge etwas vermissen lassen. Gleiches gilt für den Hinweis auf die notwendige Berücksichtigung der Analyseperspektiven Klassismus, Gender und soziale Ungleichheiten.
Claire Brizon, Noémie Étienne, Chonja Lee und Étienne Wismer untersuchen koloniale Tiere in Schweizer Sammlungen der Frühen Neuzeit. Eingeleitet wird der Beitrag durch die „indigene und kolonisierte Perspektive“ (251), die fragend auf kolonisierte Tiere angewendet werden soll. Einer Spurensuche in kolonialen Sammlungen und Ausstellungen folgt die Feststellung, dass ein Machtungleichgewicht zwischen den Kolonisatoren, der lokalen Bevölkerung und Tieren bereits bei der Jagd auf Tiere bestand. Die Autorinnen und Autoren erinnern abschließend daran, die Agency von Tieren künftig stärker zu berücksichtigen und sichtbar zu machen, wie der Kolonialismus „das Register der Nicht-Menschen“ (267) sortierte.
In der Text-Bild-Collage „Der gar nicht lustige Zoo“ reflektiert Chanelle Adams ihre Performance „Ghost Zoo“ (2021) im Marseiller Parc Longchamp. Angelegt als ein meditativer Spaziergang berichtet sie von ihren Recherchen und Interviews.
Die afrikanischen Wildtiere in Form farbiger Skulpturen aus Glasfaserkunststoff, die im titelgebenden „Funny Zoo Marseille“ in den ehemaligen Zoogehegen ausgestellt werden, konterkariert sie mit der kolonialen Geschichte des Zoos und Naturkundemuseums, deren Schauzusammenhängen und Gehege-Gestaltungen. Während die Naturwissenschaften ein „koloniales Bedürfnis“ hegten, die Zeit erstarren zu lassen und das Leben übersichtlich in klar abtrennbare Einheiten zu separieren, fragt Adams, ob die Skulpturen nicht vielmehr „Erinnerungsmonumente für das koloniale Projekt der Stadt“ darstellen (273). Da Skulpturen und Museumsdinge nicht ihren „natürlichen Lauf“ nehmen können, so ein anregender Hinweis zum Schluss, müsse es auch darum gehen, Zeit zu restituieren und so Tiere und deren Geschichte zurückzugeben.
Priska Gisler zeichnet den Weg eines Elefanten nach, dessen Präparat sich im Naturhistorischen Museum Bern befindet und das im kolonialen Afrika der 1920er Jahre gejagt, getötet und gehäutet wurde, um in die Schweiz verbracht zu werden und dort wissenschaftlichen Zwecken zu dienen. Neben der Herleitung der Herstellung und des mis-en-scène des Elefantenpräparats im Museum in den 1930er Jahren diskutiert sie, wie zur Transformation des Tieres in ein Tier-Objekt verschiedene Menschen (lokale Guides, Gewehrträger, Camp-Angestellte, Sezierer, Fotografen) und Arten von handwerklichen, künstlerischen und anderen Kompetenzen eingesetzt wurden, während schlussendlich meist die wissenschaftliche Leistung eines einzelnen, männlichen und weißen Jägers in die Geschichte einging.
Ein weiteres Präparat aus dem Naturhistorischen Museum in Bern steht bei Sarah Csernay im Fokus, eine Rotbüffelkuh aus Angola, deren Präparat dem Museum in den 1950er Jahren von einem Großwildjäger geschenkt wurde. Die Autorin beleuchtet, wie das Museum Großwildjagd mit einem wissenschaftlichen Anspruch versehen wissen wollte, die unterdessen weithin als Sport oder Freizeitvertreib angesehen wurde. Des Weiteren wird dargelegt, wie langlebig klassisch gewordene, „westliche“ Topoi und ihre Projektion auf Afrika sich erwiesen (z. B. Wunschbilder einer „unberührten Natur“). Zudem wird der kolonialherrschaftliche Umgang mit der lokalen Bevölkerung untersucht und als „schweizerisch-angolanische contact zone“ (308) perspektiviert, „mikro-koloniale Akte symbolischer Besitzergreifung“ in der Schweizer Entwicklungshilfe einbeziehend (319). Abschließend fragt Csernay, wie contact zones geschaffen werden könnten, in denen Vertretungen aus dem Westen und aus afrikanischen Ländern sich im Museumsraum „auf Augenhöhe begegnen“ (326).
Warum die Herausgebenden den Titel mit einem Fragezeichen versehen haben, erschließt sich schlussendlich nicht in Gänze – auch nicht durch den anfänglichen Hinweis darauf, dass sie sich für „den unschärferen und dafür umfassenderen Begriff der Kolonialen Tiere, versehen mit einem Fragezeichen, entschieden [haben], da er alle involvierten Aspekte aufruft“ (18). Die eingangs formulierte zentrale Frage, wie Bilder von Tieren in unterschiedlichsten Medien spezifische koloniale Narrative konstruierten und damit zur Popularisierung exotisierender, rassistischer und patriarchaler Vorstellungen und Sichtweisen beitrugen, wird durch die vielen Perspektiven des Bandes erhellend belegt, indes tendenziell affirmativ beantwortet. Wenig erfahren die Lesenden über die Haltung zu den postcolonial studies und das Verhältnis zwischen diesen und den (critical) animal studies oder anderen, nahe liegenden Forschungsrichtungen, obschon in der Einleitung „sensible Inhalte“ und „Trigger-Warnungen zu Beginn der Aufsätze“ thematisiert werden (21).
Manches Detail geht in den durchaus informativen und vielseitigen Bricolagen unter beziehungsweise entgeht dem auf Macht, Herrschaft und Symbolik gerichteten Blick. Auch von welchem Kolonialismus die Rede ist, von welcher Kolonialmacht oder Kolonie, wie die Dimensionen race, class und gender in den Gesellschaften der Kolonisierer (Frauen* sind bemerkenswert abwesend) und jener der Kolonisierten analysiert werden könnten, wären zwei Fragezeichen, die noch ergänzt sein mögen.